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Hans Ulrich Obrist in Athen

Künstler und Software-Ingenieure, die sich in Paris austauschen; Andreas Angelidakis und Nanos Valaoritis, die in Athen „Cadavre Exquis“ spielen

Von Christoph Amend
07.12.2016

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?

Ich habe interessante Dinge in Griechenland gesehen, aber zuvor noch ein paar Sätze zu Paris, wo ich gerade herkomme, von einer Konferenz des Google Cultural Insti­tute. Da ging es um Machine Learning, um künstliche Intelligenz, und ich habe dort Panels veranstaltet, die jeweils einen Künstler oder Architekten mit einem Ingenieur zusammenbringen. Inspiriert von Billy Klüvers „Arts and Technology“-Programm in den Sechzigerjahren, als er im Auftrag der Telefonfirma Bell zum Beispiel Jean Tinguely und Robert Rauschenberg mit Technikern des Konzerns zusammenbrachte und ganz neue Projekte entstanden.

Bell war eine Art Google seiner Zeit.

Exakt. Wir haben jetzt etwa Hito Steyerl mit dem Ingenieur Mike Tyka zusammengebracht und Rachel Rose mit Kenric McDowell. Und dann ist beim Mittagessen etwas Unerwartetes passiert: Ich saß mit meinem Kollegen, dem Kurator und Digitalexperten Ben Vickers, und dem Künstler James Bridle zusammen, und auf einmal fragte mich Ben, wieso ich bei meinem Handschriftenprojekt auf Instagram …

… wo Sie handschriftliche Notizen und Zeichnungen von Künstlern sammeln …

… eigentlich nicht den „Cadavre Exquis“ wieder einführe. Das alte surrealistische Spiel, wo man ein Blatt drei-, viermal faltet, und jemand schreibt oder zeichnet etwas, ohne zu wissen, was der Vorgänger geschrieben oder gezeichnet hat. 

Warum heißt das Spiel eigentlich „Cadavre Exquis“, köstliche Leiche? 

Laut André Breton war der erste gebildete Satz des Spiels: „Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken.“

Sie führen das Projekt jetzt als „Exquisite Corps“ auf Instagram fort?

Wir haben gleich beim Mittagessen damit angefangen: Der erste neue „Exquisite Corps“ (Abb.) ist von Hito Steyerl, James Bridle und Mike Tyka. Ist das nicht komisch, dass wir ausgerechnet Google und eine Konferenz über künstliche Intelligenz brauchten, um auf diese Low-Tech-Idee zu kommen? Anschließend sind Ben Vickers und ich nach Athen geflogen, weil wir dort für das kommende Frühjahr eine Maria-Lassnig-Ausstellung vorbereiten. 

Was verbindet Lassnig mit Athen?

Sie ist häufig nach Griechenland gereist und hat dort in den Ferien Aquarelle gemalt, überhaupt hat sie oftmals Motive aus der griechischen Mythologie in ihren Werken zitiert. Die Aquarelle wurden noch nie gemeinsam ausgestellt. Friederike Mayröcker hat den Titel für die Ausstellung gefunden: „Die Zukunft erfinden wir mit Fragmenten der Vergangenheit.“

Was haben Sie in Athen außerdem gesehen?

Sie wissen ja, dass ich jedes Mal, bevor ich in eine Stadt komme, frage: „Wer ist eure Louise Bourgeois?“ Damit meine ich: Wer ist der Pionier oder die Pionierin, die ich interviewen kann, um ein knappes Jahrhundert zu erzählen? In Athen wurde mir Nanos
Valaoritis empfohlen, ein wichtiger Surrealist, geboren 1921 in Lausanne, der mit der griechisch-amerikanischen Malerin Marie Wilson zusammenlebt. Ich hatte im Hinterkopf, dass Nanos mir bei unserer letzten Begegnung von seiner Freundschaft zu André Breton erzählt hatte. Vielleicht, dachte ich, hat Nanos auch „Cadavre Exquis“ gespielt – und genauso war es! Er hat es jahrzehntelang mit Freunden und in seiner Familie gespielt. Ich habe ihn gemeinsam mit dem griechischen Architekten Andreas Angelidakis besucht, und so ist in Athen die nächste Folge von „Exquisite Corps“ entstanden. Angelidakis hat mir seine neue Arbeit Parliament Of Bodies (1) gezeigt, das sind mobile Sitzgelegenheiten, die hart aussehen wie Stein, aber unglaublich weich sind – ein wunderschönes Oxymoron. Man kann auf ihnen sitzen, man kann sie ganz leicht verschieben, Mauern bauen, einfach alles.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunst? 

Ich bereite mich gerade auf einen Vortrag in New York vor und lese deshalb wieder die Bücher von Alexander Dorner, dem großen Museumsdirektor, den die Nazis aus Deutschland vertrieben haben. Er war ja besonders prägend in seiner Zeit in Hannover und ist 1937 in die USA emigriert. Besonders zu empfehlen ist sein Buch „The Way Beyond Art“ – „Die Überwindung der Kunst.“

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