ist stellvertretender Chefredakteur der WELTKUNST und von KUNST UND AUKTIONEN. Er kommentiert, was ihn aufregt oder erfreut im Kunstbetrieb.
Zum Blogist Chefredakteur des ZEITmagazins und Herausgeber von WELTKUNST und KUNST UND AUKTIONEN. Jeden Monat befragt er den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen.
Zum Blogist Style Director des ZEITmagazin. Er stellt jeden Monat herausragende Leistungen der Handwerkskunst vor.
Zum BlogAnnegret Erhard ist ehemalige Chefredakteurin von KUNST UND AUKTIONEN. Den Markt beobachtet sie seit vielen Jahren.
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Zu ihrem zehnten Jubiläum hat sich die Edelobstbrennerei Stählemühle Flakons der Porzellanmanufaktur Nymphenburg gegönnt
Von
25.10.2016
Edelbrände und Weine werden in unserem Kulturkreis normalerweise in Glasflaschen gelagert. In Japan hingegen reift der Reiswein Sake in Porzellangefäßen. Das ist ein feiner Unterschied, das Porzellan hat größere Poren als das dichtere Glas, es kann ein besserer Mikroaustausch von Sauerstoff mit der Umwelt stattfinden. Trotzdem gibt es kaum Flakons aus Porzellan in der Welt des Alkohols.
Die Brennerei Stählemühle hat nun zu ihrem zehnten Jubiläum zusammen mit der Münchner Porzellanmanufaktur Nymphenburg eine besondere Jubiläumsedition von Bränden aus Kornelkirsche, sizilianischer Blutorange und Konstantinopler Apfelquitte geschaffen. Sie sind abgefüllt in Flakons aus handgefertigtem mattweißen Biskuitporzellan. Die Flakons tragen ein schwarzweißes Dekor historischer botanischer Darstellungen, das wie Tuschezeichnungen von Hand aufgemalt wird.
Die Ästhetik liegt Christoph Keller, dem Chef der Brennerei Stählemühle, im Blut. Schließlich war er vor seiner Karriere als Schnapsbrenner Kunstverleger. Er hatte 2004 das Anwesen „Stählemühle“ am Bodensee übernommen und dort ein altes Brennrecht vorgefunden, das er wiederbelebte. Schon wenige Jahre später wurde er vom Gault Millau zu einem der zehn besten Destillateure der Welt erklärt.
Eine gute Schnapsflasche aus Porzellan zu fertigen ist allerdings nicht leichter, als einen perfekten Schnaps zu machen. Die Porzellanmasse wird im Hause Nymphenburg aus Feldspat, Quarz und Caolin von Hand angerührt und kann erst nach einem langem Reifungsprozess verwendet werden. Von den Flaschen, die in diesem Fall sechseckig sind, mit einem hervorgehobenen Schriftzug Aqua Vitae, wird ein Modell gefertigt. Anhand des Modells werden wiederum Gußformen aus Gips hergestellt. In jene wird anschließend die Porzellanmasse eingegossen. Der Gips entzieht der sogenannten Schlickermasse das Wasser, sodass sich bald an den Wänden der Form eine feste Schicht ansetzt. Der Rest der Masse wird ausgegossen. Wenn die Porzellanmasse getrocknet ist, werden die Formen geöffnet.
Mehrere Brennvorgänge sind notwendig, um aus dem Rohling ein fertiges Produkt zu machen. Aus dem ersten Brennvorgang bei etwa 1000 Grad kommt der Rohling porös und beträchtlich geschrumpft heraus. Nach einem weiteren, noch heißeren Brennvorgang ist das Porzellan verdichtet. Beim letzten Brand wird die Lasur fixiert. Anschließend kann das schwarze Dekor auf die Flasche gemalt werden.
Die Schnapsflakons sind aus sogenanntem Biskuitporzellan, das nur dort, wo Dekor aufgetragen wird, glasiert werden muss und wegen seiner matten Struktur besonders edel aussieht. Die offene Oberfläche des Porzellans hat allerdings noch einen weiteren Vorteil. Wegen ihr kann der schlussendlich darin abgefüllte Edelbrand in den dreimal 32 Flakons der Sonderedition atmen und angenehm reifen. Über viele, viele Jahre hinweg. Allerdings sind die Brände der Stählemühle so begehrt, dass man ihnen kaum diese Zeit zugestehen dürfte.
