Die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere bespielt zur Kunstbiennale die Basilika San Giorgio Maggiore in Venedig
ShareIn der erhabenen Palladio-Basilika San Giorgio Maggiore, die gegenüber vom Dogenpalast das Markusbecken in Venedig dominiert, stellt zu dieser Kunstbiennale nach der österreichischen Bildhauerin Helga Vockenhuber erneut eine Frau aus. Nach Anish Kapoor, Michelangelo Pistoletto, Sean Scully und Ai Wei Wei tritt die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere mit den klassischen Formen des Renaissance-Bauwerks in Dialog. Die zarte kluge Frau, die in diesem Jahr 60 wird, macht es anders als die Männer vor ihr. Statt ein monumentales Werk unter der Vierung der Kuppel zu präsentieren, lässt sie, wie Volckenhuber, die Blickachse vom Eingang zum Hauptaltar frei. Dort sieht man die goldschimmernde bronzene Kugel des Bildhauers Gerolamo Campagna, die nicht nur die rechts und links davon befindlichen Meisterwerke von Jacopo Tintoretto widerspiegelt, sondern auch die in den Seitenkuppeln befindlichen Skulpturen von Berlinde De Bruyckere und den dahinter liegen hölzernen Chor. Indem sie diesen zentralen optischen Spiegeleffekt nutzt, der das Zentrum der christlichen Liturgie markiert, zollt sie der Benediktinerabtei, die sie eingeladen hat, ihren Respekt.
Als das schwierigste Werk bezeichnet De Bruyckere, die ein katholisches Internat besuchte und außerhalb von Gent in einer ehemaligen katholischen Knabenschule wohnt, die Auftragsarbeit der Mönche, die sich ein Manuskript erbeten haben. Ikonografisch bezieht sie sich dabei auf die drei überlebensgroßen Erzengelskulpturen „Archangelo I-III“ (2023–2024) im Kirchenraum, deren überlange Gliedmaße von schweren Fellmänteln verhüllt sind. Diese gesichtslosen Wesen aus organischen Materialien wie Wachs und Tierhaar, sind, trotz ihrer materiellen Schwere, von sublimer Fragilität. Sie stehen auf hohen Sockeln, teils auf verrosteten Altmetall-Funden, teils auf neuen, metallisch schimmernden geometrischen Platten, und streben in die Höhe.
Die drei Erzengel werden gerahmt durch eine dezente bühnenähnliche Inszenierung mit vollplastischen hellen Stoffen und einer Reihe von Spiegeln. Beim Herumgehen öffnen sich dabei immer wieder neue Blickachsen und Überlagerungen von Bildebenen und Lichteffekten. De Bruyckere nutzt dabei die strenge weiße steinerne Architektur von Palladio, die für ihre Figuren zu einer wichtigen Stütze wird, ohne sie zu überlagern. Gleichzeitig verzichtet die Bildhauerin auf effekthaschende Farbigkeit, obwohl sie sich zunächst an den Brokatstoffen in den liturgischen Farben Rot, Grün, Violett orientiert hatte, die in der Basilika an hohen Feiertagen die Architektur kleiden. „Letztlich habe ich die Stoffe nicht eingefärbt, sondern nur bearbeitet, um sie zu altern. So fügen sie sich besser in die Aura der Architektur ein“, so De Bruyckere.
Die Vielzahl der inhaltlichen Bezüge innerhalb der umfassenden Werkschau, die auch eine Installation von riesigen Wachsbaum-Fragmenten auf verrosteten Werkbänken in der Sakristei umfasst und in den Nebenräumen einen Überblick über die letzten Jahre bietet, schlüsselt sie im letzten Raum in einem Schaukasten auf.
Die assoziativ angeordneten Fotos, Zeichnungen, Zeitungsausschnitte und Notizen werfen ein Schlaglicht auf das, was die Künstlerin umtreibt: „Ich möchte keine politische Aussage machen, sondern mit meiner Kunst Menschen berühren. Ich möchte sie anregen, über das nachzudenken, was uns alle beschäftigt: die Kriege und Konflikte, der Klimawandel und die Vergänglichkeit dessen, was uns umgibt.“ Das Baumfragment, von dem sie die Formen für das Tryptichon „City of Refuge I-III“ (2023 –2024) abgenommen und in Wachs gegossen hat, fand sie im Dezember. Der Baum war offenbar schon länger durch einen Blitzschlag zerstört worden und lag sehr elegant im Wald verstreut. „Ich wusste sofort, dass ich damit arbeiten wollte und dass die Fragmente perfekt zu den alten Schweißertischen aus verrostetem Stahl passen würden, die ich vor einigen Jahren gesammelt hatte“ so De Bruyckere.
In der Sakristei zeigt die Bildhauerin auf das manieristische Gemälde „Die Darbietung Christi im Tempel“ von Salviati und Palma il Giovane, in dem Engel in der linken oberen Bildhälfte ein hölzernes Kreuz tragen und so auf das Schicksal Christi verweisen. Die ikonografische Nähe ist beabsichtigt, doch sieht die Bildhauerin ihre Arbeit eher als Hoffnungsträger, denn als Mahnung „Die Baumfragmente richten sich auf“, so De Bruyckere „ich denke eher an die Auferstehung.“ Die von ihr intendierte Symbolkraft der Bäume wird in der Materialsammlung in der Vitrine konkret benannt. Dort liegt ein Zeitungsausschnitt, der einen zerbombten Ort am Gaza-Streifen zeigt, aus dem ein unbeschädigter Baum hervorragt. „Ich sehe aber auch die Einsamkeit dieses Baums, der uns eine Reihe existenzieller Fragen stellt: wie stehen wir heute im Leben?“
Berlinde De Bruyckere wirft ihre Fragen mit einer höchst ästhetischen, universellen Bildsprache auf, die interkulturell verständlich ist. Dabei verschließt sie sich nicht der Schönheit, die sie umgibt. Das Licht, das über das Markusbecken und den Kirchenvorplatz bis in die Basilika scheint, erhellt ihre Erzengel immer wieder neu und anders und zeigt den Besucherinnen und Besuchern zahlreiche verschiedene Facetten ihres Œuvres.
Berlinde De Bruyckere „City of Refuge III”,
Abbazia di San Giorgio Maggiore, Venedig
20. April bis 24. November 2024