Das Werk von Michael Wutz wurzelt tief in seiner bayerischen Heimat. Seine rätselhaft düsteren Papierarbeiten legen verborgene Schichten frei, in denen sich die Geschichte konserviert hat.
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11.07.2016
Am Rande des Ackers steht ein Kreuz mit zwei Querbalken. Gleich dahinter beginnt der Wald, dessen Boden sich hin und wieder seltsam wölbt, was nur auffällt, wenn man weiß, wonach man schaut. Wir waren schon den ganzen Tag unterwegs, auf Aussichtstürmen, im Schlamm, durch kniehohen Bärlauch, doch Michael Wutz will uns unbedingt noch diese eine Stelle zeigen. Seine Energie ist ungebrochen. Denn hier, erzählt er voller Freude, habe er damals sein erstes Beil gefunden – am selben Tag wie sein Bruder, welch ein Finderglück – direkt neben einer toten Wildsau. Die Fundstelle nannten sie fortan „Schwein“. Und weil das Beil des Bruders nahe dem Kreuz lag, das sie an ein russisch-orthodoxes erinnerte, hieß seine Stelle von da an „Russ“.
Michael Wutz ist nicht nur ein interessanter Künstler, sondern auch begeisterter Hobbyarchäologe. Er stammt aus Günzburg im bayerischen Schwaben, einer Kreisstadt an der Donau zwischen Augsburg und Ulm. Das Donautal und die nahe gelegene Schwäbische Alb waren schon früh besiedelt, davon zeugen reichlich Hinterlassenschaften prähistorischer Kultur. Auf dem Schlossberg der Reisensburg, dessen Hänge Michael und seine Brüder in der Kindheit fast täglich durchstreiften, reichen die frühesten Besiedlungsspuren 4000 Jahre zurück. Im Boden lagern Werkzeuge aus der Steinzeit, hallstattzeitliche Keramik und Feuerböcke. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden die ersten systematischen Grabungen in der Gegend statt, manche Funde sind im örtlichen Heimatmuseum zu sehen, einige gar in der Staatssammlung München. Durch Erosion bricht bis heute immer wieder Erdreich vom Schlossberg ab und legt neue Schichten der geschichtsträchtigen Landschaft frei. Mit Enthusiasmus erzählt Wutz von den Höhlen, in denen er einst Neandertaler spielte, zeigt uns die Hügelgräber, diese seltsamen Wölbungen im Waldboden, in denen ganze Sippen beerdigt wurden und die deshalb so eindringlich von vergangenen Zeiten berichten.
Wie viele junge Leute hat Michael Wutz nach der Schule seine Heimatstadt verlassen, um die Welt jenseits des malerisch-behäbigen Schwäbisch-Bayern zu entdecken. Er zog nach Berlin und begann ein Studium an der Universität der Künste, erlernte dort bei René Rehfeldt die selten gewordene Technik der Radierung und wurde Meisterschüler bei Leiko Ikemura. Nach dem Studium widmete er sich ein paar Jahre ganz seiner künstlerischen Weiterentwicklung, hielt sich galerielos vom Kunstmarkt fern und beschäftigte sich mit ethnologischen Themen. Seine „Phase des Eskapismus“ nennt er diese Zeit. Nach einigen Arbeitsaufenthalten im Ausland erhielt er 2011 den Horst-Janssen-Grafikpreis, die wichtigste Auszeichnung für Druckgrafik in Deutschland.
Heute lebt und arbeitet Wutz mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Franziska Klotz, in Berlin-Pankow, er wird von zwei wichtigen Berliner Galerien vertreten, stellt deutschlandweit und auch international aus. Doch die Heimat lässt ihn nicht los – weder persönlich noch künstlerisch.
Michael Wutz arbeitet ausschließlich auf Papier. Seine monumentalen Querformate, Tuschezeichnungen oder Gouachen, die bis zu vier Meter breit sein können, sind Schnitte durch imaginäre Landschaften. Dramatisch schimmert oben ein Rest vom Himmel mit gewittrigen Wolkenformationen oder leuchten schmale Streifen orangenen Lichts. Darunter geht es in die Erde, Schicht um Schicht durchzogen von Wurzelwerk, unterirdischen Flüssen und Tunnelsystemen, das ganze Blatt ein einziges Stück Erdgeschichte. Mitunter stützen Pfähle wie im Bergwerk das Erdreich, sind Höhlen und Figuren zu erkennen. Andere Bereiche sind abstrakter und wirken wie topografische Landkarten einer fernen fantastischen Unterwelt.
Der 36-Jährige fährt regelmäßig heim nach Günzburg. Wenn er zum „Suchen“ mit gesenktem Blick über die Äcker streift – nicht selten begleitet von den Flüchen der Bauern, die von dem Volkssport der Region wenig halten –, interessiert er sich vor allem für steinzeitliche Werkzeuge. Er will uns seine Funde später zeigen, doch zunächst wird gegessen. Es gibt Morcheln, die der Vater, ein ehemaliger Geschichtslehrer, selbst gesammelt und getrocknet hat. Denn die Sammelleidenschaft liegt in der Familie. „Jäger und Sammler“ seien die Wutz’schen Männer, der Vater und die drei Söhne. Die Passion für Prähistorie und Heimatgeschichte verbindet die Familie bis heute, einer von Michaels Brüdern ist Grabungsassistent geworden, er arbeitet an Fundstellen in der Nähe.