Sammy Hart / Porzellanmanufaktur Nymphenburg
Auf der Biennale von São Paulo das literarische und visuelle Werk des 90-jährigen Wlademir Dias-Pino, einer Vaterfigur für die Generation der Internet-Ära
Von
27.09.2016
Herr Obrist, was haben Sie gesehen?
Guten Morgen erst mal!
Guten Morgen? Hier in Berlin ist es 12 Uhr mittags – wo erreiche ich Sie?
In New York, ich bin gerade aufgewacht, kein Problem. Ich möchte über São Paulo reden, dort war ich gerade und habe die großartige Biennale von Jochen Volz gesehen.
Was ist daran so großartig gewesen?
Es geht diesmal um den Begriff der Ungewissheit: „Incerteza viva“. Was Jochen Volz frei mit „Es lebe die Ungewissheit!“ übersetzt hat. Ungewissheit herrscht ja derzeit überall auf der Welt, politisch wie ökonomisch. Es scheint fast die Grundbedingung unserer Zeit zu sein. In der Kunst spielt das Ungewisse immer schon eine wichtige Rolle, deshalb ist es interessant zu sehen, dass Kunst nicht nur einen Umgang mit der Ungewissheit zeigen, sondern auch Hoffnung geben kann.
Welche Kunst war am interessantesten?
Zum einen gab es viele junge Talente, aber auch eine Reihe von Wiederentdeckungen. Der 90-jährige Wlademir Dias-Pino war mein Highlight. Er hat ein unglaublich poetisches Universum geschaffen, hat sich mit visueller Poesie und konkreter Kunst beschäftigt. Er hat die Gruppe „Process Poem“ mitgegründet und ist zwischen Rio de Janeiro und Cuiabá gependelt. In den Sechzigerjahren war er außerdem einflussreich als politischer Aktivist und hat Gedichte geschrieben.
Was ist das Besondere an seinen Gedichten?
Sie haben nie einen Anfang und nie ein Ende. Jedes Gedicht ist ein Prozess, bei dem der Leser beteiligt ist. Seine Arbeit vollständig zu dokumentieren erscheint fast unmöglich, weil es so viel ist! In den 1940ern hat er eine erste Gruppe gegründet, die „Intensivisten“, die mit der Moderne des frühen
20. Jahrhunderts gebrochen haben und später eng verbunden waren mit den Avantgarden der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Es ging bei ihnen um das Spannungsfeld zwischen Kunst, Literatur und Grafikdesign. Er hat auch früh eigene Logos entwickelt.
Das klingt sehr zeitgemäß.
Ja, eigentlich kennt man solche Künstler eher aus unserer Zeit, der Internet-Ära. In diesem Sinne ist er eine Vaterfigur für die junge Generation.
Sie wirken sehr begeistert.
Oh ja! Dazu kommt, dass Wlademir Dias-Pino Hunderttausende Bilder nicht nur archiviert, sondern in ein System aus Bild- und Textzuordnungen gebracht hat. Sein Raum auf der Biennale, zeigt sein schriftstellerisches und visuelles Werk. Er bringt beides zusammen, fast so wie vor 100 Jahren die Dada-Bewegung. Übrigens ist ein deutscher Kurator, Tobi Maier, wesentlich an der Wiederentdeckung von Dias-Pino beteiligt. Er hat auch den Biennale-Raum kuratiert. Darf ich noch etwas sagen zu diesem Künstler?
Nur zu.
Seine Gedichte werden perforiert und gefaltet präsentiert. Sie können das auch auf meinem Instagram-Account sehen. Ich bitte ja immer die Künstler, die ich treffe, um einen Beitrag – er hat ein Post-it genommen und es zu einer Skulptur gefaltet! (1) Seiten in seinen Büchern haben oft Löcher, durch die man schon die nächsten Seiten sehen kann, die wiederum farblich unterschiedlich bedruckt sind. Man liest seine Bücher nicht linear, sondern zirkulär. Mich hat das erinnert, wie ich als Gymnasiast den Kybernetiker Heinz von Foerster besuchte: Wir haben uns damals über die Idee, dass sich Gedichte selbst generieren, unterhalten – so wie im Werk von Wlademir Dias-Pino.
Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich habe in Brasilien Bücher des Philosophen und Übersetzers Peter Pál Pelbart gekauft. Das Faszinierende daran: Einige sind gestempelt, andere haben Spuren von Verbrennungen oder sind mit Skizzen versehen. Jedes einzelne Exemplar ist ein Original.
Wlademir Dias-Pino Raum auf der Biennale in São Paulo (Foto: Foto: Ilana Bar/ Estúdio Garagem/ Fundação Bienal de São Paulo)
Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst
Erfolgreicher im Geldverdienen, mutiger im Geldausgeben: Wolfgang Ullrich analysiert das Zusammenspiel von Kunst-Superstars und Superreichen
Von
09.09.2016
Mit großer Leidenschaft und spitzer Feder seziert der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich fortdauernde Missstände im Hochpreissegment der zeitgenössischen Kunst. Der 160-Seiten-Essay „Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust“ (Verlag Klaus Wagenbach, 16,80 Euro) ist eine der anregendsten Neuerscheinungen des Jahres. Er befeuert die Diskussion über den Kunstbetrieb mit guten Argumenten.
Ullrich, Professor für Kunstgeschichte, der dem Universitätsbetrieb den Rücken gekehrt hat, um zu schreiben, liest nicht nur den Künstlern die Leviten, die leicht eingängige, aber exorbitant teure „Siegerkunst“ produzieren. Er kritisiert an dieser Kunst von Siegern für Sieger auch den Apparat, also die das Geschäft forcierenden Galeristen, Auktionatoren und Sammler. Die Superreichen suchen heute millionenschwere Kunst, mit der sie vor allem sich selbst repräsentieren können. Als perfekt auf diese Distinktionsbedürfnisse abgestimmt, führt Ullrich die Kunstkonfektion von Jeff Koons und Anselm Reyle vor, aber auch die Abstraktionen von Ólafur Elíasson, Katharina Grosse und Gerhard Richter. Ullrich geißelt, dass die Bedeutung von Kunst nur mehr über ihren astronomischen Preis entstehe und nicht mehr wie in der Moderne über den in der Komposition verdichteten Inhalt und seine Fähigkeit zur Transzendenz.
Die klassische Moderne hatte einst Kunst hervorgebracht, die weltverbessernd ideologisch war, Freiheit proklamierte, das Individuum meinte, auf Reinigung und Reflexion fixiert war. Heute aber fehlen Kritik und Tiefsinn, konstatiert Ullrich in seinem Abgesang auf die Moderne. Kunst habe keine ideelle Dimension mehr. Der Kunsthistoriker beobachtet sehr richtig, dass sie diese Leere mit dem Hang zum Superlativ kompensiert – etwa über teures Material, komplizierte Verarbeitung oder eben einen Weltrekordpreis im Auktionshaus. Die das Werk glorifizierende Katalogprosa aber entdeckt in der größten Banalität noch kritischen Geist. „Im Kauf von Siegerkunst kann der Superreiche also die Folgen seines kapitalistischen Agierens genießen und zugleich seine Unabhängigkeit von diesem beweisen, ja sich zum Kritiker von Profitstreben und Effizienzdenken stilisieren.“ In Ullrichs Gesellschaftsanalyse ist der Kauf von hochpreisiger Kunst dann eine doppelte Erhöhung. Er bringt es auf die schöne Formel: „Erfolgreicher als andere im Geldverdienen, mutiger als andere im Geldausgeben.“
Erfolgreiche Künstler verstehen sich heute als Marken, deren Image gehegt und gepflegt werden muss. Ullrich zeigt an den Beispielen von Gerhard Richter, Damien Hirst oder Takashi Murakami, wie diese Kritik und Rezeption peinlich genau steuern. Wie weit die Kontrolle geht, verdeutlicht auch Ullrichs Essay. Grau unterlegte Bildfelder markieren Werke, die abgebildet werden sollten, deren Rechteinhaber die Abdruckgenehmigung aber verweigerten. Da drängt sich dem Autor ein Vergleich der Siegerkunst mit Produkten der Luxusindustrie auf, bei denen die Marketingkosten die Herstellungskosten übersteigen.
