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Hans Ulrich Obrist in São Paulo

Auf der Biennale von São Paulo das literarische und visuelle Werk des 90-jährigen Wlademir Dias-Pino, einer Vaterfigur für die Generation der Internet-Ära

Von Christoph Amend
27.09.2016

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?
Guten Morgen erst mal!

Guten Morgen? Hier in Berlin ist es 12 Uhr mittags – wo erreiche ich Sie?
In New York, ich bin gerade aufgewacht, kein Problem. Ich möchte über São Paulo reden, dort war ich gerade und habe die großartige Biennale von Jochen Volz gesehen.

Was ist daran so großartig gewesen?
Es geht diesmal um den Begriff der Ungewissheit: „Incerteza viva“. Was Jochen Volz frei mit „Es lebe die Ungewissheit!“ übersetzt hat. Ungewissheit herrscht ja derzeit überall auf der Welt, politisch wie ökonomisch. Es scheint fast die Grundbedingung unserer Zeit zu sein. In der Kunst spielt das Ungewisse immer schon eine wichtige Rolle, deshalb ist es interessant zu sehen, dass Kunst nicht nur einen Umgang mit der Ungewissheit zeigen, sondern auch Hoffnung geben kann.

Welche Kunst war am interessantesten?
Zum einen gab es viele junge Talente, aber auch eine Reihe von Wiederentdeckungen. Der 90-jährige Wlademir Dias-Pino war mein Highlight. Er hat ein unglaublich poetisches Universum geschaffen, hat sich mit visueller Poesie und konkreter Kunst beschäftigt. Er hat die Gruppe „Process Poem“ mitgegründet und ist zwischen Rio de Janeiro und Cuiabá gependelt. In den Sechzigerjahren war er außerdem einflussreich als politischer Aktivist und hat Gedichte geschrieben.

Was ist das Besondere an seinen Gedichten?
Sie haben nie einen Anfang und nie ein Ende. Jedes Gedicht ist ein Prozess, bei dem der Leser beteiligt ist. Seine Arbeit vollständig zu dokumentieren erscheint fast unmöglich, weil es so viel ist! In den 1940ern hat er eine erste Gruppe gegründet, die „Intensi­visten“, die mit der Moderne des frühen
20. Jahrhunderts gebrochen haben und später eng verbunden waren mit den Avant­garden der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Es ging bei ihnen um das Spannungsfeld zwischen Kunst, Literatur und Grafikdesign. Er hat auch früh eigene Logos entwickelt.

Das klingt sehr zeitgemäß.
Ja, eigentlich kennt man solche Künstler eher aus unserer Zeit, der Internet-Ära. In ­diesem Sinne ist er eine Vaterfigur für die ­junge Generation.

Sie wirken sehr begeistert.
Oh ja! Dazu kommt, dass Wlademir ­Dias-Pino Hunderttausende Bilder nicht nur archiviert, sondern in ein System aus Bild- und Textzuordnungen gebracht hat. Sein Raum auf der Biennale, zeigt sein schriftstellerisches und visuelles Werk. Er bringt beides zusammen, fast so wie vor 100 Jahren die Dada-Bewegung. Übrigens ist ein deutscher Kurator, Tobi Maier, wesentlich an der Wiederentdeckung von Dias-Pino beteiligt. Er hat auch den Biennale-Raum kuratiert. Darf ich noch etwas sagen zu diesem Künstler?

Nur zu.
Seine Gedichte werden perforiert und gefaltet präsentiert. Sie können das auch auf meinem Instagram-Account sehen. Ich bitte ja immer die Künstler, die ich treffe, um einen Beitrag – er hat ein Post-it genommen und es zu einer Skulptur gefaltet! (1) Seiten in seinen Büchern haben oft Löcher, durch die man schon die nächsten Seiten sehen kann, die wiederum farblich unterschiedlich bedruckt sind. Man liest seine Bücher nicht linear, sondern zirkulär. Mich hat das erinnert, wie ich als Gymnasiast den Kybernetiker Heinz von Foerster besuchte: Wir haben uns damals über die Idee, dass sich Gedichte selbst generieren, unterhalten – so wie im Werk von Wlademir Dias-Pino.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich habe in Brasilien Bücher des Philosophen und Übersetzers Peter Pál Pelbart gekauft. Das Faszinierende daran: Einige sind gestempelt, andere haben Spuren von Verbrennungen oder sind mit Skizzen versehen. Jedes einzelne Exemplar ist ein Original.

Service

Abbildung oben

Wlademir Dias-Pino Raum auf der Biennale in São Paulo (Foto: Foto: Ilana Bar/ Estúdio Garagem/ Fundação Bienal de São Paulo)

Info

Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst

Dieser Artikel erschien in

WELTKUNST Nr. 120/2016

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