Ab 1886 erlebte München unter dem Prinzregenten Luitpold ein Vierteljahrhundert künstlerischer Blüte: Mit ihrer freigeistigen Atmosphäre wurde die Stadt der Maler und Dichter zum Anziehungspunkt für die Protagonisten der Avantgarde
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10.10.2016
Hoher Besuch hatte sich angekündigt im Künstleratelier, und das wichtigste Requisit stand in der Mitte des Raumes: ein lebensgroßes Pferd aus Holz. Doch kaum hatte der Gast seine Kleidung abgelegt, auf dem Holzpferd Platz genommen und eine seiner obligaten Brasil-Zigarren angezündet, gab es einen ohrenbetäubenden Lärm. Ein großes Stück Putz hatte sich von der Decke gelöst und war donnernd zu Boden gefallen. Die Anwesenden wurden blass vor Schreck. Und der Mann auf dem Pferd? Saß immer noch da, nackt, rauchend, lächelnd, vom Geschehen um ihn herum offenbar vollkommen unbeeindruckt. „Wie ein Cherubim“, so berichtete es der Bildhauer Adolf von Hildebrand später dem Maler Hans Thoma.
Für den Prinzen Luitpold von Bayern war das Unglück, das ihn buchstäblich beinahe den Kopf gekostet hätte, nicht der Rede wert. Schließlich war er es gewohnt, Künstlern noch ganz andere Dinge durchgehen zu lassen. Bei ihm genossen sie Freiheiten, die ihnen woanders verwehrt wurden. Unter seiner Regentschaft entwickelte sich München zu einer liberalen, weltoffenen Stadt, die Maler und Bildhauer, Schauspieler und Literaten aus ganz Europa anzog. Dabei spielte auch der günstige Wohnraum eine Rolle. Besonders in Schwabing, man mag es heute kaum glauben, waren Zimmer und Ateliers billig zu mieten.
Davon profitierten vor allem jene Künstler der Avantgarde, die noch nicht etabliert waren. Hier fanden Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt zu ihrer speziellen Spielart eines expressiven Impressionismus. Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und Alexej Jawlensky, Franz Marc und August Macke bereiteten der Abstraktion den Weg und wurden als Mitglieder des „Blauen Reiter“ weltberühmt. Der junge Rainer Maria Rilke wohnte zur Untermiete in der Blütenstraße in der Maxvorstadt, lernte über einen Bekannten in einem der notorischen Künstlertreffpunkte, dem Café Luitpold am Odeonsplatz, Lou Andreas-Salomé kennen und begann ernsthaft mit der Schriftstellerei. Auch Thomas Mann, der Enge seiner großbürgerlichen Lübecker Herkunft entflohen, erkannte bald, dass „München leuchtete“, wie er in seiner 1902 erschienenen Novelle „Gladius Dei“ schrieb. Sie alle waren in der Hoffnung gekommen, sich in der Stadt künstlerisch entfalten zu können.
Und so entfaltete sich die Stadt selbst. München war der Ort, an dem das erste politische Kabarett im deutschen Reich geduldet wurde. Die Satirezeitschrift „Simplicissimus“ wurde hier gegründet, ebenso wie die Zeitschrift „Die Jugend“, Namensgeberin für die gleichlautende Kunstrichtung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten bis zu 3000 Künstler in München – eine enorme Zahl, angesichts der halben Million Einwohner, die die Residenzstadt im Ganzen zählte. Im Jahr 1886 hatte Luitpold, zu dem Zeitpunkt bereits fünfundsechzig, unter dramatischen Umständen die Regierungsgeschäfte übernommen, erst von seinem Neffen Ludwig II., dann von dessen Bruder, dem geistig instabilen Otto I. Damals befand sich das Königtum in Bayern in einer Krise. Die Exaltationen des „Märchenkönigs“ Ludwig II. und die allseits bekannte prekäre Disposition von Otto hatten eine Kluft aufgerissen zwischen den Wittelsbachern und dem Volk, das de facto durch Wirtschaftskraft und Bildung, politischen Innovationsdrang und technischen Erfindergeist längst der eigentliche Herr im Haus war. Streng genommen fiel dem König nicht mehr die Rolle des Herrschers zu, sondern die des Repräsentanten. Aber keiner brillierte darin so sehr, wie der, der im Grunde nur der Stellvertreter war: Luitpold, ein Generalmajor und Feldmeister der Artillerie, dessen ihm zugedachter genealogischer Platz sich bis dahin auf komfortabel ausgestattete Bedeutungslosigkeit beschränkt hatte.