Hart, aber viel zu kurz geht Ullrich mit den Museen ins Gericht. Denn die ehemaligen Gralshüter der Kunst hätten dem Paradigmenwechsel weg von kunsthistorischer Bedeutung hin zu finanzieller Potenz tatenlos zugesehen. Jenseits der Haltung des Lesers zu Ullrichs Thesen und seiner Marktschelte bleibt die große Frage, wie die Museen verlorenes Terrain zurückgewinnen können. Ob die einst kanonbildende Institution ihre alte Deutungsmacht wiedererlangen kann. In einer Epoche, in der Kunst nicht mehr eine Sache der Reflexion ist, sondern eine Frage des Geldes, ist das eine dringend nötige Diskussion.
Nix für ungut, Ihre Marktfrau.
Werner Murrer tauchte erst in die Geheimnisse der Renaissance ein, bevor er der „Sixtinischen Madonna“ einen neuen Rahmen baute
Von
01.09.2016
Für den Maler Georg Baselitz ist Raffaels „Sixtinische Madonna“ sein „meistgehasstes“ Bild, viel zu „süßlich“ sei es. Andere, wie Sachsens König August der Starke, setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu erwerben. Und auch die siegreiche Sowjetunion wollte es nach dem Zweiten Weltkrieg unbedingt in ihrem Besitz haben. Als die Madonna dann in den 1950er-Jahren zurück nach Dresden kam, hatte sie keinen schönen Rahmen mehr. Erst zum 500. Geburtstag des Bildes vor vier Jahren bekam sie einen solchen nachgebaut – von Werner Murrer. Er beschäftigt in seiner Werkstatt in München 15 Mitarbeiter und ist Spezialist für historische Rahmen.
Auf der Suche nach einer Vorlage musste Murrer lange recherchieren und Italien bereisen. In einer Kirche in Bologna wurde er schließlich fündig. Dort fand er einen vergoldeten Renaissance-Rahmen mit einem Raffael-Bild, das die gleichen Maße hatte wie die Madonna. Der ähnliche Rahmen wurde zuerst bis ins Detail untersucht. Neben dem Aussehen ist es wichtig, wie der Rahmen hergestellt wurde. Denn nur, wenn man ihn auf die gleiche Weise baut, wirkt er später authentisch – und nicht kitschig. Bei Renaissance-Rahmen muss man dabei erst mal eine gewisse Schlampigkeit erlernen. Die italienischen Rahmenbauer waren auf Effizienz und äußere Wirkung bedacht, weniger auf Haltbarkeit. So wurde der Grundrahmen aus billigem Pappelholz gebaut, von hinten war das Holz kaum bearbeitet. Solche Inperfektion müsse man nachempfinden, sagt Werner Murrer, sonst fehle dem Rahmen nachher der Charme. Zunächst wurde ein Grundrahmen aus Tölzer Pappelholz gebaut, anschließend wurden die auseinandernehmbaren Eckteile mit Holzdübeln verbunden. Wenn diese altern, bieten sie ein charakteristisches Bild, wie man es auch von alten Kleiderschränken kennt. Das erst bringt die richtige Spannung in die Konstruktion, sagt Murrer.
Später wurden darauf die mit festem Lindenholz geschnitzten floralen Ornamente angepinnt und aufgeleimt. Vor der Vergoldung muss erst ein Kreidegrund aufgetragen werden, dem ein Anstrich mit Tonerde folgt. Dann werden hauchdünne Goldblätter geschnitten und auf die Oberfläche aufgearbeitet. Diese wird mit einem Achat poliert, um den nötigen Glanz zu erreichen. Anschließend wird punziert. Dabei werden mit einem Hämmerchen und einem Eisen Effekte in die Goldoberfläche gedellt. Beim Rahmen der Madonna wurde dafür ein Punziereisen mit sieben Enden benutzt. Das sparte Zeit – zügig konnten so mehr als eine Million Punzierungen aufgebracht werden. Verschiedene Lasuren und Patinas vervollständigten das Werk, an manchen Stellen wurde die Goldschicht etwas abgerieben. So sieht der fünf Meter hohe Rahmen heute aus, als würde er schon seit Hunderten Jahren in der Gemäldegalerie hängen. Käme Baselitz vorbei, müsste er anerkennen, dass immerhin der Rahmen eine große künstlerische Leistung ist.
