Pia Arke galt in ihrer Heimat Grönland als Wegweiserin. In den Berliner Kunst-Werken reaktiviert die erste Einzelausstellung der Künstlerin außerhalb der Polarregion nun ihr politisches Vermächtnis
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22.08.2024
Würde Pia Arke noch unter uns weilen, hätte sie bestimmt vor Stolz den traditionellen Inuit-Stiefel über den Kopf gezogen, so wie sie es 1993 für die Fotografie „Ohne Titel – Setz dir deinen Kamik auf den Kopf, damit jeder sehen kann, woher du kommst“ tat, um der Kolonialgeschichte ihrer Heimat Grönland eine Prise Humor entgegenzusetzen. Als die junge Abgeordnete Aki-Matilda Høegh-Dam nämlich im Mai 2023 eine Rede vor dem empörten dänischen Parlament auf ihrer Landessprache Grönländisch hielt, tat sie genau das, was Arke in ihrer künstlerischen Schaffenszeit über Jahrzehnte versuchte: die beschränkte ethnozentrische Sicht des globalen Westens auf diesen Teil der Welt zu durchbrechen. Ausreichend Gehör bekamen die Forderungen der Künstlerin außerhalb des Polarkreises leider erst posthum.
Zwischen dem Nordatlantik und dem Nordpolarmeer ist der Winter besonders rau und die Tage sind meist nicht sehr lang. Entlang der Westküste Grönlands geht im Sommer die Sonne gar nicht erst unter. Die größte Insel der Erde ist gleichzeitig ein vergessenes Stück Land mit beachtlicher Geschichte. 1958 wurde in Kap Tobin, der heute verlassenen Siedlung Uunarteq an der Nordostküste Grönlands, Pia Gant als Tochter einer Inuk und eines dänischen Telegrafisten geboren. Dem Beruf des Vaters wegen war die Familie viel auf Reisen. Das Land lernte Pia von allen Ecken kennen, aber zu Hause fühlte sie sich nirgends so recht. Ein Wandel musste her: 1983 ließ sie ihren Namen in Arke ändern, eine Ableitung des Geburtsnamens ihrer Mutter, Arqe. Sie zog nach Kopenhagen, um an der Königlichen Dänischen Kunstakademie Malerei und Fotografie zu studieren. Dänemark, zu dessen Königreich Grönland immer noch zählt, auch wenn es mit einer eigenen Regierung heute weitestgehend autonom agiert, war zwar nicht Arkes erste Heimat, aber immerhin ein Teil von ihr. Der Abstand zu ihrem Geburtsort und die Nähe zu ihren genetischen Wurzeln vergrößerten den Willen nach gründlicher Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte.
Den entscheidenden Impuls bekam Arke 1995 im Archiv des Explorers Club in New York, der sich damals wie heute mit Neil Armstrong oder Jeff Bezos wie das Who is Who der visionären Entdecker-Elite liest. Dort stieß sie auf das Foto einer Inuk im Gewahrsam weißer männlicher Forscher. Kopieren verboten, hieß es auf ihre Anfrage: „Liebe Pia, wir bedauern, Ihnen zu diesem späten Zeitpunkt mitteilen zu müssen, dass der Club das von Ihnen angeforderte Foto und die dazugehörige Aufnahme mit einem Schiff aufgrund ihrer sensiblen Natur nur eingeschränkt zulässt“. Arke war nun angefixt. Was folgte, war eine mühsame Spurensuche in archivarischen Quellen, gepaart mit unermüdlicher Neugier und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das Ergebnis jener Anstrengungen wird derzeit mit einer ersten Einzelausstellung der 2007 verstorbenen Künstlerin außerhalb des Polarkreises belohnt. Auf zwei Etagen der Berliner Kunst-Werke lässt sich nachvollziehen, mit welchen Ungerechtigkeiten und Demütigungen insbesondere Frauen wie Arke auch nach der Dekolonialisierung Grönlands noch zu kämpfen hatten.
