Das MMK Frankfurt versammelt Kunstschaffende, die ins geteilte Deutschland immigrierten. Das Leben in der neuen Heimat wurde zum Thema bedrückender Werke
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08.08.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 230
Es ist eines der beliebtesten Straßenspiele, Kinder überall auf der Welt kennen es. Wer gewinnt, kommt in den Himmel, wer verliert, muss raus – also in die Hölle. Das Spielfeld wird mit Kreide auf den Boden gezeichnet und besteht aus aneinandergereihten Vierecken. Dann wirft man einen Stein auf eines der durchnummerierten Karrees und beginnt, auf einem Bein das Spielfeld entlangzuhüpfen. Ziel ist es, in alle nicht von dem Stein belegten Vierecke zu springen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. „Hopscotch“ ist die englische Bezeichnung für das besagte Kinderspiel und zugleich der Titel einer Arbeit des griechischen Künstlers Vlassis Caniaris. Von 1973 bis 1975 lebte er in Berlin, gefördert durch ein Künstlerstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Seine Installation aus dem Jahr 1974, die gleich zu Beginn der Ausstellung „There is no there there“ im MMK Frankfurt zu sehen ist, besteht aus einem „Himmel und Hölle“-Spielfeld, um das herum Koffer und kopflose Figuren drapiert sind. Statt Zahlen hat Caniaris in die Felder Wörter wie „Arbeitskommissionen“, „Desorientierung“ und „Ausländergesetzgebung“ geschrieben. Auf den Flächen ganz oben prangen bedrohlich die Begriffe „Ausländerpolizei“ und „Fließband Akkordarbeit“. Es ist bedrückend, sie zu lesen, gleichzeitig geben sie einen Vorgeschmack auf das, was das Publikum in der Schau erwartet.
Die von Susanne Pfeffer und Gürsoy Doğtaş kuratierte Ausstellung erstreckt sich über alle drei Stockwerke des modernen Museumsbaus. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit dokumentiert sie die Spuren, die die Kunstschaffenden mit Migrationshintergrund in der Kunstwelt hinterlassen haben. Der Titel der Ausstellung „There is no there there“ – übersetzt: „Es gibt kein dort dort“ – ist ein Zitat von Gertrude Stein, das ihrem Buch „Everybody’s Autobiography“ entlehnt ist, in dem die amerikanische Schriftstellerin das verlorene Zuhause ihrer Kindheit beschreibt. Nach dem Tod ihrer Eltern verließ Stein ihre Heimatstadt Oakland und erinnert sich Jahre später mit nostalgischen Gefühlen daran zurück.
Die 30 nun in dieser Schau vorgestellten Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein, was sie eint, sind allein Zeit und Raum. Alle Künstlerinnen und Künstler arbeiteten in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren im Deutschland der Nachkriegszeit, einem geteilten Staat. Sie alle wurden nicht dort geboren, brachten ihre eigenen Geschichten und Erinnerungen mit in das neue Land. Für manche von ihnen war Deutschland nur ein Zwischenstopp, andere fanden hier eine neue Heimat. Die Gründe für die Migration reichten von wirtschaftlicher Not über politische Verfolgung bis zum Austauschstipendium. Gemeinsam mit anderen Geflüchteten, Arbeitsimmigrantinnen und Exilanten versuchten sie, in der BRD und der DDR Fuß zu fassen. Dabei waren die Lebensrealitäten, in denen sie sich wiederfanden, zum Teil äußerst problematisch.