Fotografien von Mimmo Jodice und Installationen von Gian Maria Tosatti in Neapel, wo sich dank des Madre, des zeitgenössischen Museums, viel tut
Von
01.09.2016
Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?
Wir können über Neapel sprechen, da war ich gerade. Aus Südeuropa kommt ja insgesamt eine neue Energie, ein neuer Optimismus, zum Beispiel aus Portugal, auch aus Spanien. Und in Neapel tut sich künstlerisch sehr viel. Wie immer liegt das vor allem an einem Museum.
Warum wie immer?
Sie können das überall beobachten: Wenn eine Stadt ein dynamisches Museum hat, wirkt es wie ein Motor für das kulturelle Leben. In Neapel ist es das Madre, das der junge Direktor Andrea Viliani seit ein paar Jahren auf hochinteressante Weise leitet.
Was hat Sie begeistert?
Vor allem die Ausstellung des 82-jährigen Fotografen Mimmo Jodice: Es könnte keine bessere Einführung in die jüngere Geschichte Neapels geben als seine Bilder. Er hat bereits in den Sechzigerjahren mit konzeptioneller Fotografie experimentiert, inspiriert von den russischen Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts, Fotografie ohne Film, Camera obscura, chemische Prozesse, ganz ähnlich wie die Experimente von Sigmar Polke zur gleichen Zeit.
Was hat das mit Neapels Geschichte zu tun?
Jodice hat sich parallel zu diesen Experimenten auch früh der sozialen Frage genähert. Er hat die Armut Neapels fotografiert, das Leiden in Krankenhäusern dokumentiert. Als sozialer Fotograf ist er bekannt geworden, es gibt Tausende Bilder. Irgendwann in den Siebzigerjahren geschah dann ein Wandel: Auf einmal verschwinden die Menschen aus seinem Werk. Plötzlich zeigt er metaphysische Stadtlandschaften, beinahe post-apokalyptisch. Kokoschka hat ja einmal von der Schwierigkeit gesprochen, das Porträt einer Stadt zu malen, weil die Stadt sich den Versuchen entzieht, in einem Bild zusammengefasst zu werden.
Wie entzieht sich die Stadt?
Kokoschka sagt: Wenn das Bild, das man malt, fertig ist, hat sich die Stadt schon wieder verändert. Jodice gelingt das trotzdem – auf besondere Weise. Er porträtiert seine Heimatstadt wie kein anderer Fotograf. Parallel dazu werden im Madre Zeichnungen von Camille Henrot gezeigt, der französischen Künstlerin, die auch in Deutschland mittlerweile sehr bekannt ist. Ich habe auch den jungen Künstler Gian Maria Tosatti besucht, für meinen Instagram-Account hat er ein Post-it geschrieben mit dem Satz: „We are the last line of defence.“ Er hat sich fünf, sechs Orte in Neapel angeeignet, leer stehende Häuser. Eine besondere Erfahrung: Man geht die Treppen eines der Häuser hoch und fragt sich die ganze Zeit: Wo ist hier die Kunst? Dann kommt man oben an, und als Erlösung hat Tosatti dort einen Altar auf einem Sandboden aufgebaut. Drumherum fliegen Vögel. Diese Stadtexperimente werden im kommenden Winter in einer Ausstellung im Madre zu sehen sein. Außerdem hat die Galerie Alfonso Artiaco die bisher größte Übersichtsschau des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama gezeigt, über den wir schon mal sprachen. Es sind neue Skulpturen, Keramiken, Zeichnungen von ihm zu sehen, die er während seiner politischen Arbeit anfertigt! Sogar eine Tapete mit seinen Zeichnungen.
Warum waren Sie eigentlich in Neapel?
Ich habe auf Stromboli Urlaub gemacht, ich war übrigens das erste Mal auf dem Vulkan. Die Wanderung dauert drei Stunden, oben kann man den Sonnenuntergang sehen und dann auf der Asche herunterrutschen, so als ob man Ski fährt. Mich als Schweizer hat das natürlich besonders begeistert.
Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?
