Das Siedlungsgebiet um Euphrat und Tigris ist eines der ältesten der Menschheit. In der Antike kreuzten sich hier die Kulturen, gewaltige archäologische Stätten erzählen davon. Nach der Vertreibung des IS aus Palmyra zeigen sich die Schäden geringer als befürchtet, aber vieles wurde zerstört und geplündert – eine Katastrophe nicht nur für die Kunst und Kultur dieser Region.
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01.03.2016
Persepolis im Iran, Baalbek im Libanon oder Petra in Jordanien sind imposant, gewaltig, beeindruckend. Die Oasenstadt Palmyra in der syrischen Wüste aber ist geradezu ergreifend und überirdisch schön. Wer in den Morgenstunden, nach zwei Stunden Autofahrt aus Damaskus, in dieser antiken Ruinenstadt eintraf, wurde mit einem grandiosen Schauspiel belohnt: Zuerst tauchten die Grabtürme aus dem Dunkel auf, dann die fast einen Kilometer lange Säulenstraße, die Mauern des Amphitheaters, der Thermen und Marktanlagen, die Tempel der Gottheiten Baal und Allat. Stein und Sand waren in Zartrosa getaucht, bekamen später einen goldenen Schimmer und strahlten in den Mittagsstunden fast weiß. Beduinenfamilien mit ihren Eseln oder Kamelen lagerten dann im Schatten der Säulen und Mauern.
»Kan Zaman…«, so fangen die Beduinen ihre Geschichten an: Es war einmal. So müssen künftig auch die Erzählungen über die Oasenstadt beginnen, denn ihre Schönheit ist Vergangenheit. Am 20. Mai 2015 wurde Palmyra von Kämpfern des »Islamischen Staates« (IS) besetzt – einer Miliz schwarz gekleideter Extremisten, die inzwischen ganze Landstriche in Nord- und Zentralirak sowie in Syrien von der türkischen Grenze fast bis zur Hauptstadt Damaskus beherrschen. Auf ihrem Eroberungsfeldzug haben die IS-Kämpfer nicht nur Hunderte Menschen ermordet, sie zerstören auch zahlreiche Kunstwerke und verwüsteten gezielt das kulturelle Erbe dieser Region.
Zu allen Zeiten und auf fast allen Kontinenten war die Zerstörung von Städten, von Palästen und Tempeln eine Waffe im Krieg. Eroberer ließen die Denkmäler ihrer Gegner schleifen, Gotteshäuser schänden, Bibliotheken niederbrennen, Kunstwerke rauben oder Kunst vernichten. Die Römer zerstörten den Tempel in Jerusalem. Alexander der Große soll nach der Eroberung von Persepolis den Befehl gegeben haben, die Stadt zu brandschatzen. Die Spanier bauten in Cusco auf den Fundamenten der Inka-Paläste ihre Kirchen. Immer sollte damit die Unterwerfung vollendet, die Erinnerung an alte Götter und Mächte ausgelöscht werden.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren es vor allem der Orient und die muslimischen Länder, in denen durch Krieg, Terror und Chaos unersetzliche Kunst- und Kulturschätze verloren gingen. Wo immer im Nahen und Mittleren Osten, in Nord- und Zentralafrika oder in Asien radikal-extremistische Islamistengruppen Gebiete eroberten oder zumindest zeitweise kontrollierten, verwendeten sie viel Energie darauf, heilige Stätten oder antike Kunstdenkmäler zu zerstören. So sprengten die sunnitischen Taliban im Frühjahr 2001 die berühmten Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan, Provinzhauptstadt im Siedlungsgebiet der schiitischen Hazara-Minderheit. Mit den Buddhas wurden die Hauptwerke einer einzigartigen buddhistischen Kunst vernichtet, die dort vom 3. bis zum 10. Jahrhundert entstanden war.
Im Irak entfesselte der Sturz Saddam Husseins und seiner sunnitischen Elite durch die US-Invasion im März 2003 den bis dahin ruhenden Konfessionskonflikt im Land. Sunnitische Milizen verübten in den folgenden Jahren Anschläge auf Heiligtümer der an die Macht gekommenen Schiiten. So attackierten sie die Goldene Moschee mit dem Al-Askari-Schrein in Samara, einem der wichtigsten Pilgerorte der Schiiten. Bei einem Anschlag im Februar 2006 wurde das Gebäude schwer beschädigt, die goldene Kuppel stürzte ein. In Libyen haben nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis im August 2011 militante Sunniten das Machtvakuum gefüllt und in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Schreine von muslimischen Heiligen, Gelehrten und Dichtern zerstört.
