Christoph Amend befragt jeden Monat den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen. Im Februar geht es um digitale Atelierbesuche, Kunst der Native Americans und den haitianischen Dichter René Depestre
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02.02.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 181
Ich muss mich zunächst entschuldigen, dass unser Telefonat heute erst so spät stattfindet. Ich habe bis eben gerade ein langes Gespräch mit der Künstlerin Katharina Grosse und dem Architekten Frank Gehry geführt …
… über Zoom, nehme ich an …
… ja, genau, und es hatte sich alles etwas verspätet, aber am Ende war es großartig.
Man hört es bereits an Ihrer begeisterten Stimme!
Die beiden waren sich noch nie zuvor begegnet. Wie Sie wissen, bringe ich ja gern Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Und die beiden hatten sich viel zu sagen, wir haben uns beispielsweise darüber unterhalten, wie wichtig Überraschungen in den eigenen Arbeiten sind, wie der mit Gehry befreundete Jazzmusiker Wayne Shorter einmal sagte, dass man sie in der Kunst, dem noch nicht Erfundenen, nie proben kann. Aber das nur als Erklärung für meine Verspätung. Wir wollen ja über etwas anderes reden.
Darüber, was Sie gesehen haben.
Eine Frage in einem schwierigen Moment, wir befinden uns ja alle im härtesten Lockdown. Ich habe bereits beim ersten Lockdown festgestellt, dass ich meine Arbeit ohne Atelierbesuche bei Künstlerinnen und Künstlern im Grunde nicht fortsetzen kann, und hatte deshalb die Idee, es mit digitalen Atelierbesuchen über Zoom zu versuchen. Das klappte erstaunlich gut, auch wenn es eine wirkliche Begegnung nicht ersetzen kann. Die amerikanische Künstlerin Willa Nasatir, Jahrgang 1990, habe ich vor Kurzem besucht und Kiyan Williams, 1991 geboren, ebenfalls in den USA, wo ich zurzeit nicht hinreisen kann. Und in Los Angeles war ich per Zoom im Studio von Alake Shilling, Jahrgang 1993, sie arbeitet mit Malerei und Skulptur und erfindet eigene Figuren.
Wie unterscheiden sich die digitalen Atelierbesuche von den analogen?
Besucht man das Atelier eines Malers oder einer Malerin, riecht man die Farben. Dieser Geruch fehlt auf Zoom natürlich, auch das Taktile, die physische Begegnung mit dem Werk, die Vibes. Der Zoom-Atelierbesuch ist also eine Art Prélude für den eigentlichen Besuch. Aber interessanterweise hat es etwas sehr Intimes, wenn ein Maler oder eine Malerin einen mit dem Tablet durch die Studioräume führt. Ich möchte noch von einem besonderen Besuch erzählen, bei Jaune Quick-to-See Smith. Sie ist 1940 geboren und die erste indigene Künstlerin in den USA, von der die National Gallery in Washington eine Arbeit gekauft hat – erst im vergangenen Jahr! Was zeigt, wie sehr die indigene Kultur in den USA vernachlässigt worden ist. Jaune Quick-to-See Smith hat seit den 1970er-Jahren abstrakte Malerei und Drucke geschaffen, auch Slogans geprägt. Sie ist Mitglied der Konföderierten Salish- und Kootenai-Nation in Montana.
Welche Arbeit hat die National Gallery in Washington gekauft?
Das Gemälde I See Red: Target von 1992. Jaune Quick-to-See Smith beschäftigt sich mit der Ankunft von Christoph Kolumbus in Amerika …
… die ja zur Folge hatte, dass die indigenen Völker ihr Land verloren.
Sie zeigt mit ihrem Bild, dass der Mythos von den kriegerischen Ureinwohnern, der lange erzählt wurde, überhaupt nicht stimmt. Sehr stark sind übrigens auch ihre Landkarten, zum Beispiel »State Names« von 2000, da zeigt sie ein Amerika ohne die Staaten, die keine indigene Geschichte haben – so wie es früher war. Zu sehen sind Idaho oder Arizona, aber entsprechend kein New York.
Wie lief der Besuch bei Jaune Quick-to-See Smith?
Auch wenn ich es vermisst habe, die Bilder dreidimensional zu sehen, war es aufregend, ihre Skulpturen zu sehen, ihr Archiv. Die digitalen Besuche sind eine neue, faszinierende Erfahrung.
Sie schauen plötzlich über die Kamera, die von der Künstlerin geführt wird, auf ihr Werk, nicht wie sonst mit Ihrem eigenen Blick.
Das stimmt. Und selbst wenn das Gerät nicht von der Künstlerin, sondern von Mitarbeitenden geführt wird, sehe ich bei dem Rundgang nicht mehr die Künstlerin, sondern das Werk.
Und womit beschäftigen Sie sich derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich bin vor Kurzem auf den haitianischen Dichter René Depestre gestoßen. Er hat mit 19 sein erstes Buch veröffentlicht, das ihn ins Exil gezwungen hat. Er wurde später von Che Guevara nach Kuba eingeladen, und hat lange dort gelebt. Heute wohnt er in Frankreich. Ich kann seinen Gedichtband »Rage de Vivre« sehr empfehlen.