Die Art Week in London bietet von 29. Juni bis 6. Juli erhellende Perspektiven
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20.06.2018
Deutsch und Englisch sind voller falscher Freunde – und die Rede sei hier nicht von Boris Johnson oder Theresa May, sondern bezieht sich hier auf die rein linguistische Ebene. „Sensible“, „pregnant“, „pathetic“, „iritate“, „decent“, „apart“, um nur einige Beispiele zu nennen, haben ins Deutsche übersetzt eine gänzlich andere Bedeutung – von den unsäglichen „Denglismen“ wie „Handy“, „Wellness“ oder „Overtourism“ einmal ganz abgesehen. „Texture“ (Textur) ist ein ganz ähnlicher Fall. Im Englischen umfasst das nämlich wesentlich mehr, erstreckt sich über zahlreiche zusätzliche, häufig unterschwellige, nur emotional greifbare Bedeutungsebenen, die ihm im Deutschen abgehen. Das Wort umfasst die Qualität eines Objekts, aber auch sein Material, die Oberfläche, seine Struktur, Bearbeitung und Beschaffenheit. Kunst spielt mit den Dimensionen, selten jedoch mit „texture“. Taktile Qualität spielt dabei vielleicht gerade noch für den Künstler und seinen Schaffensprozess eine größere Rolle. So gesehen ist „Texture“ die magische Ingredienz eines Kunstwerks, die Kunden, Betrachtern, Konsumenten eine zusätzliche, haptische Dimension erschließt – für Otto Normalverbraucher zugegebenermaßen weitestgehend unzugänglich – oder eher: unerschwinglich.
„Texture“ ist auch ein roter Faden, der sich durch die diesjährige London Art Week zieht, ein Strang, der sich immer wieder, manchmal offensichtlich und gewollt, manchmal subtil angedeutet, in den Ausstellungssujets, der gewählten Präsentation und natürlich den Objekten selbst verfolgen lässt. Die London Art Week findet dieses Jahr vom 29. Juni bis 6. Juli statt, also mitten in der Fußballweltmeisterschaft. Für den Fan (Fußball und Kunst – das gibt es doch!) ist genaue Terminplanung daher angeraten. Teilnehmer sind rund 40 internationale Galerien und Händler, häufig in Abstimmung mit ihren englischen Kollegen. Treffpunkt sind die Stadtteile von Mayfair und St. James, traditionell Standorte von Galerien des gehobenen Standards (mit entsprechen- den Preisen: nach oben offen, allerdings schon ab rund 1000 Pfund). Parallel und im Abschluss rufen die großen Häuser in ihren traditionellen Frühsommer-Auktionen Gemälde Alter Meister auf. Bei Ariadne Galleries, eigentlich Spezialist für antike Kunst, steht unter dem Thema „Texture“ die intentionelle, wenn auch im Entstehungsprozess bedingte, unvorhersehbare strukturelle Qualität von Richard Serras „Paintstick Drawings“ den natürlichen Strukturänderungen eines verwitterten hellenistischen Pferdekopfes gegenüber (Abb.). Patina kommt hier eine besondere Rolle zu: Sie verändert die Struktur und Oberflächenbeschaffenheit und verleiht somit zusätzlich Charakter und Authentizität.
Wie kaum ein anderes Material demonstrieren Textilien, ob gewoben, geknüpft, bestickt oder appliziert, die haptische Qualität von „Texture“. Sam Foggs Ausstellung spätmittelalterlicher und Renaissancetextilien ist eine beeindruckende und in Anbetracht des Alters der präsentierten Objekte erstaunliche Sammlung: Unter anderem eine toskanische Darstellung des wiederauferstandenen Jesus mit Maria Magdalena in Seide aus dem 15. Jahrhundert und eine weitere Maria Magdalena, diesmal mit einem bärtigen Propheten, Stickarbeit in Opus anglicum vom Beginn des 15. Jahrhunderts. Callisto Fine Arts zeigt „The sculptor’s idea: European Terracottas“, darin eine Stendhalbüste von Pompeo Marchesi. Bei Raccanello Leprince gibt es europäische Keramik, inszeniert als eine Gegenüberstellung literarischer Motive und ihrer Übersetzung ins Töpferische – am Beispiel einer runden Schale mit Äneas und Achates Abschied von den Trojanern vor Karthago.
Auch im traditionell außerordentlichen Angebot von Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafik Alter Meister gibt es immer wieder Neues zu entdecken. Bei Lowell Libson & Jonny Yarker in der Clifford Street etwa, wo die hierzulande stets etwas stiefmütterlich behandelte Epoche des englischen Barock mit über 100 Zeichnungen ihren Auftritt bekommt. Zeichnungen von den am Hofe Charles I. tätigen Isaac und Peter Oliver demonstrieren einmal mehr die seit jeher bestehende Wechselwirkung zwischen britischem und kontinentaleuropäischem Kunstbetrieb. Für den Liebhaber nordeuropäischer Kunst ist zweifelsohne das Angebot von Lowet de Wotrenge – in der Bury Street, ums Eck von Christie’s – ein weiteres Highlight. Hier gibt es nicht nur die kleinformatige „Allegorie von Luft und Feuer“, Teil einer Serie von ähnlichen Motiven und eine der zahlreichen Kollaborationen von Jan Brueghel dem Jüngeren und Frans Francken II. Leger wie Dorian Gray und leicht schwülstig im offenen Hemd präsentiert sich der Modeschöpfer Jacques Fath von Serge Ivanoff bei Bagshawe. Heute nur noch Insidern ein Begriff, kleidete er in den Dreißigern unter anderem die Garbo ein und fungierte als Kostümbildner für zahlreiche Hollywoodschinken der Zeit. Und wem das immer noch nicht Anreiz und Anlass genug ist: Zeitgleich zur London Art Week findet im Chelsea Royal Hospital vom 28. Juni bis 4. Juli die Masterpiece statt. Mit dem Taxi und bei passendem Verkehr sind das nur 20 Minuten Fahrzeit.
London Art Week
Diverse Galerien,
29. Juni bis 6. Juli
Kunst und Auktionen Heft Nr. 10 / 2018