All diese Gruppen – die Taliban in Afghanistan, die Dschihadisten im Irak, die Salafisten in Libyen und auch die IS-Miliz – berufen sich auf die besonders rigide Auslegung des Islam, die in Saudi-Arabien Staatsdoktrin ist und im Westen als Wahabismus bezeichnet wird, benannt nach ihrem Gründer Scheich Mohammed bin Abdel Wahab. Die Vertreter dieser extrem puristisch-konservativen Lehre, die Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, beanspruchen für sich, die »reine Form« des Islam zu repräsentieren. Anhänger anderer muslimischer Ausrichtungen wie die Schiiten, Alawiten oder Jesiden gelten ihnen als Ketzer, Angehörige anderer Religionen als Ungläubige. Der Wahabismus geißelt aber auch alle Formen des Volksglaubens und religiöser Traditionen, die Verehrung von Heiligen oder die Wallfahrten zu Gräbern als Gotteslästerung. Schon als die Wahabiten 1803 mit Mekka und Medina das Grab des Propheten und Religionsbegründers Mohammed eroberten, schleiften sie dort Gräber und Heiligenschreine. Und immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass die saudischen Herrscher – selbst ernannte Hüter der heiligsten islamischen Stätten und Nutznießer der Pilgerfahrten von Abermillionen Muslimen – planen, die Gebeine des Propheten in ein Massengrab umzubetten.
Die Zerstörung von vorislamischem wie islamischem Kulturgut gehört damit praktisch zur Software aller Gruppen radikaler Muslime. Doch bei keiner anderen Organisation ist dieser Vandalismus ein so wichtiger Teil der Strategie wie beim IS. Er verfolgt sie nüchtern und pragmatisch, überaus flexibel und stringent: um seinen religiösen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen, um Einfluss und Macht gegenüber konkurrierenden Milizen zu demonstrieren, um Regierungen in der Region und im Westen zu brüskieren. So gehörte es auch zu den ersten Anweisungen von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi, Feiern zum Geburtstag des Propheten Mohammed zu verbieten, wenn ihnen nur der geringste Anschein von Personenkult anhaftet. Jüngste Drohungen richten sich gegen die Schiitenhochburgen Nadschaf und Kerbala in Zentralirak, denn dort befinden sich Moscheen mit den Gräbern der Prophetennachfolger Ali und Hussein, die den Schiiten heilig sind. Und ein IS-Vertreter verbreitete sogar über Twitter: »So Allah will, werden wir den Götzenstein in Mekka sprengen und die Kaaba zerstören.«
Schon vor gut einem Jahr listete die Unesco auf, dass über 300 Kulturstätten im Herrschaftsgebiet des IS stark beschädigt oder zerstört worden seien. Nicht alle diese Schäden gehen auf den IS zurück. Die Altstadt von Aleppo wurde Opfer der Kämpfe zwischen den Regierungstruppen von Präsident Assad und den Rebellen. Die Mauer der Zitadelle und mehrere Karawansereien wurden von Granaten getroffen, viele Häuser in dem Weltkulturerbe-Ensemble sind zerstört. In Bosra, einer Stadt im Süden Syriens mit Ruinen aus römischer, byzantinischer und frühislamischer Zeit, hatten Rebellen ein Trainingslager eingerichtet, das dann von der syrischen Armee angegriffen wurde.
Andere antike Stätten werden von Raubgräbern heimgesucht. Der Verkauf von Fundstücken aus Raubgrabungen soll zu den Haupteinnahmequellen des IS gehören. So zeigen Satellitenaufnahmen die Gegend um Apameia am Orontes im Norden Syriens: Die antike römische Anlage, einst Hauptstadt der Landschaft Apamene, später der römischen Provinz Syria Secunda, ist von Hunderten Grabungslöchern zerfurcht. Ebenso erging es der griechischen Ruinenstadt Dura Europos an der syrisch-irakischen Grenze.