Ich lese gerade den neuen Roman von T. C. Boyle, „The Terranauts“. Er beschäftigt sich mit dem Experiment Biosphere 2 aus den Neunzigerjahren, das beweisen wollte, das man ein eigenständiges Ökosystem schaffen kann.
MADRE · museo d’arte contemporanea Donnaregina, Napoli,
Ingresso,
Foto: Amedeo Benestante,
Courtesy Fondazione Donnaregina per le arti contemporanee, Napoli
Christoph Amend, Herausgeber der WELTKUNST, befragt Hans Ulrich Obrist jeden Monat nach seinen Entdeckungen in der Kunst
Das New Yorker Atelier Two Palms hat Maschinen entwickelt, mit denen zeitgenössische Künstler die Druckgrafik neu entdecken
Von
10.08.2016
Kunst wird heute oft für einen kleinen Kreis von Sammlern hergestellt, die sich anschließend das Werk bestenfalls an die eigene Wand hängen oder aber gleich im Tresor verschwinden lassen. In Zeiten, da künstlerisches Schaffen derart exklusiv gehalten wird, ist es schwer vorstellbar, dass Kunst einmal reine Kommunikation bedeutete – und Künstler sich mit Freuden auf die Möglichkeiten gestürzt haben, ihre Werke vielen Menschen zugänglich zu machen. Albrecht Dürer erreichte mit dem Holzschnitt und Kupferstich eine Breitenwirkung seiner Motive. Er war der Erste, der seine Schnitte und Stiche auch zu Büchern binden ließ.
Noch Joseph Beuys dachte ähnlich – er signierte massenhaft Drucke und Einladungskarten, um unzählige Kunstwerke zu schaffen. Hätte Beuys einen zukunftsorientierten Berater gehabt, hätte der ihm diese Flausen schnell ausgetrieben. Denn massenhafte Zugänglichkeit tut dem Marktwert nicht gut. Einen echten Beuys kann man heute in Form einer signierten Postkarte bei Ebay für 100 Euro kaufen.
Heutzutage geht nichts mehr ohne Verknappung. Die unbegrenzte Reproduktion wird in der Kunst nicht mehr als Chance, sondern als Problem gesehen. Das macht Druckgrafiken für viele Sammler unattraktiv. Außer man erfindet die Druckmaschine neu. Nicht als Werkzeug für Vervielfältigung, sondern um Originale zu schaffen. Das Ergebnis sind Monoprints. Monoprints sind etwa eine Spezialität des New Yorker Studios Two Palms. Um solch einen Druck herzustellen, wird eine Druckplatte mit verschiedenen Schichten von Farben bepinselt. Dort besitzt man eine Druckerpresse, die ein Medium mit 750 Tonnen Gewicht bearbeiten kann – und somit völlig neue Bearbeitungsformen erschließt.
Der Monoprint-Prozess wurde über zwanzig Jahre von David Lasry zusammen mit dem Künstler Mel Bochner entwickelt, der für seine typografischen Arbeiten bekannt ist. Beide interessieren sich für die extreme Körperlichkeit des Druckprozesses. Die Druckplatten werden mithilfe eines leistungsstarken Lasers produziert. Er brennt die Motive in die Druckplatten. Gedruckt wird im Tiefdruckverfahren: Die Farbe sammelt sich in Vertiefungen auf der Platte und wird mit hohem Anpressdruck auf das Papier übertragen.
Bei Two Palms wird ein eigens in Indien hergestelltes dickes Büttenpapier verwendet. Das Papier wird zusätzlich mit Pigmentfarbstoffen gefärbt. Für einen einzigen Druck mischt Bochner bis zu 8 Kilogramm Ölfarbe an, die auf die Druckplatte aufgetragen werden. Die großen Papierbögen werden auf die vorbereiteten Platten gelegt. Unter dem extremen Druck reagieren die Farben wegen der verschiedenen Viskositäten der Pigmente unvorhersehbar. Manche Pigmente zerspringen förmlich. Das Zusammenspiel der Platte mit der Papierbeschaffenheit und den Eigenschaften der Farbe schafft ein sehr individuelles Ergebnis. Und so passiert etwas, das in unserer durchdigitalisierten Welt nur noch selten passiert: Der Künstler wird von seinem Werk selbst überrascht. Schade nur, dass man es nicht wiederholen kann.