In der Halle am Berghain in Berlin appelliert die Künstlerin Danielle Brathwaite-Shirley mit Videospielen an unsere moralische Verantwortung
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01.08.2024
Kein Finest Friday, keine Klubnacht zieht gerade das Publikum an, sondern eine neue von der LAS Art Foundation in Auftrag gegebene Installation im berühmt-berüchtigten Technoclub. Die Halle am Berghain wird derzeit von Danielle Brathwaite-Shirley bespielt, die mit ihrer ersten Einzelpräsentation in Deutschland den unterkühlten Industriebau zu einer kooperativen Multiplayer-Game-Umgebung umfunktioniert und sich dabei an Themen wie Unterdrückung, Diskriminierung und der Frage nach Zugehörigkeit abarbeitet.
Gleich am Eingang wird eine Warnung ausgesprochen: „Vielleicht gefällt dir nicht, was du siehst. Vielleicht erträgst du die Wahrheit nicht“. Wer sich dennoch dazu entscheidet, die nicht für den Clubbetrieb zugängliche Halle des ehemaligen Fernheizwerks zu betreten, hat sich schon zu einer introspektiven Reise durch Raum und Zeit bereiterklärt. Der erste Teil der auf zwei Episoden ausgelegten Ausstellung mit dem Titel „You Can’t Hide Anything“ will das Bewusstsein gegenüber eigenen Vorurteilen stärken und dazu motivieren, sich moralischen Dilemmata zu stellen. Dafür hat Brathwaite-Shirley eine virtuelle Parallelwelt geschaffen, in der das globale System der Sklavenherrschaft gestürzt wurde. Wie sich der weitere Verlauf der Geschichte gestaltet, bestimmen die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung. Sie durchqueren als aktive Spielerinnen und Spieler einen Parcours aus verschiedenen Videospielen und müssen über ein Voting-System gemeinsame Entscheidungen treffen, von denen Leben abhängen.
Im Mittelpunkt der Ausstellung, die als kleinformatiges Amphitheater angelegt ist, navigiert eine Person mithilfe von Controllern durch das Spiel, um verschiedene Figuren aufzuspüren, die es innerhalb einer festgelegten Zeit zu retten gilt. Die restlichen Spielerinnen und Spieler, die rundherum auf erhöhten Podesten sitzen, können den Weg durch das Game mitbestimmen. Die Künstlerin erhöht jedoch den Druck, indem sie an die kollektive Verantwortung der Spielenden appelliert. Unter Zeitdruck müssen diese für sich beispielsweise beantworten, ob es Körper gibt, die stärker sind als andere. So wundert es auch nicht, wenn keine einzige der gesuchten Personen gerettet werden kann – aufgrund von Meinungsdifferenzen und falscher Entscheidungen. Jenen nicht gefundenen Personen setzt Brathwaite-Shirley mit sogenannten Death Stations ein digitales Denkmal, das die Biografien der Verstorbenen würdigt.
Wem das Ergebnis eigener Entscheidungen besonders nahegeht, kann seine Seele an einer der mehreren Soul Stations „reinigen“. Hierfür muss ein Sprachsystem entschlüsselt werden, das von den Schriften vergangener Kulturen inspiriert ist. Die Soul Stations konfrontieren die Nutzerinnen und Nutzer mit den eigenen Überzeugungen, Gewohnheiten und Machtgedanken. Bis zur vollständigen Reinigung durchläuft man eine Reihe logisch-mathematischer Rätsel und psychologischer Fragen, etwa ob man sich aktiv für die Sicherheit anderer einsetzt oder glaubt, ein guter Mensch zu sein.
Die Ausstellung schafft ein Bewusstsein dafür, wie privilegiert all jene Menschen sind, die nicht täglich der Angst ausgesetzt sind, von Behörden ausgegrenzt zu werden, den öffentlichen Raum nicht als Ort von Traumata wahrnehmen, deren Identität nicht als Bedrohung gesehen wird und deren Schicksal nicht von der Verantwortung anderer abhängt. Das Zusammenspiel des Publikums ist hier ausschlaggebend dafür, wessen Stimmen gehört werden. Dabei geht es Brathwaite-Shirley weniger um Schuldzuweisungen als darum, die eigene Seele wiederzufinden – und dies geschieht nur durch Selbstbeobachtung und das Eingeständnis von eigenen Fehlern und Versäumnissen.
„Danielle Brathwaite-Shirley. The Soul Station“,
Episode 1: YOU CAN’T HIDE ANYTHING (12. Juli – 8. September),
Episode 2: ARE YOU SOULLESS, TOO? (12. September – 13. Oktober),
Halle am Berghain, Berlin