Mehr als 50 Galerien präsentieren beim Berliner Gallery Weekend moderne und zeitgenössische Kunst auf höchstem Niveau. Wir empfehlen neun Stationen, die Sie nicht verpassen sollten
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24.04.2023
Er ist der große Unbekannte an diesem Wochenende: Gaston Chaissac. Franzose, Autodidakt, als Maler erfolglos, gestorben 1964. Da war er gerade mal 54 Jahre alt. Doch die Künstler seiner Zeit, allen voran Jean Dubuffet, bewunderten Chaissacs nur vordergründig ungelenke Bildsprache, ihr Changieren zwischen Erkennbarem und Abstraktem wie in dem Bild „Bouquet de fleurs“ (1943/44). Die Galerie Michael Werner präsentiert sein Werk in ihren neu eröffneten Räumen in der Hardenbergstraße.
Die 1978 in Guangzhou geborene Cao Fei ist eine Reisende. Beständig pendelt sie nicht nur zwischen westlicher Popkultur und chinesischer Mythologie, sondern vor allem zwischen Realität und Virtualität: In ihren dokumentarisch-poetischen Videos setzt sie sich etwa mit Lockdown-Erfahrungen während der Coronapandemie auseinander. Andere Werke sind reine Fantasiearchitekturen im Metaverse, die von Avataren bewohnt werden. Ihre Schau in der Galerie Sprüth Magers schießt bis zum 19. August mit Grenzen sprengenden Arbeiten wie „MatryoshkaVerse“ (2022) eine bunte Bilderrakete ans Firmament.
Von Kapwani Kiwanga wird demnächst viel zu sehen und zu hören sein. Gerade hat die Künstlerin eine museale Soloschau in Toronto, das Kunstmuseum Wolfsburg schließt im Herbst mit einer Ausstellung an, und 2024 vertritt sie Kanada auf der Venedig-Biennale. Was für ein Glück, dass Kiwanga dazwischen Zeit für jene neuen Skulpturen hatte, die bis zum 27. Mai in der Galerie Tanja Wagner stehen. Ihre Ausstellung „Raw“ versammelt abstrakte, optisch anziehende Werke aus Materialien wie Sand oder Sisal, die im „rohen“ Zustand schmucklos wirken. Kiwanga verfolgt ihren Weg durch (industrielle) Zeiten und zeigt ihre sich wandelnden Werte auf: als Rohstoffe, auf denen unsere Kultur basiert.
Simurgh heißt ein Fabelvogel der persischen Mythologie. „Simurgh“ heißt deshalb auch die Ausstellung der Galerie Crone mit Werken von zehn Künstlerinnen aus dem Iran. Namen wie Neda Saeedi, Parastou Forouhar oder Soheila Sokhanvari, die die Arbeit „Daughters’ Father“ von 2016 zeigt, stehen für ein selbstbestimmtes, emanzipiertes Frauenbild. Fast alle leben in der Diaspora, weil sie ihre künstlerische Tätigkeit im Iran nicht ausüben können. Die Kuratorin der Schau, Başak Şenova, war u. a. für die Pavillons der Türkei und Nordmazedoniens auf der Venedig-Biennale zuständig.
Für Lydia Pettit ist der eigene Körper ein Rückzugsort und zugleich das Schlachtfeld, auf dem aktuelle Debatten über Weiblichkeit ausgetragen werden. Hier mischt die junge, aus Maryland stammende Künstlerin kräftig mit und schont sich selbst zuletzt, um normative Vorstellungen von Perfektion und Angepasstheit zu unterlaufen. Die Galerie Judin widmet Pettit bis zum 8. Juli eine Soloschau in ihrer spektakulären Halle. Neben neuen Selbstporträts (oben) zeigt die Ausstellung „In Your Anger, I See Fear“ mit „The Body“ den ersten Film der Künstlerin: eine wütende Auseinandersetzung mit Pettits Double, das erst brutal verletzt und später liebkost wird. Wie gut, dass Pettit bei allem Horror ihren Humor nicht verliert.