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Hans Ulrich Obrist in Neapel

Fotografien von Mimmo Jodice und Installationen von Gian Maria Tosatti in Neapel, wo sich dank des Madre, des zeitgenössischen Museums, viel tut

Von Christoph Amend
01.09.2016

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?
Wir können über Neapel sprechen, da war ich gerade. Aus Südeuropa kommt ja insgesamt eine neue Energie, ein neuer Optimismus, zum Beispiel aus Portugal, auch aus Spanien. Und in Neapel tut sich künstlerisch sehr viel. Wie immer liegt das vor allem an einem Museum.

Warum wie immer?
Sie können das überall beobachten: Wenn eine Stadt ein dynamisches Museum hat, wirkt es wie ein Motor für das kulturelle Leben. In Neapel ist es das Madre, das der junge Direktor Andrea Viliani seit ein paar Jahren auf hochinteressante Weise leitet.

Was hat Sie begeistert?
Vor allem die Ausstellung des 82-jährigen Fotografen Mimmo Jodice: Es könnte keine bessere Einführung in die jüngere Geschichte Neapels geben als seine Bilder. Er hat bereits in den Sechzigerjahren mit konzeptioneller Fotografie experimentiert, inspiriert von den russischen Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts, Fotografie ohne Film, Camera obscura, chemische Prozesse, ganz ähnlich wie die Experimente von Sigmar Polke zur gleichen Zeit.

Was hat das mit Neapels Geschichte zu tun?
Jodice hat sich parallel zu diesen Experimenten auch früh der sozialen Frage genähert. Er hat die Armut Neapels fotografiert, das Leiden in Krankenhäusern dokumentiert. Als sozialer Fotograf ist er bekannt geworden, es gibt Tausende Bilder. Irgendwann in den Siebzigerjahren geschah dann ein Wandel: Auf einmal verschwinden die Menschen aus seinem Werk. Plötzlich zeigt er metaphysische Stadtlandschaften, beinahe post-apokalyptisch. Kokoschka hat ja einmal von der Schwierigkeit gesprochen, das Porträt einer Stadt zu malen, weil die Stadt sich den Versuchen entzieht, in einem Bild zusammengefasst zu werden.

Wie entzieht sich die Stadt?
Kokoschka sagt: Wenn das Bild, das man malt, fertig ist, hat sich die Stadt schon wieder verändert. Jodice gelingt das trotzdem – auf besondere Weise. Er porträtiert seine Heimatstadt wie kein anderer Fotograf. Parallel dazu werden im Madre Zeichnungen von Camille Henrot gezeigt, der französischen Künstlerin, die auch in Deutschland mittlerweile sehr bekannt ist. Ich habe auch den jungen Künstler Gian Maria Tosatti besucht, für meinen Instagram-Account hat er ein Post-it geschrieben mit dem Satz: „We are the last line of defence.“ Er hat sich fünf, sechs Orte in Neapel angeeignet, leer stehende Häuser. Eine besondere Erfahrung: Man geht die Treppen eines der Häuser hoch und fragt sich die ganze Zeit: Wo ist hier die Kunst? Dann kommt man oben an, und als Erlösung hat Tosatti dort einen Altar auf einem Sandboden aufgebaut. Drumherum fliegen Vögel. Diese Stadtexperimente werden im kommenden Winter in einer Ausstellung im Madre zu sehen sein. Außerdem hat die Galerie Alfonso Artiaco die bisher größte Übersichtsschau des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama gezeigt, über den wir schon mal sprachen. Es sind neue Skulpturen, Keramiken, Zeichnungen von ihm zu sehen, die er während seiner politischen Arbeit anfertigt! Sogar eine Tapete mit seinen Zeichnungen.

Warum waren Sie eigentlich in Neapel?
Ich habe auf Stromboli Urlaub gemacht, ich war übrigens das erste Mal auf dem Vulkan. Die Wanderung dauert drei Stunden, oben kann man den Sonnenuntergang sehen und dann auf der Asche herunterrutschen, so als ob man Ski fährt. Mich als Schweizer hat das natürlich besonders begeistert.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich lese gerade den neuen Roman von T. C. Boyle, „The Terranauts“. Er beschäftigt sich mit dem Experiment Biosphere 2 aus den Neunzigerjahren, das beweisen wollte, das man ein eigenständiges Ökosystem schaffen kann. 

Service

Abbildung oben

MADRE · museo d’arte contemporanea Donnaregina, Napoli,
Ingresso,
Foto: Amedeo Benestante,
Courtesy Fondazione Donnaregina per le arti contemporanee, Napoli

INFO

Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst

Dieser Artikel erschien in

WELTKUNST Nr. 119/2016

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