In Baden-Baden zeigt das Museum Frieder Burda die erste große Retrospektive des Künstlers Yoshitomo Nara in Deutschland
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22.11.2024
Der Blick und die bestechend großen Augen dieser puppenhaften Figuren ziehen einen in den Bann. In bunten Hemden stehen sie im meist leeren Raum und sprechen mit ihrer Haltung oder dem eindringlichen Ausdruck für sich. Gemalt hat sie der Künstler Yoshitomo Nara, der 1959 in der japanischen Präfektur Aomori, etwa 700 Kilometer von Tokio entfernt, geboren wurde. In die einsame Natur zog er sich seit seiner frühen Kindheit zurück, als seine Eltern und Geschwister keine Zeit mehr für ihn fanden.
So verbrachte er viel Zeit allein. Sein Heimatort im Norden Japans ist für seine weiten Schneetreiben bekannt. Sie brachten den jungen Künstler auf andere Gedanken: „Diese leere, weiß bedeckte Welt ist für mich eine Quelle der Einbildungskraft“, erzählt er. Schnell stieß er auf den Radiosender der nahegelegenen amerikanischen Air Base, wodurch er, wohlgemerkt ohne Englischkenntnisse, die Country- und Rockmusik kennen und lieben lernte. Eine tiefe Verbundenheit zur Musik und ihren Plattencovern wie auch die frühe Einsamkeit spielen bis heute einen wichtigen Part in seinem künstlerischen Schaffen. Besonders der Punk der 1970er- und 1980er-Jahre hat es ihm angetan: „Ich mag Punk nicht nur als Musik, sondern auch als Symbol der Unabhängigkeit. Oder einfach wegen der Musik: schlicht, direkt. Sie verwenden nur das Nötigste, ohne zu viele Elemente. Vielleicht so wie meine Bilder“, sagt er. Wer sich die musikalische Untermalung seines Schaffensprozesses anhören will, findet hier die von ihm zusammengestellte Playlist zur Ausstellung im Museum Frieder Burda.
1988, mit gerade einmal 20 Jahren schrieb er sich an der Düsseldorfer Akademie ein. Sein Lehrer A. R. Penck gilt in den 1970er-Jahren als einer der führenden Vertreter des deutschen Neo-Expressionismus. Seine Kunst zeichnet sich vor allem durch sein zugängliches Bildvokabular aus, die seine Sicht auf deutsche Geschichte, Politik und zeitgenössisches Leben transporiert. Auf Pencks Impuls hin verband Nara die beiden Disziplinen Malen und Zeichnen miteinander und entwickelte dadurch seinen charakteristischen und bis heute ausdrucksstarken Stil. Zwölf Jahre verbringt er in Deutschland und arbeitet, der Sprachbarriere geschuldet, in relativer Einsamkeit an seiner Bildsprache. Wie seine schlaflosen Nächte aussahen, dokumentiert er in seinem Werk „Sleepless Night (Sitting)“.
Naras ikonische Figuren stehen sinnbildlich für seine pazifistische, sozialkritische und weltoffene Haltung, die sich zusätzlich durch die intensive Auseinandersetzungen mit der Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg zusammensetzt. Seine politischen Botschaften schreibt er wie bei seinem Werk „No War“ auch plakativ auf die Kleider seiner Figuren. Das Motiv der „Angry Girls“, obwohl Nara seine Figuren androgyn anlegt, erlangte 1991 bei der jährlichen Rundschau der Düsseldorfer Akademie erstmals europaweit Aufmerksamkeit. Sein Schlüsselwerk „The Girl with the Knife in her Hand“ wurde dort ausgestellt. Es zeigt ein kleines Kind in knallrotem Kleid und Mütze mit herausfordernden grünen Augen, die einen in die komplexe, wie auch rebellische Psychologie eintauchen lassen. In der kleinen herabhängenden Hand trägt es das Messer, doch die Größe und hautähnliche Farbigkeit ziehen keinen Fokus auf das titelgebende Detail. Der verwaschene violett-blaue Hintergrund lassen das Mädchen in einem mystischen Raum schweben. Nara selbst beschreibt seine Hintergründe als etwas, dass seine Befreiung mit Orten widerspiegelt und aus einer Konfrontation mit sich selber entstehen.
Die Proportionen seiner Figuren erinnern an die Bildsprache von Comics oder Mangas, weshalb er ab 2000 als Vertreter der japanischen Kunstbewegung Superflat an internationaler Bekanntheit erlangt. Die Bewegung lässt Hoch-, Sub- und Alltagskultur miteinander verschmelzen und entwickelt dadurch eine neue Art der Ästhetik, die ähnlich der amerikanischen Pop-Art wirkt.
2014 folgte er den Spuren seines Großvaters nach Sachalin, der in der nördlich von Japan gelegenen Stadt in Russland im Kohlebergbau arbeitete. Während der zehntägigen Reise dokumentierte er in der Serie „Sakhalin“ verfallende Bauten, leuchtend grüne Vegetationen und junge lebensvolle Menschen. Die Fotografie „Bob-Haired Nivkh Girl“ zeigt das Porträt eines kleinen Kindes, welches die Betrachtenden auf Augenhöhe mit durchdringend-konzentriertem Blick anstarrt. Der lange Pony und Bob-Haarschnitt mit dem starken Ausdruck erinnern stark an die von Nara gemalten Mädchen. Mit den Aufnahmen zeigt er seine Perspektive auf das Unheil des japanischen Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus sowie die kapitalistische Ausbeutung natürlicher Ressourcen der Region.
Im Jahr 2000 kehrte er schlussendlich wieder nach Japan zurück, wo er bis heute lebt. In seinem Heimatort wie auch in anderen Museen des Landes erfuhr seine Kunst bereits große Aufmerksamkeit. Die von ihm mit kuratierte Ausstellung in Baden-Baden „Yoshitomo Nara“ macht einen Rundumschlag seiner vier Jahrzehnte Schaffenszeit und gibt durch die chaotisch wirkende Hängung, sowie die Kombination aus Malerei, Installation und Zeichnungen einen tiefen Einblick in Naras kreative und ästhetische Wahrnehmung. Denn letztlich ist auch er noch auf der Suche und versucht „nach wie vor den Sinn des Lebens zu finden“.
„Yoshitomo Nara“
im Frieder-Burda-Museum, Baden-Baden
bis zum 27. April 2025