100 Jahre Surrealismus

Widerstand mit Fantasie

Das Lenbachhaus in München zeigt den antifaschistischen Surrealismus und erweitert so den Kanon

Von Jennifer Keil
21.10.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 233

Eine leichte Brise bewegt die Wellen vor der Reling der „Capitaine Paul Lemerle“. An Bord des Schiffes, das am 24. März 1941 von Marseille abgelegt hat, sind um die 350 Emigrantinnen und Emigranten aus Europa versammelt, darunter viele Intellektuelle. Auf dem Weg zur Karibikinsel Martinique befindet sich etwa André Breton, der Autor des ersten und zweiten surrealistischen Manifests, aber auch Anna Seghers, die auf der Reise ihren Roman „Transit“ schreibt. Sie entkommen so der Ermordung durch das nationalsozialistische Regime. Eine im Mai 1941 entstandene Fotografie zeigt die Verfolgten gemeinsam an der Reling des Schiffes. Sie vermittelt trotz schrecklicher Zeiten ein Gefühl von Zusammenhalt und Hoffnung.

Das Gruppenfoto ist als Exponat ab dem 15. Oktober in der Ausstellung „Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus“ im Münchener Lenbachhaus zu sehen. Denn das Erstarken der Rechten und die Kolonialpolitik in Frankreich, Spanien und Deutschland regten die Surrealisten an, sich mit ihrer Kunst dagegen zu positionieren. Die Neuordnung eines breiter aufgefächerten Surrealismuskanons und das Zusammenspiel von Politik und Kunst stehen jetzt im Mittelpunkt der Schau.

Politische Dimension des Surrealismus

Fokussiert wird etwa auf Claude Cahun. Unter dem Namen hat man in erster Linie exzentrische Selbstporträts und experimentelle Fotografien im Kopf. 1894 geboren, identifizierte sich Claude Cahun zu Lebzeiten als „neuter“, heutzutage besser bekannt als nonbinär. Ausgestellt wird Cahun hier jedoch mit Skizzen politischen Inhalts oder anderen provisorisch wirkenden Zeichnungen. Ein illustriertes Gedicht „ohne Titel (Propaganda-Zettel)“ von 1940–45 findet ebenfalls Platz. Ein mit Bleistift skizziertes, untergehendes Schiff symbolisiert karrikaturhaft Hitlers „Drittes Reich“. In Paris leitete Cahun mit seiner Lebensgefährtin Marcel Moore beziehungsweise Suzanne Malherbe einen Kunstsalon, durch den die beiden Kontakte zur Surrealismusszene pflegten. Claude collagierte, schrieb und fotografierte in den Kreisen um Breton. Die politische Verdrängung des Surrealismus verbildlicht sich explizit im Werk der beiden Liebhaberinnen Cahun und Moore „Ohne Titel (Interieur einer Gefängniszelle, auf Zigarettenschachtel gezeichnet)“ von 1944/45. Darauf zeigt sich deren Bettenlager in karger Gefängsniseinrichtung. Das schwache Grau des Bleistifts und das ungewöhnliche Format betonen zusätzlich die erdrückenden Umstände. Zum Entstehungszeitpunkt werden beide von der Gestapo zum Tode verurteilt, im folgenden Februar aber glücklicherweise begnadigt.

Der französisch-rumänische, jüdische Maler Victor Brauner bildet mit Werken wie „Totem der verwundeten Subjektivität II“ von 1948 ein weiteres Kernelement der Ausstellung. Bekannt durch seine karikaturhaften Hitlerdarstellungen um 1934, prägt sein Œuvre eine Kritik an totalitären politischen Systemen und ebnet dadurch den Weg für andere antifaschistische Kunstschaffende.

Karl Marx und Friedrich Engels verfassten 1848 das „Kommunistische Manifest“. Fast ein Jahrhundert später, 1934, dichtet die Gruppe Skupina surrealistů v ČSR aus Prag den prominenten ersten Satz um. Aus dem Gespenst des Kommunismus wird eines des Faschismus. Die humoristische Abwandlung zielt punktgenau auf das politische Geschehen Europas. Leider gibt es auch Fälle wie den Maler Salvador Dalí, der mit dem faschistischen Diktator Franco sympathisierte. Doch wie die Ausstellung zeigt, blieb der Surrealismus überwiegend eine antitotalitäre Kunstströmung. 

Service

AUSSTELLUNG

„Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus“

im Lenbachhaus München

bis 2. März 2025

lenbachhaus.de

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