Kunstsinnig waren die Wittelsbacher schon immer gewesen. Max Emanuel zum Beispiel, Kurfürst von Bayern, sammelte nicht nur über einhundert Gemälde, welche später den Grundstock für die Alte Pinakothek bildeten. Sondern auch andere Gegenstände, wie die Prunkplatte des Atabegs von Mossul, eine Ziselierarbeit aus dem Irak der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die inzwischen in der Abteilung für Islamische Kunst des Staatlichen Museums für Völkerkunde aufbewahrt wird. Oder nehmen wir Ludwig I.: Er prägte München architektonisch, ließ die Gebäude am Königsplatz, das Siegestor, die Staatsbibliothek und die Feldherrenhalle (nach dem Vorbild der Loggia dei Lanzi in Florenz) errichten und gab der Stadt mit der Ludwigstraße eine neue Achse.
Luitpold war weder ein großer Sammler, noch glänzte er als Bauherr. Aber ein echter Freund der Künstler, das war er. Birgit Jooss, ehemalige Leiterin des Deutschen Kunstarchivs in Nürnberg, hat sich wissenschaftlich in die Prinzregentenzeit vertieft und zitiert den Maler Franz von Stuck: „Der Künstler wird hier in Gesellschaft gerne gesehen. Er verkehrt mit dem Hof, dem Adel und der höchsten Beamtenschaft auf gleichem Fuße.“ Das, so der Maler, „lässt sich von Berlin sicher nicht sagen“. Anders als in der Hauptstadt des Deutschen Reiches waren Einladungen zum Dinner in die Residenz die Regel. In den Neuesten Münchner Nachrichten, Vorläufer der Süddeutschen Zeitung, hieß es dazu in der Ausgabe vom 11. März 1911: „Der Regent kennt eine große Zahl der Münchner Künstler persönlich – sicher mehr als irgendein Privatmann, der nicht etwa von Beruf aus hiermit zu tun hat; sie gehören zu seinen Intimen und Intimsten, es vergehen nicht allzu viel Tage im Jahr, an denen sie nicht an seiner Tafel sitzen.“ Auch solche, die nur auf Durchreise in München weilten, wurden zu den Essen gebeten.
Zu denen, die einen derart unerwarteten Ruf in die Residenz erhielten, gehörte auch Henry van de Velde, der an einem Abend im Jahr 1898 nach der Mahlzeit vom Prinzregenten in sein Schlafzimmer geführt wurde, um dessen Sammlung flämischer Gemälde zu betrachten. Zum Schluss stiegen die beiden auf Luitpolds Bett, weil sie von dort einen besseren Blick auf zwei Werke von Eugène Verboeckhoven hatten, wie van de Velde, von der obwaltenden Zwanglosigkeit verblüfft, noch Jahrzehnte später in seinen Memoiren vermerkte.
Luitpold unterstützte Künstler auf vielfältige Weise. Seine Favoriten Franz Lenbach, Wilhelm Kaulbach oder Franz Stuck erhob er, ungeachtet deren zum Teil sehr einfachen Herkunft, in den Adelsstand. Und wenn der Prinzregent es wünschte, von einem befreundeten Maler auf die Jagd begleitet zu werden, dann konnte es schon sein, dass der ungenügend ausgerüstete Novize von ihm zum nächsten Weihnachtsfest ein schönes neues Gewehr geschenkt bekam. Auf sein Betreiben richtete der Magistrat der Stadt München zu seinem 70. Geburtstag die „Prinzregent-Luitpold-Stiftung zur Förderung der Kunst, des Kunstgewerbes und des Handwerks“ ein, die noch heute besteht, Kunstwerke ankauft und Stipendien vergibt.
