In Landschaftsaufnahmen und Polaroids hielt der Filmemacher Wim Wenders in den Siebzigerjahren den Alltag zwischen Locationscouting und Hotelzimmern fest. Die Galerie Bastian zeigt seine Fotografien bis Ende Juni in einer Online-Ausstellung
Von
24.06.2020
In den Siebziger- und Achtzigerjahren fuhr Wim Wenders durch den Westen Amerikas auf der Suche nach Schauplätzen für seinen Film „Paris, Texas“. Auf den Roadtrips entstanden Fotografien von einsamen Straßenzügen, verlassenen Autokinos in der Wüste und sonnenbeschienenen Hausfassaden. Allesamt Orte, die auf melancholische Art romantisch und hochkünstlich wirken, ganz so, als hätte man sie eigens für Wenders als Kulisse aufgebaut.
In Vorbereitung für seine Filme fertigte Wenders immer wieder Fotografien an, von denen einige bis Ende Juni in einer Online-Ausstellung der Galerie Bastian zu sehen sind. Die Bilder sollten nicht in erster Linie ästhetisch komponierte Ansichten sein. Er verstand sie vielmehr als Übungsmedium, als praktisches Werkzeug, mit dem spielerisch Orte und Einstellungen getestet werden konnten. Statt Storyboard und Skizzenbuch klemmte er sich die Polaroid-Kamera unter den Arm und machte sich auf den Weg. Auch der soziale Aspekt des Sofortbildformats – die Tatsache, dass die Wirklichkeit aus dem Nichts auf Papier erscheint – faszinierte Wenders so stark, dass Polaroids immer wieder eine Rolle in seinen Filmen spielten. In „Alice in den Städten“ (1974) bringt ein Journalist von seiner Amerikareise nicht die gewünschte Reportage, sondern einen Stapel Sofortbilder mit, in „Der amerikanische Freund“ (1977) lässt Schauspieler Dennis Hopper in einer Schlüsselszene Sofortbilder auf sich herabregnen.
Begleitet von kurzen Anekdoten veröffentlichte Wenders seine Polaroids 2017 erstmals im Band „Sofort Bilder“. Bis 28. Juni zeigt die Galerie Bastian in der Online-Ausstellung „Wim Wenders – In Times of Solitude“ weitere Auszüge aus Wenders visuellen Notizen. Darunter: ein Selbstporträt im Mickey-Mouse-T-Shirt, eine verschwommene Annie Leibovitz, ein rauchender Dennis Hopper. Und immer wieder endlose Highways, Pancakes im Diner und leere Straßenecken, die seltsam vertraut wirken. Blickt man heute auf Wenders Bilder von damals, macht sich eine Nostalgie nach einem Gestern breit, das es so ruhig und frei vermutlich nie gegeben hat. Die Aufnahmen konservieren dank ihrer Patina ein besondere Lebensgefühl im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das versprach, allen Menschen gleichermaßen offenzustehen. In der Realität aber nie so grenzenlos war, wie es vorgab zu sein.
Die kleinen, scheinbar beiläufigen Polaroids stehen in Kontrast zu Wenders großformatigen, perfekt ausgeleuchteten, menschenleeren Landschaftsaufnahmen. Sie laden dazu ein, ganz nah in Szenen hineinzuzoomen und sich selbst in seinem Bildkosmos zu verorten. Die unendliche Weite, die diesen Bildern innewohnt, weckte in Wenders die Erinnerung an einen anderen Künstler, den er immer bewundert hatte: „Am frühen Morgen keine Seele auf den Straßen von Butte, Montana“, schreibt er in seinem Buch „Once“. „Es war, als wäre ich in mein Lieblingsgemälde von Edward Hopper gegangen: Early Sunday Morning, gemalt 1930. Und es war tatsächlich Sonntag.“ Hoppers Bildsprache begleitet Wenders bis heute. Für „Am Ende der Gewalt“ (1997) ließ der Regisseur die berühmte Bar aus dem Gemälde „Nighthawks“ nachbauen, im Film „Don’t Come Knocking“ (2005) zieht es einen alternden Western-Star in die Geisterstadt Butte. An ebenjenen Ort, wo jede Hauswand wirkt, als wäre sie von Hopper gemalt.
Anlässlich der aktuellen Hopper-Ausstellung der Fondation Beyeler begab sich Wenders noch einmal auf die Spuren des großen amerikanischen Realisten. Wer hätte die Sehnsucht und Einsamkeit des Malers, der in den vergangenen Monaten immer wieder als Illustrator des Corona-Lockdowns herhalten musste, besser filmisch einordnen können als Wenders? Sein 3-D-Kurzfilm „Two or Three Things I Know about Edward Hopper“ ist eine Hommage an die Erzählkraft, die in den Gemälden liegt. Wenders versetzt die legendären Leinwände von Menschen an Tankstellen, auf Veranden und in lichtdurchfluteten Schlafzimmern in Bewegung. Er begreift die Bilder als Auftaktszenen von Geschichten.
Es ist eine Taktik, die Wenders in seinem Schaffen immer wieder angewandt hat. Ausgehend vom narrativen Potenzial alltäglicher Orte entfalten sich seine poetischen Welten: „Als Filmemacher bin ich ein Geschichtenerzähler. Aber als Fotograf bin ich nur Zuhörer. Ich höre Geschichten, die mir von Landschaften und Orten, von Häusern und Straßen erzählt werden.“
Online-Ausstellung, Wim Wenders – In Times of Solitude
BASTIAN, bis 28. Juni 2020