Marina Apollonio in Venedig

Weniger ist mehr

Die Peggy Guggenheim Collection in Venedig reaktiviert Marina Apollonios Op-Art in einer großen Retrospektive

Von Petra Schaefer
11.10.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr.233

Wer in diesen Wochen kurz vor Ende der Kunstbiennale nach Venedig reist, sollte auf keinen Fall die erste Einzelausstellung der Op–Art–Künstlerin Marina Apollonio in einem italienischen Museum verpassen. Wer es eilig hat, dem sei zumindest ein Blick in die ständige Sammlung der Peggy Guggenheim Collection empfohlen. Denn seit Neustem wurde der ikonische Raum am Canal Grande, in dem sonst Jackson Pollocks berühmte Drip Paintings hängen, für kinetische und optische Kunst aus den 1950er- und 1960er-Jahren freigeräumt. Als Gast steht dort nun eine mechanisch betriebene kreisrunde schwarz-weiße Scheibe von Marina Apollonio mit ihren regelmäßigen konzentrischen Verläufen im Dialog mit wichtigen Werken von Marta Boto, Heinz Mack, Victor Vaserely und Francisco Sobrino aus der Sammlung. Gegenüber von Macks großformatiger Aluminiumfläche „Die Freude des Calvin“ von 1963 funktioniert die rotierende Scheibe gleichsam als Aktivator, wenn sie sich immer wieder anders in den verschiedenen geschnittenen Flächen spiegelt. Dabei arbeitet die Italienerin Apollonio, die 1940 in Triest geboren wurde, in Venedig aufgewachsen ist und heute in Padua lebt, arbeitet, mit sehr reduzierten Mitteln. Sie malt auf den weißen Holzgrund schwarze Streifen, die in der Bewegung sanft zurück ins Weiße fließen, endlos, immer wieder aufs Neue, bis sie die Betrachtenden in einen hypnotischen Zustand versetzen und gleichsam aus der Zeit katapultieren.

Als die 28-jährige Marina Apollonio im Sommer 1968 ihre schwarz-weißen „kreisrunden Dynamiken“ in der Galerie Paolo Barozzi an der Salute-Kirche, unweit von Peggy Guggenheims Palazzo Venier dei Leoni, ausstellte, kaufte die US-amerikanische Mäzenin ein Quadrat für ihre Sammlung. „Ich erinnere mich gut daran“, erzählt die heute 84-jährige Künstlerin. „In der Ausstellung hatte ich eine Reliefstruktur mit verketteten Aluminiumstreifen auf rotem fluoriszierendem Grund präsentiert. Aber Peggy hatte unlängst ihre Tochter Pegeen verloren, und die rote Farbe verband sie mit der immensen Trauer um den Tod ihrer einzigen Tochter. Ich machte eine neue Arbeit für sie auf grünem Fluo als Symbol für die Hoffnung.“

Marina Apollonio Forma-colore gradazione 20N blu bianco su rosso 1972. © Marina Apollonio

In der umfangreichen Sonderausstellung im Seitentrakt des Museums geht es um die „Überwindung des Kreises“. Am spannendsten sind in diesem Kontext die kleinfigurigen Studien auf Papier und Holz aus den 1960er– und 1970er–Jahren, in denen die architektonisch interessierte junge Frau, die an der Kunstakademie in Venedig studiert hatte, die kreisrunde Form auslotet. Mal arbeitet sie in Pappmaschee zwischen Form und Gegenform, mal collagiert sie eine Reihe von Quadraten und unterfüttert diese mit verschiedenfarbigen Stofffäden. Diese Werke legen die präzise Arbeitsweise von Marina Apollonio offen, die konstant mit Material, Form, Farbe und Raum experimentiert. Ihre Experimentierfreude zeigt sich auch in den Klassikern, den rotierenden schwarz-weißen Scheiben. In Venedig kann man eine ganze Reihe dieser Werke, deren konzentrischen Verläufe in Größe und Anordnung variieren, in Ruhe nebeneinander betrachten. Dabei ist es von besonderem Reiz, die Scheiben zunächst im Ruhezustand zu sehen, bevor sie auf Wunsch vom Museumspersonal in Bewegung gesetzt werden. Die Faszination liegt in der Verräumlichung der ebenso simpel wie genial gestalteten eindimensionalen Oberflächen, die eine dreidimensionale Tiefenwirkung entfalten.