Ausdrücklich für die Altersversorgung bedürftiger Maler und Bildhauer gedacht war die zweite Stiftung Luitpolds, die „Prinzregent Luitpold-Stiftung für Künstler“ zwanzig Jahre später – der 71-jährige Landschaftsmaler Johann Sperl zählte neben anderen hochbetagten Künstlern zu den ersten Begünstigten. Luitpold spendete Geld für den Bau des Künstlerhauses am Lenbachplatz und war auch als Schirmherr so unterschiedlicher Initiativen wie des Kunstvereins, der Künstlergenossenschaft, des Kunstgewerbevereins und sogar der ihm anfangs nicht genehmen „revolutionären“ Sezession unermüdlich im Einsatz für die gute Sache.
Natürlich trat er auch als Käufer auf, wobei er sich dabei nicht selten von sozialen Erwägungen leiten ließ. Er wusste genau um die Signalwirkung von Zeitungsberichten über seine Erwerbungen und Atelierbesuche und setzte beides gezielt ein, um jungen Künstlern oder solchen, die ihm am Herzen lagen, auf die Sprünge zu helfen. Er konnte sich sicher sein, dass die wohlhabenden Kaufleute und Industriellen der Stadt seinem Beispiel folgen würden. Diese Besuche pflegten oft genug überraschend und grundsätzlich früh morgens stattzufinden – was die so bedachten Künstler regelmäßig mächtig in Verlegenheit brachte, wenn sie dem Regenten im Schlafrock die Tür öffneten.
Insgesamt herrschte eine außergewöhnlich freie Atmosphäre im damaligen München. Und es gab immer wieder Einzelne, die diese Freiheit mehr ausreizten als andere. Zum einen beförderte die kunstsinnige Grundhaltung in der Stadt mehr als anderswo das Entstehen einer eigenen Kaste, der sogenannten Künstlerfürsten. Die Maler Lenbach, Stuck, Kaulbach, Defregger und Max residierten in prachtvollen Villen, die das Stadtbild zum Teil noch immer prägen. Zum anderen war auch an Sonderlingen und unkonventionellen Charakteren kein Mangel.
Eine davon war Fanny zu Reventlow, das schwarze Schaf einer uralten holsteinisch-mecklenburgischen Adelsfamilie. Aus deren Sicht machte Fanny alles falsch, was man nur falsch machen konnte. Erst wollte sie Malerin werden, dann fing sie an zu schreiben. Außerdem propagierte sie, was noch viel schlimmer war, die freie Liebe und ging mit leuchtendem Beispiel voran.
In einer Epoche, in der die Geburt eines unehelichen Kindes zwangsläufig gleichbedeutend war mit krasser gesellschaftlicher Ächtung, trug sie ihren Sohn Rolf wie eine Monstranz vor sich her. Den Namen des Vaters verschwieg sie hartnäckig. Fanny Reventlow war eine wilde Schönheit, die auf ihren Adelstitel verzichtete, als sie, wie ein paar Jahre darauf Thomas Mann, aus Lübeck nach München kam. Sie nahm ihn erst wieder an, nachdem sie gemerkt hatte, dass sich dieser verkaufsfördernd auf ihre Publikationen auswirkte. Später zog die „Skandalgräfin“ nach Ascona. Dort ging sie eine Scheinehe mit einem Baron von Rechenberg-Linten ein, der, um sein Erbe einstreichen zu können, eine standesgemäße Heirat vorweisen musste. Und verlor das damit verbundene Vermögen, immerhin 20.000 Mark, in einem Bankencrash. Dann ließ sie sich in Muralto am Lago Maggiore nieder, wo sie 1918 im Alter von 47 Jahren tragisch an den Folgen eines Fahrradunfalls starb.