Der kurdische Künstler Riza Topal kam 1968 nach München, wo er an der Akademie der Bildenden Künste studierte. In seinen reliefartigen Gemälden verarbeitet er Erinnerungen an seinen Alltag in den Dörfern im Osten der Türkei. Er malte Frauen in bunt gemusterten Gewändern, die zufrieden und selbstbewusst wirken. Hanefi Yeter begann sein Kunststudium in Istanbul und setzte es 1973 in Westberlin fort. In seiner Arbeit thematisiert er die Schwierigkeiten, mit denen die Kinder von Arbeitsimmigrantinnen und -immigranten in der BRD zu kämpfen hatten. „Analphabeten in zwei Sprachen“ von 1978 zeigt ein Mädchen und einen Jungen, die vor einer Schultafel stehen, auf der grammatisch falsche Sätze auf Deutsch und Türkisch zu lesen sind. Die hohe Analphabetenquote in der Türkei und eine unzureichende Schulpolitik in der BRD führten dazu, dass Kinder mit Migrationsgeschichte häufig keine der beiden Sprachen richtig lernten.
Drago Trumbetaš, geboren in der Nähe von Zagreb, reiste in den Sechzigerjahren als Gastarbeiter in die BRD ein. In seinen Zeichnungen hält er den harten Alltag sowie die strukturelle Diskriminierung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Frankfurt am Main fest. Im Jahr 2011 schuf er die Arbeit „Archipel Gastarbeiter“, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Es handelt sich dabei um die Nachbildung eines zwölf Quadratmeter großen „Gastarbeiterzimmers“. Auch hier taucht wieder der Koffer als Motiv der Flucht und Verdrängung auf. Im Schrank hängt ein blauer Arbeitskittel, auf dem Tisch steht eine kleine Kochplatte. Die simplen Einrichtungsgegenstände stehen eng beieinander. Sofort schleicht sich ein Gefühl von Beklemmung und Aussichtslosigkeit ein.
In Želimir Žilniks Film „Hausordnung“ (1975) berichten Gastarbeiterinnen und -arbeiter von ihren Wohnungen, die ihnen von den Betrieben zur Verfügung gestellt wurden. Die Verkopplung von Arbeit und Unterkunft machte es den Menschen umso schwerer, aus den prekären Verhältnissen zu entkommen. In den Wohnheimen herrschten strenge Regeln, wie die Bewohnerinnen und Bewohner berichten. Nach 21 Uhr durfte keine Musik mehr gespielt werden, Gäste waren nicht erlaubt, und der Hausmeister kam oft noch spätnachts in die Zimmer, um zu kontrollieren, wer im Haus war. Žilnik war Anfang der Siebzigerjahre aus Jugoslawien, wo Tito eine sehr restriktive Kulturpolitik verfolgte, in die BRD geflohen. Später musste er auch Deutschland wieder verlassen, da seine kritischen Arbeiten hier ebenfalls nicht gern gesehen waren.
Da die Ausstellung auf Wandtexte verzichtet, wirkt das Erzählte in den ausgewählten Videoarbeiten umso stärker. In Navina Sundarams Film „Binationale Ehen“ (1982) berichten drei deutsche Frauen, die mit einem ausländischen Mann verheiratet sind, von ihren Erfahrungen, von Drohbriefen und aufgeschlitzten Autoreifen. Eine zweite Videoarbeit der deutsch-indischen Filmemacherin beschäftigt sich mit der ungleichen Behandlung geflüchteter Menschen aus dem Globalen Süden im Gegensatz zu Personen aus Osteuropa. Während des Ausstellungsbesuchs wird schnell deutlich, dass viele der damaligen Themen heute immer noch aktuell sind.
Dem kleinen Begleitheft zur Ausstellung ist zu entnehmen, dass der dritte Stock den Werken gewidmet ist, die in der DDR geschaffen wurden. Das Spektrum der Arbeiten reicht hier von Mail Art, die der chilenische Künstler Guillermo Deisler in den Achtzigerjahren verschickte, bis zu riesigen Vogelmasken der angolanischen Künstlerin Manuela Sambo. Ganz oben in der Mitte des Lichthofes thront ein wiederhergestelltes Wandgemälde des in Mosambik geborenen Künstlers Dito Tembe. Es zeigt eine starke Frau mit ausgestreckten Armen, hinter der langsam die Sonne aufgeht. So findet sich am Ende doch noch ein Hoffnungsschimmer in dieser eher düsteren Bilanz deutscher Einwanderungsgeschichte.