In der Retrospektive kann man die künstlerische Entwicklung von Marina Apollonio über 60 Jahre verfolgen. Man sieht, wie sie Farben, geometrische Formen und gebaute Bildebenen ebenso auslotet wie die Schwerkraft, wenn sie beinahe schwebende Skulpturen aus Metallringen baut. Doch das Leitmotiv der Künstlerin, die zur Eröffnung in Venedig erklärte, dass sie noch lange nicht beabsichtigt, in Pension zu gehen, bleibt „Weniger ist mehr“. Und so schließt sie den Kreis mit einer Zusammenarbeit mit dem Tonkünstler Guglielmo Bottin, einem 1977 in Padua geborenen Musiker, Komponisten und Discjockey. Gemeinsam haben sie 2024 die Edition „Endings“ geschaffen, eine Schallplatte, die im letzten Raum knapp sechs Minuten läuft. Während man Apollonios schwarz-weißen Linien auf dem runden Tonträger beim Rotieren zuschaut, hört man Bottins elektronische Kadenz, die dem Verlauf der Schallplattennadel in die Kreismitte folgt.  

Marina Apollonios „Dinamica circolare“ von 1965
Marina Apollonios „Dinamica circolare“ von 1965. © Marina Apollonio

Die Würdigung von Marina Apollonio anlässlich der Ausstellung am Canal Grande in Venedig ist einer der großen Verdienste von Karole Vail, Direktorin der Peggy Guggenheim Collection und Enkelin der Museumsstifterin. Seit ihrem Amtsantritt vor sieben Jahren schärft sie konsequent das Profil des Museums rund um die Sammelinteressen ihrer Großmutter: „Es gibt eben nicht nur Pollock und Picasso, auch wenn sie sehr wichtig sind. Peggy hat bis zuletzt aktuelle Positionen gesammelt und junge Künstlerinnen und Künstler gefördert.“ Im umfangreichen Katalog der von Marianna Gelussi kuratierten Ausstellung wird das Werk von Marina Apollonio unter anderem von Max Hollein gewürdigt, der sie zu seiner viel beachteten Op-Art–Schau in der Frankfurter Schirn im Jahr 2007 eingeladen hatte. Im hohen Atrium des Museums platzierte sie eine überdimensionale rotierende schwarz-weiße Scheibe, die das Publikum nicht nur betreten, sondern auch von oben betrachten konnte. Damals stellte Marina Apollonio zusammen mit Victor Vasarely, Bridget Riley, François Morellet, Julio Le Parc und Gianni Colombo aus. Zuletzt hatte sie einen großen Auftritt zur Kunstbiennale 2022 in Venedig, an den im Katalog ein Interview mit der Kuratorin der damaligen Hauptausstellung „The Milk of Dreams“ Cecilia Alemani erinnert. In der Sektion „Technolgies of Enchantment“ präsentierte Marina Apollonio neben Dadamaiano, Lucia di Luciano, Laura Grisi, Grazia Varisco und Nanda Vigo ihre Reliefstrukturen der Jahre 1968 bis 1970, wie sie Peggy Guggenheim sammelte. Im damaligen Biennale-Katalog bescheinigt man ihrem Werk eine „striking freshness“. Diese markante Frische bestätigt sich auch in der Venezianer Ausstellung und ist bemerkenswert für die einzige Künstlerin aus der Sammlung Peggy Guggenheims, die noch lebt.

Service

AUSSTELLUNG

„Marina Apollonio: Über den Kreis“

im Peggy Guggenheim Venedig

bis 3. März 2025

guggenheim-venice.it

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