Im Zentrum ihres künstlerischen Schaffens steht die Werkreihe „Arctic Hysteria“ (1996–1997), die der Berliner Schau ihren Titel verliehen hat. „Arktische Hysterie“ ist ein Relikt fragwürdiger medizinischer Klassifikationen aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und beschreibt ein gestörtes psychisches Verhalten meist weiblicher Inuit. Lange Zeit glaubte man, die Grönländerinnen würden sich grundlos nackt im Schnee wälzen, selbstverletzendes Verhalten an den Tag legen und anschließend für einen halben Tag ins Koma fallen. Dass dabei die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen aus der Kolonialzeit eine Rolle spielen könnte, wurde schlicht ignoriert.
In der gleichnamigen Videoarbeit von 1996 greift Arke diese Klassifikationen auf und kriecht nackt über einen Abzug des Nuugaarsuuk-Panoramas, das unter anderem auch als Kulisse für ihr Selbstporträt von 1992 diente. Sie streicht über den knisternden Untergrund, breitet sich aus, bewegt sich wie ein Tier auf Nahrungssuche und zerreißt am Ende das Papier – erst sachte, dann immer entschlossener. Nuugaarsuuk liegt nicht weit von Narsaq im Süden Grönlands. Hierher transportierte Arke 1990 eine selbstgebaute, auf ihre Körpermaße angepasste Camera Obscura, mit dem Ziel, an die Orte ihrer Kindheit zurückzukehren und damit verknüpfte Erinnerungen visuell festzuhalten. Gleichzeitig eignete sie sich die Fotografie als Medium an, um sich selbst aktiv in den Bildherstellungsprozess einzubringen. Denn in ihrer kolonial geprägten Heimat wurden Fotografien von Polarforschern nicht nur zu archivarischen Zwecken genutzt, sondern dienten vor allem als Mittel zur Unterdrückung. Damit Arke mit den patriarchalen Machtstrukturen ihres Landes, indem sie den weiblichen Inuit-Körper aus seiner Passivität löste. Die Kamera wurde zu ihrer Waffe der Selbstermächtigung. In den Räumlichkeiten der KW kann man das lebensgroße Gebilde aus nächster Nähe inspizieren und nachspüren, wie Arke nicht nur Schutz vor der rauen Natur fand, sondern auch eine Art kraftspendenden Raum für sich geschaffen hatte.
Neben den ästhetischen Landschaftsaufnahmen und kraftvollen Aktbildern der Künstlerin lohnt sich auch ein genauerer Blick auf die Registernotizen aus den Archiven oder persönlichen Briefe Arkes, beispielsweise an ihren Freund Stefan Jonsson vom 6. November 1997. Darin berichtet sie von dem Problem der Sprachverwirrung zwischen Grönländisch und Dänisch, das, wie sie schreibt, „in Verbindung mit einer inkonsequenten Kolonialpolitik so sehr politisch und emotional genutzt wurde, dass viele Erwachsene und Kinder immer noch kein Dänisch sprechen, was unter anderem zu einem mangelnden Zugang zu Wissen und Bildung führt“. Auch Arkes Dissertation „Etnoæstetik“ (Ethno-Ästhetik), in der sie sich kritisch mit dem von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern genutzten Begriff zur Beschreibung grönländischer Kunst auseinandersetzt, ist Teil des umfassenden Konvoluts persönlicher Dokumente, in deren Details man sich nahezu verlieren kann.
Nicht nur Arkes persönliche Erfahrungen, sondern auch die ihrer Landsleute hat sie zwischen all den Collagen und Fotografien miteinander verwoben. Somit gab sie jenen eine Stimme, deren Geschichten es sonst vermutlich nicht über die Grenzen des arktischen Meeres hinaus geschafft hätten.
Pia Arke – „Arctic Hysteria“,
KW Institute for Contemporary Art, Berlin,
bis 20. Oktober