Fanny zu Reventlow war nicht die einzige Wahlmünchnerin, die während der Prinzregentenzeit einen ungewöhnlichen Lebensstil pflegte. Der Maler Gabriel Max zum Beispiel züchtete auf seinem Anwesen am Starnberger See Affen, mit denen er gerne zu Abend aß, wofür er sie eigens in Kinderkleider steckte. Auch schwärmte er, lange bevor Paul Gauguin dorthin fuhr, für Artefakte aus der Südsee. Eine dritte Leidenschaft sieht ihn, der auch an spiritistischen Séancen teilnahm, als Sammler von Totenschädeln.
Noch unkonventioneller war Karl Wilhelm Diefenbach. Auf den Fotos, die es von ihm gibt, sieht er aus wie ein Haight-Ashbury-Hippie aus den Sixties – nur 80 Jahre davor. Im München der Prinzregentenzeit muss er mit seinen schulterlangen Haaren, dem Bart und Kaftan, den er trug, auf Pas- santen gewirkt haben wie ein Außerirdischer. Diefenbach war als Student der Malerei an die Münchner Kunstakademie gekommen, doch schon bald interessierte er sich mehr für das Leben im Einklang mit der Natur, für die Freikörperkultur, den Pazifismus und die Rechte von Tieren. Er scharte Jünger um sich, lehnte die Monogamie ab und propagierte die vegane Ernährung.
Den meisten Münchnern war das dann doch zu viel. Und so waren die Reaktionen entsprechend: Sie nannten ihn den „Kohlrabi-Apostel“, seine Versammlungen wurden polizeilich verboten. Diefenbach zog sich für eine Zeit in einen verlassenen Steinbruch bei Höllriegelskreuth im Süden Münchens zurück, übersiedelte danach nach Wien und gründete eine Kommune, der er den Namen „Himmelhof“ gab. Er selber lebte mit zwei Frauen gleichzeitig, verlangte von seinen Schülern jedoch unbedingte Keuschheit. Als Künstler geriet die Ausstellung des Frieses „Per Aspera ad Astra“, den er zusammen mit seinem berühmtesten Anhänger Hugo Höppener alias Fidus geschaffen hatte, 1892 in Wien zu einem sensationellen Triumph. Nach erlittenem Betrug und folgendem Bankrott ging Diefenbach nach Capri, wo er – in Deutschland zunehmend vergessen – mit seinen Weltanschauungen (ein Modewort der Zeit) durchaus Erfolge feiern konnte.
Und dann war es irgendwann vorbei mit der freigeistigen Pracht in München. Luitpold erging es wie so vielen Museumsdirektoren und Galeristen heute: Er wurde mit seinen Künstlerfreunden alt. Die Akademie, die noch wenige Jahre zuvor Künstler wie Josef Albers, Paul Klee, Otto Mueller und Christian Schad angelockt hatte, verwandelte sich in einen Hort des Konservativismus. Mit seinen neu gegründeten Galerien für zeitgenössische Kunst, mit seinen Sammlern und Mäzenen lief Berlin München den Rang ab. Luitpold starb 1912 in seinem 92. Lebensjahr.
Nach dem Ersten Weltkrieg schlug die Volkstümlichkeit, die der Prinzregent mit seinem Habitus, den Lederhosen und Porträts als Jäger in bayerischer Tracht gepflegt hatte, um in dumpfe Regression. Von da bis zur Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung war es dann nicht mehr weit. Eine Forscherin wie Birgit Jooss verweist darauf, dass im Jahr 1933 an der Münchner Kunstakademie nur ein Professor seinen Posten verlor. Alle anderen waren schon ganz auf Linie.
Doch das kann die Errungenschaften der künstlerischen Befreiung, die München nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Luitpold nicht schmälern. Das Gegenteil ist der Fall: Im Grunde zehrt die Stadt noch heute davon.