Im Haus der Kunst in München imaginieren Rebecca Horn und Liliane Lijn mit ihren poetisch-technologischen Skulpturen eine neue Welt
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12.08.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 230
Eine Frau schreitet mit ausgebreiteten Armen durch ein Wohnzimmer. An ihren Händen trägt sie Handschuhe – aber nicht solche, die man aus Boutiquen kennt. Es sind Prothesen, die ihre Finger zu Stäben verlängern. Sanft fährt sie an den Wänden entlang, nur das leise Kratzen ihrer Greifkrallen ist zu hören. Sehen wir hier ein Mischwesen, das gleich die Flügelhände spannt und durch das Fenster davonfliegt? Oder eine Frau, die abtastet, wie viel Raum sie in der Welt einnehmen darf?
30 Jahre ist Rebecca Horn alt, als sie diese Video-Performance macht. Ihren Platz in der Kunst hatte sie da schon gefunden. Als bis dahin jüngste Künstlerin in der Geschichte nahm sie zwei Jahre zuvor an der Documenta 5 teil. In ihren „Berlin-Übungen in neun Stücken“ (1974–1975) entdeckt man Motive, die auch ihre späteren Maschinenskulpturen auszeichnen: Grenzverschiebung, Bewegung und Klang. Das Haus der Kunst inszeniert ihre Filme, neu digitalisiert, als Herz der Retrospektive. Dreißig Videos pulsieren in der Haupthalle im Loop und dienen als Einstieg in Horns sechs Jahrzehnte umspannende Denk- und Materialwelt.
Im Nebenraum begegnet man den „Fingerhandschuhen“ in einer Zeichnung wieder. Entstanden ist die Skizze in den Sechzigerjahren im Sanatorium, wo sich Horn von einer Lungenvergiftung erholte. Am Krankenbett entwickelte sie tragbare Skulpturen, die sie „Körpererweiterungen“ nannte. Aus der Verletzlichkeit heraus suchte sie nach Objekten, die das eigene Sein verwandeln. Ihre Prothesen aus Federn, Fächern und Motoren zwingen, eine andere Haltung zur Welt einzunehmen. Hat man sie übergestülpt, gelten Kategorien wie weiblich/männlich oder natürlich/übernatürlich nicht mehr.
Dieser Drang, Normen aufzubrechen, verbindet sie mit Liliane Lijn, der das Museum zeitgleich eine Einzelausstellung widmet. In Deutschland mag die 84-jährige Amerikanerin wenigen bekannt sein, doch in der Parallelität zu Horn ist dem Haus der Kunst ein Coup gelungen: Präsentiert werden Frauen, die Schwestern im Geiste sein könnten. Beide werden als Pionierinnen der kinetischen Kunst gefeiert, beide sprengen Genrevorgaben, beide schöpfen aus Poesie und Wissenschaft. Beim Gang durch Lijns Schau stellt man sich vor, wie sie Seite an Seite im Atelier arbeiten.
Denn auch Lijn verwendet Federn und Industriestoffe für Skulpturen: Ihre „Female Figures“ sind durchdrungen vom Glauben an Feminismus und kosmische Spiritualität. Lijn begreift sie als weibliche Archetypen – cyborgartige Wesen zwischen Mensch, Tier und Maschine. Mit etwas Glück kommt man pünktlich, wenn Lijns drei Meter hohe „Woman of War“ aus der Dunkelheit erwacht, ihre gelben Flügel ausbreitet und einen roten Laserstrahl durch den Raum schießt. 1986 feierte sie auf der Biennale in Venedig Premiere. Bis heute wirkt die Figur ihrer Zeit voraus.
Auch wenn Lijns Ansatz ätherischer anmutet, haben sie und Horn eines gemein: Sie tänzeln als Grenzgängerinnen zwischen den Disziplinen, Geschlechtern und Identitäten. In ihren besten Momenten überwinden sie, was einengt – kurz vor dem Abheben in eine neue Welt.
„Rebecca Horn“ (bis 13. Oktober),
„Liliane Lijn“ (bis 22. September),
Haus der Kunst, München