Doch die enormen Zerstörungen in Palmyra, in Ninive, Nimrud und Dur Šarrukin hat allein der IS zu verantworten. Der Ver- nichtungsfeldzug der radikalen Organisation, die ihre Wurzeln im irakischen Nachkriegschaos hat und 2013 im Bürgerkriegsland Syrien Fuß fasste, begann mit der Eroberung von Raqqa im Frühjahr 2014 – was damals international noch kaum beachtet wurde. Der IS erklärte die kleine Provinzmetropole im Norden Syriens zur Hauptstadt seines künftigen Staates. Sofort nach der Besetzung von Raqqa zerstörte die Terrormiliz die prächtige Ammar-Ibn-Yasir-Moschee, auch sie ein wichtiges Pilgerziel der Schiiten. Ibn-Yasir war ein früher Gefährte des Propheten Mohammed, einer der Ersten, der zum Islam übertrat, von Sunniten und Schiiten gleichermaßen verehrt.
Von Raqqa aus rückte der IS dann sowohl gegen Aleppo und Damaskus als auch in Richtung Bagdad vor. Aber erst mit der Einnahme der Millionenmetropole Mossul wachte die internationale Öffentlichkeit auf. Im Juni 2014 vertrieben IS-Kämpfer binnen weniger Tage die irakische Armee aus der Stadt, eroberten deren Waffenarsenale und Militärlager, plünderten die Banken und besetzten das dortige Nationalmuseum. Mit einem Kran entfernten sie die Statuen des abassidischen Dichters Abu Tammam (788–845) und des irakischen Musikers und Lyrikers Osman al-Mawsali (1854–1923). Wie es heißt, wurden die Skulpturen später auch gesprengt. IS-Kämpfer stürzten die hoch aufragende steinerne Marienstatue vom Turm der chaldäisch-katholischen Kathedrale von Mossul. Die Grabstätte des muslimischen Historikers Ibn al-Athir (1160–1223) wurde von einem Bagger demoliert. Auch die Moschee des Propheten Jona, der Schrein des Propheten Daniel und die al-Khidr Moschee fielen dem Zerstörungswahn zum Opfer.
Anfang 2015 begannen die IS-Milizionäre, im Mossuler Nationalmuseum zu wüten. Mit Vorschlaghämmern und Pressluftbohrern zertrümmerten sie die assyrischen und parthischen Skulpturen. Bei einigen der Stücke handelte es sich zwar um Gipsrepliken, doch das Wahrzeichen des Museums, die berühmte Türhüterfigur (assyrisch »Lamassu«) vom assyrischen Nergal-Tor in Ninive aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., wurde zerstört.
Fotos und Videos von ihrem Bilder- sturm stellten die IS-Kämpfer umgehend ins Internet und verbreiteten sie in den sozialen Medien. Denn auch das unterscheidet den IS von Kriegsherren vergangener Zeiten, selbst von ihren dschihadistischen Konkurrenten der Gegenwart: die mediale Präsenz ihres Tuns und der Wille, die ganze Welt fast in Echtzeit an ihrem Vernichtungsfeldzug gegen Mensch und Kunst teilhaben zu lassen.
In Nimrud, einst Hauptstadt des neuas- syrischen Reiches, rund 30 Kilometer südöstlich von Mossul, sollen die Extremisten im April 2015 die antiken Palastanlagen planiert haben. Ein nicht genau datiertes Videos lässt vermuten, dass die Stätte vollständig zerstört wurde. Im antiken Dur Šarrukin, im 8. Jahrhundert v. Chr. Hauptstadt des assyrischen Reiches unter Sargon II., sprengten IS-Kämpfer offenbar im März 2015 Ruinen von Tempeln und Palästen. Im selben Monat suchten sie Hatra heim, in der Antike die Hauptstadt eines mesopotamischen Kleinfürstentums. Die Anlage war für ihre gut erhaltenen Tempel und seine hellenistisch-römische Architektur berühmt.
Es war also absehbar, dass auch Palmyra nach der Eroberung durch die IS-Miliz im Mai nicht ungeschoren davonkommen würde. Schon in der Steinzeit siedelten sich in der Oase um die Efqa-Quelle Menschen an, später entwickelte sich der Ort zu einem Knotenpunkt von Handelskarawanen zwischen Mesopotamien und dem Mittelmeer, zwischen dem Jemen und Anatolien. Aus der hellenistischen Periode ist kaum etwas erhalten, die meisten Ruinen der einstigen Handelsmetropole stammen aus römischer Zeit. Nachdem Kaiser Aurelian die Stadt im 3. Jahrhundert zerstörte, versank der Ort in die Bedeutungslosigkeit – bis Europäer die Anlage im 18. Jahrhundert wiederentdeckten.
