Ai Weiwei in Berlin

Leonardo aus Lego

In seiner Ausstellung in der Galerie Neugerriemschneider baut Ai Weiwei berühmte Bilder mit den bunten Bausteinen nach und provoziert so die Besucher

Von Dorothea Zwirner
13.09.2023

Das letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci, ein Dripping von Jackson Pollock und Claude Monets „Seerosen“ – es sind zentrale Motive der Kunstgeschichte, die sich der chinesische Künstler Ai Weiwei für seine siebte Einzelausstellung in der Galerie Neugerriemschneider angeeignet hat, um sie nahezu in Originalgröße mit Legosteinen nachzubauen. Der Effekt ist ebenso überraschend wie beklemmend, plakativ wie provozierend: Sind wir in einem Kinderzimmer oder einer Kunstgalerie?

Das Konzept wird klar, wenn man das mit Legosteinen nachgebildete antike Mosaik mit der griechischen Inschrift „Gnothi Seautum“ sieht, das der Ausstellung ihren herausfordernden Titel gibt: „Know thyself“ (Erkenne dich selbst). Ai Weiwei schlägt einen historischen Bogen vom antiken Mosaik zum digitalen Pixel, um die Entwicklung vom kostbaren Unikat in situ zur massenmedialen Verfügbarkeit des Bildes plastisch-plastikhaft vor Augen zu führen. Dabei baut er bei der Wahl seiner Motive biographische und thematische Referenzen ein, die seinen Weg als Sohn des chinesischen Dichters und Dissidenten Ai Qing über die Lebensstationen in China, New York und Europa bis zu seinem politischen Engagement als bekanntester Künstler und Aktivist Chinas berühren.

Ai Weiwei Know Thyself
Ai Weiwei, „Know Thyself“, 2022. © Ai Weiwei / courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin / Foto: Jens Ziehe, Berlin

Schon 2014 arbeitete Ai Weiwei mit Legosteinen und stelle 176 Porträts chinesischer Dissidenten auf diese Weise her. Für sein nächstes Lego-Projekt verweigerte der dänische Spielzeughersteller jedoch die Lieferung, um nicht im Zusammenhang mit politischen Themen zu erscheinen. Daraufhin startete der medienversierte Künstler eine weltweite Sammelaktion gebrauchter Legosteine, die ihm nicht nur das benötigte Material und die gewünschte Publicity, sondern mittlerweile auch das Einlenken des Spielzeugherstellers einbrachte.

Nun also Kunst über Kunst oder Kunstkopien wie bei Sticksets berühmter Meisterwerke? Leonardos berühmtes Wandgemälde aus dem Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand präsentiert Ai Weiwei gleich in drei verschiedenen Farbversionen in Pink, Grün und Weiß, die natürlich auch auf Andy Warhol als Wegbereiter für die massenmediale Verbreitung und Kommerzialisierung der Kunst Bezug nehmen. Die Ambivalenz dieser künstlerischen Haltung greift Ai Weiwei ironisch auf, wenn er der Figur des Judas seine eigenen Porträtzüge verleiht.

Ai Weiwei Nord Stream
Ai Weiwei, „Nord Stream“, 2022. © Ai Weiwei / courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin / Foto: Jens Ziehe, Berlin

Spektakulär sind vor allem die „Water Lilies #2“ (2022) nach dem Vorbild von Monets „Seerosen“ im MoMA, die mit einer Breite von über 15 Metern in einem eigenen Raum auf drei Wänden über Eck gehängt sind, so dass man mitten im Seerosenteich aus 650.000 Legosteinen steht. So konträr die an Pixel erinnernde Lego-Stecktechnik aus 40 industriell gefertigten Farbbausteinen zu den individuell gemischten Ölfarben Monets erscheint, so verblüffend ist doch die Verführungskraft der Nachahmung, der wir im Strudel der digitale Bilderflut so leicht erliegen. Zumindest kann man im Pointilismus mit seiner additiven Farbmischung noch ein konzeptueller Zwischenschritt auf dem Weg zum digitalen Pixel ausmachen.

Von hier aus lässt sich die Geschichte der Abstraktion weiter verfolgen zu Pollocks Dripping „One: Number 31, 1950“, das in der Lego-Nachahmung „Pollock in Black“ (2019) auf ein binäres Schwarz-Weiß auf grauem Grund heruntergebrochen wird und damit auch an chinesische Kalligraphie erinnert. Passend zum gestischen Farbtropfenwirbel hängt gegenüber das Lego-Nachbild des eindrucksvollen Wasserstrudels auf dem Pressefoto der explodierenden Erdgaspipeline „Nord Stream II“ (2022). Mit dem Legonachbild des bis heute unaufgeklärten Anschlags lenkt der Künstler den Blick nicht nur auf die verführerische Ästhetik von Katastrophenbildern, sondern auch auf einen politischen Brennpunkt. Dies trifft ebenso auf die beiden Lego-Farbvarianten der „Mona Lisa“ zu, die er mit den kürzlich von einem mutmaßlichen Klimaaktivisten verursachten Verschmutzung auf dem Panzerglas zeigt.

Ai Weiwei The Last Supper in Green
Ai Weiwei, „The Last Supper in Green“, 2022. © Ai Weiwei / courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin / Foto: Jens Ziehe, Berlin

Dem vieldeutigen Titel folgend stellen sich vielfältige Fragen: Liegt in dem viel zitierten „Erkenne dich selbst“ eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis oder Selbstbeschränkung, zum Anerkennen oder Überwinden eigener Grenzen? Prangert Ai Weiwei die allgegenwärtige Verfügbarkeit und Banalisierung unserer digitalen Bilderwelt an, oder leistet er ihr selbst Vorschub?

Antworten darauf bleiben jeder und jedem selbst überlassen.

Service

Ausstellung

„Ai Weiwei: Know Thyself“,

Galerie Neugerriemschneider,

bis 30. März

neugerriemschneider.com

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