Laure Prouvost

Schwerkraft ist für Spießer

Die französische Künstlerin Laure Prouvost beglückt mit einem Ausstellungsparcours in Tilburg, in dem sich komplexe Gegenwartsthemen verflechten

Von Tim Ackermann
22.05.2024
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 227

Jeden Sonntagmorgen steigt die Großmutter von Laure Prouvost in ein kleines Sportflugzeug. Unterwegs öffnet sie die Tür, springt hinaus und breitet ihre Flügel aus. Rasant saust sie über Wolken und Wipfel, schaut von oben auf die Welt, vollführt tollkühne Loopings, um dann nach einer Weile wieder in das kleine Flugzeug zurückzukehren, an dessen Steuer der Großvater sitzt.

Wer die Geschichte, die Laure Prouvost in ihrem Werk „Every Sunday, Grand Ma“ (2022) erzählt, nicht glauben will, sollte sich dennoch auf die Überzeugungsbemühungen der französischen Künstlerin einlassen: Denn ihr Videofilm sorgt im Herzen für ein beglückendes Gefühl der Leichtigkeit. Dieses steht im Kontrast zum Rest der Rauminstallation – Metallröhren und eine erstarrte ölige Flüssigkeit, die auf dem Fußboden Zivilisationsmüll wie alte Tastenhandys eingeschlossen hat. So naheliegend, sich darüber erheben zu wollen! Der freie Flug wird zur einzig erstrebenswerten Zukunft. Als kleine Pointe im Film verabschiedet ein Chor von Kindern aus Molenbeek, einem armen Brüsseler Stadtviertel, die Großmutter mit einem Lied: „We migrate, together“, singen sie ihr hinterher: „Wir migrieren, zusammen.“

Laure Prouvost, „Bird 3“, 2024.
Laure Prouvost, „Bird 3“, 2024. Courtesy of the artist Photo Antoine van Kaam

Komplexe Gegenwartsthemen verflechten sich in dieser Ausstellung mit dem Untertitel „In the Mist of It All, above Front Tears“, die das Museum De Pont im südniederländischen Tilburg zeigt. Und doch ist alles, wie stets bei Prouvost, ein kurzweiliger Entdeckungsparcours. Viele Vögel – Symbole für Migration – tauchen auf: als Figuren eines Schattenspiels, gestickt in Wandteppiche oder als Skulpturen aus Muranoglas. Neben einem gläsernen Federtier leuchten auf einem größeren Felsbrocken drei kleine reale Himbeeren im üppigsten Rot. Kunsttiere, Naturobjekte, Publikum – alle sind unter den großmütterlichen Fittichen beschirmt und verbunden. „Es geht auch um Gemeinschaft mit anderen Denkweisen: Können wir der jeweils andere werden? Können wir Vögel werden?“, erklärt Prouvost.

Empathie ist eine Superkraft der 1978 in Croix geborenen Künstlerin; eine weitere ihr Humor, der sich oft in subversiven Sprachspielen offenbart: Das englische Wort für Grenzen – „frontiers“ – verändert sie im Ausstellungstitel und verweist durch das wie die Endsilbe klingende „Tears“ auf die Tränen, die Menschen vor Grenzzäunen verschütten. Die kleine semantische Geste wirkt auf das Gewissen wie ein Faustschlag. Trotzdem geht es Prouvost nie um Belehrung, sondern um die positiven Kräfte, die ein Perspektivwechsel erzeugt: Im Film „Into All That Is Here“ (2015) nehmen wir den Blick eines Insekts an, das Prouvosts betörender Stimme folgt, um nach langer Tunnelbohrung in einem Paradies aus explosionsartig aufblühenden Blumen zu landen, diese hemmungslos zu konsumieren und dann in Hitze zu verglühen. Diese Geschichte des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen vermischt sich sinnlich mit dem dunklen Duft des Mutterbodens, der im Ausstellungsraum aufgeschüttet wurde: Anfang und Endpunkt allen Lebens. So hat das letzte Wort die Natur, die am Ende alle Kunsthöhenflüge der menschlichen Fantasie mit ihrer unausweichlichen Realität zu „erden“ vermag. 

Service

AUSSTELLUNG

„Laure Prouvost“,

De Pont Museum, Tilburg,

bis 18. August

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