Knapp eine Woche nach dem Einmarsch des IS in Palmyra zertrümmerten die Milizionäre die Löwenskulptur vor dem Eingang des lokalen Museums. Es war eine Kalksteinfigur aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Am 18. August enthaupteten die Schergen den früheren Chefarchäologen Palmyras, den 83-jährigen Khaled al-Asaad. Sein Tod war der Auftakt zum Feldzug gegen die Steine. Sechs Tage später sprengten die Fanatiker den Baalschamin-Tempel. Bald darauf erschütterten mehrere Explosionen den 2000 Jahre alten Baal-Tempel, das Herzstück der antiken Stadt. Nur die gewaltigen Außenmauern, so belegen Satellitenfotos, blieben stehen. Am 4. September wurden drei Grabtürme vernichtet, der mächtige Bogen des Hadrianstors stürzte am 4. Oktober ein.
Dass die Oasenstadt an der Kreuzung von Karawanenwegen lag, sich dort eine antike multikulturelle Gesellschaft, eine gelungene Symbiose von westlicher und östlicher Kultur herausgebildet hatte: Auch dies war wohl Antrieb für die IS-Kämpfer, ihr zynisches Zerstörungswerk fortzusetzen. Welches Ziel aber verfolgen die Extremisten mit diesem Sturm auf das Kulturerbe der Menschheit? Der IS habe offenbar sehr genau verstanden, erklärt Markus Hilgert, Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin, »dass die beispiellose Respektlosigkeit gegenüber allem, das wir zur Grundlage unserer Narrative über unsere eigene Geschichte und die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit gemacht haben, für uns nur schwer zu verkraften sind. Für die Menschen im Irak und in Syrien ist das vorislamische Kulturerbe identitätsstiftend und einigend.«
Syrien wie der Irak und auch Teile der Türkei gehören zum alten Kulturkreis von Mesopotamien. Hier begann rund 10000 bis 12000 Jahre vor Christus der Übergang von Nomaden zu sesshaften Bauern, zu einer Arbeitsteilung, die das Entstehen der ersten Stadtstaaten ermöglichte. Hier wurde die Schrift erfunden, das Zahlensystem, die Verwaltung, das Privateigentum, die Töpferscheibe, das Rad. Dieses kulturelle Erbe prägt nicht nur unsere europäischen Glaubens- und Wertvorstellungen, sondern gehört fest zur kulturellen Identität der Menschen dieser Region, die mit den sichtbaren Zeichen dieser Kultur leben – also den Ruinen der Tempel und Paläste, den Statuen.
Nach Informationen der amerikanischen Association for the Protection of Syrian Archeology (APSA) befinden sich etwa ein Drittel der bekannten 10000 archäologischen Stätten auf syrischem und irakischem Gebiet in der Kontrolle des IS. Wie aber können diese Stätten geschützt werden?
Westliche Staaten, aber auch die Türkei und Russland wollen den IS militärisch zurückdrängen. Zerschlagen lassen sich seine Verbände nicht, sie werden – wie in den vergangenen Jahren vielfach geschehen – einfach unter neuem Namen wieder auftauchen. So wird versucht, den Zustrom von Kämpfern aus dem Ausland durch schärfere Grenzkontrollen und Geheimdienstobservierungen in den Herkunftsstaaten zu stoppen. Und man will die Finanzierungsquellen des IS austrocknen: den Spendenzustrom von privaten Geldgebern in den Golfstaaten blockieren, die Kapitalzuflüsse aus dem Ausland unterbinden und vor allem den Handel mit Beutekunst aus Museen und Raubgrabungen erschweren. Weltweit soll der Umsatz für illegal gehandelte Antiken bei fünf bis acht Milliarden Euro liegen. Es gibt nur Schätzungen darüber, wie viel der IS damit verdient. Belegt ist jedoch, dass der IS das Raubgrabungsgeschäft systematisch organisiert, Schürfrechte vergibt, gefundene Objekte aufkauft und über den Libanon oder die Türkei ins Ausland schafft.
