Seit vielen Jahren setzt sich Kader Attia mit dem Prinzip der „Reparatur“ auseinander. In der Berlinischen Galerie tritt sein Werk nun in Dialog mit Collagen von Hannah Höch
Von
10.07.2024
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 228
Noch bevor wir den Saal mit dem raumgreifenden und erschreckenden Werk betreten, das der Ausstellung ihren Namen gegeben hat, „J’Accuse“ von 2016, konzentrieren wir uns auf kleine Bilder an der Wand: Der Künstler Kader Attia hat für seine Schau Collagen von Hannah Höch aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren ausgewählt. Das Medium liegt ihm am Herzen, und die Werke der Dadaistin schätzt er besonders. In ihrer Serie „Aus einem ethnographischen Museum“ hat Höch Gesichts- und Körperteile aus Modezeitschriften mit Fotografien von außereuropäischen Skulpturen kombiniert, Figuren zerschnitten und neu zusammengesetzt und das Schönheitsideal ihrer Zeit mit Fragezeichen versehen. Eingestimmt mit ihren hintersinnigen Ideen erschüttert die Installation ein paar Schritte weiter umso mehr.
1970 im Pariser Norden geboren, ist Kader Attia in Algerien und Frankreich aufgewachsen, hat im Kongo und in Südamerika gelebt und teilt seine Zeit zwischen Paris und Berlin auf. Als Professor für Zeitbezogene Medien lehrt er an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Verlust, Gewalt und Reparatur sind wiederkehrende Themen in seiner Kunst. Mit der Axt hat er für dieses Projekt überlebensgroße Köpfe aus rohem Holz gehauen, die von Fotografien verletzter Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg inspiriert sind, zerschossene Gesichter, die notdürftig wieder zusammengeflickt wurden, auch Arm- oder Beinprothesen. Hunderttausende Afrikaner kämpften damals für Frankreich. Im physischen Akt der Bildhauerei sieht er eine Parallele zu den Verletzungen der Veteranen. Im Podcast „Was macht die Kunst?“ beschreibt er eindrücklich die körperliche Anstrengung mit der wuchtigen Axt und die Unwiederbringlichkeit als Teil dieser Technik. Was einmal aus dem Holz herausgeschlagen ist, lässt sich nicht wieder einfügen.
Wie das Holz mit seinen Jahresringen Schicht um Schicht in die Vergangenheit führt, so hat auch die Installation mehrere Generationen von Ahnen. Die hölzernen Köpfe sind auf eine Leinwand gerichtet, die in Dauerschleife eine elfminütige Sequenz aus dem Antikriegsfilm „J’accuse“ von Abel Gance zeigt. Er ließ 1938 in einer gruseligen Passage kriegsversehrte Veteranen wie eine Parade von Zombies auftreten. Der Titel führt aber noch weiter in die Geschichte, denn der Filmemacher Gance wiederum zitierte den Schriftsteller Émile Zola, der Ende des 19. Jahrhunderts in der antisemitischen Dreyfus-Affäre mit seiner Streitschrift „J’accuse“ den des Hochverrats beschuldigten Hauptmann Alfred Dreyfus verteidigte.
Attias zweite Installation, „The Object’s Interlacing“ (2020), ist ähnlich aufgebaut. Auch hier steht eine Gruppe von Skulpturen vor einer Videoleinwand, die Werke werfen sogar prägnante Schatten direkt auf die Projektion. Es handelt sich um Kopien von Skulpturen aus Afrika und der Südsee, einige davon 3-D-Drucke von Werken aus dem Musée du quai Branly in Paris. Im Video lässt der Künstler verschiedene Protagonistinnen und Experten der Restitutionsdebatte zu Wort kommen, darunter Kunsthistoriker, Psychologinnen und Angehörige des Herrschaftshauses von Dahomey. Dafür sollte man sich Zeit nehmen, ihre Perspektiven sind erhellend – und mit diesen vielen Stimmen im Kopf lohnt es sich, am Schluss noch einmal bei Hannah Höch vorbeizuschauen. All die Anregungen und die Frage, was Objekt und was Subjekt ist, erweitern auch den Blick auf ihre Collagen.