Ausstellung in Berlin

Dämonen des Fußballs

Zur Europameisterschaft lässt Marianna Simnett im Hamburger Bahnhof blutspuckende Spieler im Stadion tänzeln und von KI besessene Babys in der Fankurve jubeln

Von Laura Kunkel
05.06.2024

Der Hamburger Bahnhof in Berlin ist zwiegespalten: In der Historischen Halle, gleich am Eingang des Museums, wandeln die glasklaren Stimmen der sich sanft bewegenden Performerinnen und Performer von Alexandra Piricis raumgreifender Arbeit „Attune“ (Einstimmen) zwischen einem meterhohen Sandberg und chemisch reagierenden Farbrohren umher. Ein Stockwerk höher, in einem niedrigen Raum mit abgedeckten Fenstern, provoziert derweil die britische Multimediakünstlerin Marianna Simnett mit verstörenden Fußballassoziationen.

Schon beim Betreten der mit weichem Teppich ausgelegten Fläche weht ein süßlicher Geruch in die Nase, Beklemmung macht sich breit. Eine beängstigende Stimme säuselt auf Englisch „Niemand will dir wehtun. Wir alle wollen gerettet werden“. Wenig überzeugend, dafür kindliche Neugierde weckend, lockt sie noch näher in die luft- und lichtarme Höhle. Die Augen wissen zunächst nicht, auf welchen der drei Bildschirme sie zuerst schauen sollen, wandern schließlich zwischen allen hin und her. Da wird zum Beispiel eine Portion Pommes versalzen und mit Unmengen Ketchup und Mayo ungenießbar gemacht, während woanders Federn fliegen, die schon bis in die Ecken des Ausstellungsraums geweht worden sind. Was passiert hier eigentlich?

Rote Karte für die renitenten Spieler: Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024
Rote Karte für die renitenten Spieler: Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024. © Courtesy the artist, Société, Berlin

Simnett fordert von ihrem Publikum völlige Hingabe und ungeteilte Aufmerksamkeit, um das Gesehene irgendwie einordnen zu können, was im Hinblick auf das schiere Chaos zu einer herausfordernden Aufgabe für die Besuchenden wird. Während der Blick weiter im Raum umherschweift und vergeblich nach visueller Stille sucht, bieten immerhin Sitzgelegenheiten die Möglichkeit, sich auf eine der etwa zwei Mal drei Meter großen Leinwände zu konzentrieren, auf denen sich zeitversetzt die Sequenzen des Films „WINNER“ in Dauerschleife wiederholen, nach dem auch die Ausstellung benannt ist. Die dreistufigen Bänke identifizieren sich als Siegertreppchen unterschiedlicher Materialbeschaffenheit. Eines davon ist übersät mit Reliefs männlicher Weichteile, die bei den Besuchenden zwar peinlich berührtes Interesse wecken, selten aber zum Platznehmen verführen. Eine zweite, vermutlich aus Harz geformte Bank, scheint der Grund für den süßlichen Geruch zu sein, und ruft sofort Joseph Beuys‘ massive Tierfett-Skulpturen ins Gedächtnis, die eine Etage tiefer ausgestellt sind.

Hodenreliefs und zerstörungswütige Maskottchen: Ausstellungsansicht im Hamburger Bahnhof, 2024
Hodenreliefs und zerstörungswütige Maskottchen: Ausstellungsansicht im Hamburger Bahnhof, 2024. © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jacopo La Forgia. Courtesy Marianna Simnett and Société, Berlin

Die 1986 in London geborene Simnett verglich ihr Künstlerdasein einmal mit einer schäbigen Mutter, die ihre Perversionen auf eine unschuldige Menschenmasse projiziert. Einmal ließ sie sich von einem Arzt Botox in die Stimmbänder spritzen – eine Prozedur, der sich junge Männer unterziehen, wenn sie eine tiefere Stimme wollen. Es mache ihr regelrecht Freude, ihre inneren Dämonen in die Welt zu entlassen. In der aktuellen Videoarbeit tragen diese kleinen Biester noch Strampler und reden, wie von einer KI besessen, wirres Zeug. Keine geringere als die quirlige New-Wave-Ikone Lydia Lunch leiht dem Baby-Chor, der die Fankurve aufmischt, ihre Stimme. Unterlegt wird das ungewöhnliche Ensemble mit Musik des norwegischen Jazz-Saxophonisten Bendik Giske, der aus der Berliner Szene nicht mehr wegzudenken ist.

Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024
Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024. © Courtesy the artist, Société, Berlin

Alles Niedliche wird bei Marianna Simnett zu etwas Unbehaglichem. Die plüschigen Maskottchen, die das Stadion eigentlich bei Laune halten sollen, sind von Zerstörungswut getrieben. Allen voran der besonders gewaltbereite Schwan, der schelmisch grinsend seine Waffensammlung in der Umkleide präsentiert. Ein paar Schritte weiter in der Installation fährt eine androgyne Person mit lockigem Haar und tiefer Stimme das Rollo ihrer halb digitalen, halb physischen Imbissbude hoch und runter. Gelangweilt werden Brötchen mit Bockwürsten belegt, bevor klar wird: hier werden die eingangs erwähnten klassischen Halbzeitsnacks ruiniert. Selten wurde das ohnehin schon als ungesund geltende Fast Food so unappetitlich hergerichtet. Ein blutspuckender Spieler zur Linken und zur Rechten ein Knochen, der aus der klaffenden Wunde eines Kontrahenten ragt, tun ihr übriges. Aber wenn es selbst dem Verwundeten gelingt, mit völlig ausdrucksloser Mine auf den Schmerz zu reagieren, dann schafft man es auch als außenstehende Person.

Hier werden Snacks ruiniert: Ausstellungsansicht, Marianna Simnett, WINNER, 2024, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart
Hier werden Snacks ruiniert: Ausstellungsansicht, Marianna Simnett, WINNER, 2024, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart. © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jacopo La Forgia. Courtesy Marianna Simnett and Société, Berlin

Marianna Simnetts Kunst zu betrachten ist vergleichbar mit einem Horrorfilm, bei dem man weder hinsehen kann noch verpassen will, wer der Killer ist. Ihren Hang zum Morbiden hat Simnett bereits in „Prayers for Roadkill“ (2022) bewiesen, wo sie Formen von Gewalt und Grausamkeit spielerisch verhandelt und dafür auch mal überfahrene Tiere von der Straße sammelt, in einer Tiefkühltruhe im eigenen Studio lagert und nach YouTube-Tutorials selbständig ausstopft. Ein anderes Mal erzählt sie in „The Severed Tail“ (2022) die Geschichte eines traumatisierten Ferkels, dessen Schwanz von einem Farmer abgeschnitten wurde und sorgte damit auf der Venedig-Biennale 2022 für Furore. In beiden Videoarbeiten, die 2023 in der Frankfurter SCHIRN Kunsthalle in der Reihe „Double Feature“ gezeigt wurden, taucht Simnett in zutiefst menschliche Abgründe: Die tierischen Protagonisten ihrer Filme stehen für unterdrückte Emotionen, schmerzhafte Erfahrungen und Traumata, aber auch für die fehlende Empathie in einer von Abwertung und Ausgrenzung beherrschten Gesellschaft.

Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024
Filmstill aus Marianna Simnetts „WINNER“, 2024. © Courtesy the artist, Société, Berlin

Anlässlich der in Deutschland ausgetragenen Fußball-Europameisterschaft 2024 hat die in Berlin lebende und arbeitende Künstlerin dem Hamburger Bahnhof mit der Auftragsarbeit „WINNER“ einen großen Gefallen getan. Man muss kein Fan der Ballsportart sein, um dieser Ausstellung etwas abzugewinnen. Es genügt schon ein allgemeines Interesse an gesellschaftlichen Phänomenen wie Massenpsychologie und permanentem Leistungsdruck. Am Ende steht der Fußball bei Simnett für etwas viel Größeres: für die Siege und Niederlagen im Leben, die Brutalität und das Leid in Machthierarchien.

Service

Ausstellung

„Marianna Simnett. WINNER“,

Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin,

bis 3. November 2024.

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