Die Abnehmer der geplünderten Objekte sitzen offenbar vor allem am Golf, in China, Russland, aber auch im Westen. Häufig heißt es, Deutschland sei eine wichtige Drehscheibe des illegalen Markts mit Antiken. Gern werden dafür die Lücken im deutschen Kulturgutschutzgesetz angeführt. Dessen Novellierung wird gerade lautstark und kontrovers diskutiert, denn in unguter Verbindung wird der Handel von antikem Raubgut mit einer aufgeblähten Rasterfahndung nach national bedeutsamer Kunst in Privatbesitz verbunden. Die wesentlichen Neuerungen für den Antikenhandel: Wer künftig Antiken einführen will, braucht eine Ausfuhrgenehmigung des Herkunftslandes, die Stücke benötigen einen exakten Herkunftsnachweis, und die Rückgabe von Antiken an die Herkunftsländer soll vereinfacht werden. Inwieweit deutsche Händler tatsächlich Werke aus IS-Provenienz hereinschleusen, ist äußerst unklar. Noch immer wird da mehr behauptet als bewiesen. Selbst Archäologen bezweifeln mittlerweile, ob wirklich so viele kostbare Stücke aus dem Nahen Osten nach Europa kommen. Was im Internet oder über Mittelsmänner angeboten wird, stammt offenbar meist aus obskuren Quellen im Mittleren Osten.
Derweil erweist sich der direkte Schutz der Museen und antiken Stätten in den von Bürgerkrieg, Terror und Chaos heimgesuchten Ländern als schwierig. Die syrische Antikenbehörde in Damaskus unter Leitung von Maamun Abdulkarim sorgte bereits kurz nach Ausbruch der Kampfhandlungen dafür, dass das Inventar vieler Provinzmuseen in Tresoren oder Bunkern in Damaskus eingelagert wurde. Dort ist es sicher – zumindest solange, wie sich Präsident Assad hält. Auch die rund 2500 Mitarbeiter der Behörde arbeiten noch, halten Kontakt zu den Kollegen in den Regionen und versuchen, Schadenslisten aufzustellen oder sogar erste Restaurierungsarbeiten durchzuführen, so der Chef der Antikenverwaltung.
Bald nach Beginn des Bürgerkrieges bildete sich ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern und Archäologen, um die Öffentlichkeit angesichts der Raubgrabungen und katastrophalen Kulturzerstörung zu mobilisieren. Bereits einige Dutzend Initiativen suchen, unterstützt von Regierungen, internationalen Organisationen oder Universitäten, nach Wegen, konkret etwas tun. So bemüht sich Heritage for Peace, alle Konfliktparteien zu kontaktieren und mit ihnen zu kooperieren, berichtet der in Spanien lebende syrische Archäologe Esber Sabreen. Heritage for Peace arbeite sowohl mit dem Kulturministerium und der Antikenbehörde in Damaskus als auch mit Vertretern der syrischen Opposition zusammen. Im Libanon zum Beispiel, sagt Sabreen, »werden Freiwillige trainiert, die in die Krisengebiete fahren und Informationen sammeln. Ihnen wird auch vermittelt, welche Schutzmaßnahmen für Museen und antike Stätten getroffen werden können.«
Im Rahmen einer weiteren Initiative, dem Projekt »Million Image Database«, sind bereits Tausende preiswerte, leicht handhabbare 3-D-Kameras an Freiwillige in den Kriegsgebieten verteilt worden, um antike Stätten und Kunstwerke zu erfassen. Techniker an der Universität Oxford laden diese Bilder auf die Webseite des Projekts und benutzen die Fotos, um 3-D-Modelle von Bauten und Artefakten zu erstellen – auch um später eine Rekonstruktion der zerstörten Stätten zu ermöglichen. Die Webseite ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, um das Leben der Freiwilligen nicht zu gefährden.
Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, schlug sogar vor, eine Luftbrücke für bedrohte Kunstschätze einzurichten und den Werken in Europa Asyl zu gewähren. Zwei Tage nach den Novemberanschlägen in Paris bot der französische Präsident François Hollande vor der Unesco an, eine Taskforce aus westlichen Archäologen und lokalen Verantwortlichen zusammenzustellen, um bedrohte Antiken aus Syrien in die Obhut Frankreichs zu bringen.
Rund 250000 Menschen sollen laut Schätzungen im syrischen Bürgerkrieg umgekommen sein. Fast 12 der 23 Millionen Syrer irren umher oder sind aus dem Land geflohen. IS-Stellungen werden von einer internationalen Koalition bombardiert; das Bürger- kriegsland ist zerfallen, und niemand weiß, wo Feind oder Freund steht. Die Ideen, eine Luftbrücke einzurichten oder Einsatzkommandos zu bilden, sind ehrenwert. Aber sie zeigen auch, wie groß die Verzweiflung über die Zerstörung dieser einzigartigen Kulturgüter und letztlich unsere Hilflosigkeit sind.
Diesen Beitrag finden Sie in WELTKUNST Nr. 110 / Januar 2016