Die Artissima in Turin gilt als Entdeckermesse für neue Strömungen. Das Leitthema der 31. Ausgabe lautet „The Era of Daydreaming“ und präsentiert 189 Galerien aus 34 Ländern
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30.10.2024
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 17/24
Ursprünglich errichtet als Eisstadion für die Olympischen Winterspiele 2006, ist das OVAL Lingotto in Turin heute eines der attraktivsten Venues für eine Messe mit zeitgenössischer Kunst in Europa. Vom 1. bis 3. November findet in der lichtdurchfluteten Halle direkt neben dem denkmalgeschützten, ehemaligen FIAT-Werk aus den 1920er-Jahren die 31. Ausgabe der 1994 gegründeten Kunstmesse Artissima statt. Die auf zeitgenössische Kunst spezialisierte Messe wird unter der Federführung der Fondazione Torino Musei veranstaltet.
Messedirektor Luigi Fassi, der die Artissima zum dritten Mal leitet, beschreibt den besonderen Status der Veranstaltung, die einmal im Jahr die ganze Stadt elektrisiert: „Die Artissima ist eine Kunstmesse. Gleichzeitig ist die Artissima aber auch eine Kulturinstitution mit einer präzisen Vision, nämlich der, den gesellschaftlichen Wert zeitgenössischer Kunst weiter zu verbreiten.“
Für die Mailänder Galeristin Monica de Cardenas ist die Messe quasi ein Heimspiel. Sie hat rund zwanzig Mal daran teilgenommen. In diesem Herbst zeigt sie unter anderem Zeichnungen von Juul Kraijer, Skulpturen von Federico Tosi und große Aquarelle von Slavomir Elsner. „Es ist eine Messe, an der man immer etwas Neues entdecken kann, denn die Auswahl wird von gut informierten Kuratoren getroffen, die gezielt gute, junge Galerien einladen. Dadurch kommen jedes Jahr neue interessante Galerien hinzu“, resümmiert die Galeristin. „Ferner werden Kuratoren und Sammler aus der ganzen Welt nach Turin eingeladen. So entstehen für uns immer gute Kontakte.“
Das Leitthema der diesjährigen Ausgabe der Artissima lautet „The Era of Daydreaming“ („Das Zeitalter der Tagträume“). Dazu Luigi Fassi: „Tagträume entfachen ein enormes kreatives Potenzial, das vor allem von Künstlern genutzt wird, um die Grenzen des Bekannten oder Vorhersagbaren zu durchbrechen und in der Erforschung unserer Zeit ganz neue Wege zu beschreiten.“
Die kommende Artissima präsentiert, ausgewählt von einem international besetzten Auswahlkomitee, 189 Galerien aus 34 Ländern, davon 109 im Hauptsektor, 38 in der Sektion „Monologue / Dialogue“, 15 bei den „New Entries“ und weitere im Bereich „Art Spaces & Editions“. Es gibt drei Sektionen, die von internationalen Kurator:innen betreut werden. Eine davon, co-kuratiert von Léon Kruiswijk vom KW Institute for Contemporary Art Berlin, ist „Present Future“ für innovative Nachwuchskunst. „Back to the Future“ versammelt Wiederentdeckungen wichtiger Pioniere der zeitgenössischen Kunst, und der Bereich „Disegni“ widmet sich ganz dem Medium Zeichnung.
Hier mit dabei ist die Schweizer Galerie Tschudi mit Standorten in Zürich und Zuoz. „Wir nehmen zum ersten Mal an der Messe teil und werden eine Reihe Papierarbeiten von Callum Innes zeigen. Arbeiten auf Papier stehen oft am Anfang von wichtigen Entwicklungen im Gesamtwerk von Künstlerinnen und Künstlern, und wir finden es toll, dass die Artissima diesem Medium eine Plattform gibt“, so Elsbeth Bisig Tschudi. „Callum Innes arbeitet mit Öl, Pastell und Aquarellfarben auf eine ausdrucksstarke und hochpräzise Weise“, beschreibt die Galeristin die geometrischen Arbeiten des schottischen Künstlers. Die Entscheidung, an der Artissima teilzunehmen, fiel bei Tschudi auch aufgrund der jahrzehntelangen Bindungen an die Stadt am Po: „Dank Mario Merz, mit dem wir in den 1990er-Jahren eng zusammengearbeitet haben, waren wir damals oft in Turin und im Castello di Rivoli“, so Elsbeth Bisig Tschudi.
In Turin, der Stadt, in der die Arte Povera erfunden wurde, gibt es eine lange Tradition der Kunstproduktion, aber auch des Sammelns. Soriana Stagnitta von der Düsseldorfer Galerie Sies + Höke hat folgende Beobachtung gemacht: „Turin und der italienische Kunstmarkt sind tatsächlich etwas Besonderes. Die italienische Sammlerszene zeichnet sich durch ein tiefes Verständnis für Kunstgeschichte und eine große Leidenschaft für zeitgenössische Positionen aus.“ Sies + Höke zeigen unter anderem Skulpturen und Installationen von Claudia Wiesner, KI-basierte Fotografien des Düsseldorfer Shootingstar-Duos Hedda Roman und Fotografien von Julius von Bismarck.
Der Drawing Room aus Hamburg nimmt zum zweiten Mal in Folge an der Artissima teil. In der Sektion „Disegni“ präsentieren die Galeristen Esther und Alexander Sairally eine Einzelpräsentation der konzeptuellen und sozial-kritischen Künstlerin Nadine Fecht. Die Sairallys haben das Publikum auf der Artissima schätzen gelernt: „Die italienischen Sammler, speziell die Turiner, sind gebildet, neugierig, aber auch zurückhaltend. Wir haben letztes Jahr sehr gute inhaltliche Gespräche geführt und konnten einige Werke in Mailänder, Londoner und New Yorker Sammlungen vermitteln.“
Wer dem Messerummel zwischendurch einmal entfliehen will, dem sei gleich nebenan die Schau „La Pista 500“ der Pinacoteca Agnelli auf der legendären, ehemaligen Teststrecke des FIAT-Werks auf dem Dach des Lingotto empfohlen. Wo einst röhrende Sportwagen durch die engen Kurven gejagt wurden, befindet sich jetzt ein spektakulärer Dachgarten mit 40.000 Pflanzen aus 300 Arten. Dazwischen laden Interventionen zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen wie Rirkrit Tiravanija, Sylvie Fleury, Alicja Kwade, Thomas Bayrle und Nan Goldin zum entspannten Kunstgenuss im Freien ein. Ansonsten bleibt angesichts des ausufernden Programms in der Stadt mit Eröffnungen, Performances und rund zwanzig Preisverleihungen während der Artissima kaum Zeit zum Verschnaufen. Während der Messetage ist ganz Turin auf Kunst gepolt. Immer ein Must ist aber ein Abstecher zur Fondazione Sandretto Re Rebaudengo. Die kunstsinnige Adelsfamilie zeigt in diesem Herbst drei Einzelausstellungen, darunter eine Soloschau des für seine melancholischen, teils unheimlichen Installationen bekannten belgischen Bildhauers Mark Manders.