In Wutz’ Arbeitsraum im Souterrain des Hauses stapeln sich die Setzkästen mit Keilen und Pfeilspitzen. Irgendwann hat er begonnen, die Objekte zu zeichnen, systematisch, ja geradezu besessen. Er habe bemerkt, dass ihm das Aktzeichnen aus der Studienzeit fehle, als Übung, als Didaktik, erzählt er, und an die Stelle der nackten Körper traten die Steine. Er begreife über das Zeichnen, von welcher Seite der Stein beschlagen wurde, wie heftig, wie oft, zu welchem Zweck. Kann unterscheiden, was Abfallprodukt ist, was Werkzeug, was Waffe. Zärtlich fährt er mit dem Finger über das Wellenmuster, das auf der harten Oberfläche entstanden ist. „Die Wellen entstehen durch den Schlag“, erklärt er. „Das sind analoge physikalische Gesetze wie bei einer Wasseroberfläche, wenn man einen Gegenstand hineinwirft.“ „Artefaktmorphologie“ nennt er seine Beschäftigung mit den Steinen, und lange war sie ihm einfach nur handwerkliche Übung, bis irgendwann aus dem gezeichneten Material doch Kunstwerke entstanden. Einige davon, überraschend farbenfroh übermalte Radierungen, hat er kürzlich in der Berliner Galerie Klaus Gerrit Friese gezeigt.
Das Handwerkliche spielt bei Wutz eine zentrale Rolle. Er bezieht sich immer wieder auf Künstler des späten 19. Jahrhunderts, auf Außenseiter wie Gabriel von Max oder Alfred Kubin. Seine Freunde würden ihn aufziehen, „weil er immer schwarze Fingernägel hat“, sagt er, was nicht nur vom Wühlen in der Erde kommt, sondern davon, dass er seine Radierungsplatten eigenhändig bearbeitet – im digitalen Zeitalter eher ungewöhnlich für einen Künstler. Die Ätzflüssigkeit und die Druckerschwärze auf den Platten bleiben an den Fingern kleben, nicht umsonst nennt man die Radierung die „schwarze Kunst“.
Er begreift über das Zeichnen, von wo der Stein beschlagen wurde, wie heftig, wie oft und zu welchem Zweck.
Allein durch die Wahl seiner künstlerischen Mittel durchzieht Wutz’ Werk eine charakteristische Dunkelheit, auch wenn er in jüngerer Zeit vermehrt Farben für sich entdeckt. Der Hang zur Düsternis, zum Schatten, zum Abgrund findet sich genauso in seinen Sujets. Seine Tuschezeichnungen und druckgrafischen Werke wimmeln von Gräbern, Skeletten und Schädeln. Selbst in den ethnologisch inspirierten Werken wie der „Kopfbaum“-Serie, die auf das nordindische Volk der Naga zurückgeht, gilt sein Interesse der Schädelverehrung und der schwarzen Magie. Auf den hübschen bunten Bäumen hocken nicht nur Totenkopfäffchen, sondern tote Menschenköpfe. Und schaut man seine großen Landschaftsquerschnitte genauer an, spazieren biedermeierlich gekleidete Skelette durchs Bild, graben Tote in der Erde, lauern Höhlen voller Köpfe. Es ist eine schwarze Kunst im doppelten Sinn.
Nun sind Totenköpfe seit ein paar Jahren schick geworden, sowohl in der Populärkultur als auch in der Gegenwartskunst, man denke nur an Damien Hirsts diamantenen Verkaufsschlager. Doch die makabre Welt von Michael Wutz lässt sich nicht auf einen einfachen, gar modischen oder effekthascherischen Nenner bringen, sie ist vielschichtig und anspielungsreich. Er erzählt von einem „grundsätzlichen Pessimismus“ in seinem Denken, aber auch vom Verhältnis von Inhalt und Form. Gerade weil das Motiv des Totenkopfs so „durchgekaut“ und zum Kitsch geronnen sei, diene es ihm als „objektiver Fixpunkt“ für seine künstlerische Auseinandersetzung. Natürlich fällt einem seine Liebe zur Archäologie ein, die ja eine moderne Weiterentwicklung der Grabräuberei ist, da die meisten Funde auf Grabbeigaben zurückgehen. Auch der bayerische Katholizismus mag seinen Niederschlag gefunden haben, etwa die Zelebrierung des Todes in Beinhäusern, wo die zu bizarren Mustern gestapelten Knochen in einem Zwischenreich auf ihr zweites Leben nach dem Jüngsten Gericht warten. Die Kuratorin Henriette Huldisch, früher am Hamburger Bahnhof in Berlin und jetzt am MIT List Visual Arts Center in Massachusetts, hat Wutz’ frühe animierte Werke mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht, mit Artaud und Lautréamont und deren Faszination für das Böse und den Traum. Dies lässt sich auch mit einer irritierend poetischen Serie von Tuschearbeiten aus der jüngeren Zeit in Zusammenhang bringen. In den alptraumhaften Szenen, die mal an Séancen, mal an Sezierungen denken lassen, untersuchen Wissenschaftler abgeschnittene und geöffnete Köpfe, leuchten schmutziggelbe Flüssigkeiten in Reagenzgläsern, verlassen seltsame Stoffe die Toten.
Eine weitere Spur zum Herz der Finsternis in Wutz’ oft verstörendem Kosmos führt zurück in seine Heimatstadt, und so blicken wir wieder nach Günzburg. Denn dieser Ort hat in der Vergangenheit nicht nur durch die Habsburger oder die Kriege Napoleons auf sich aufmerksam gemacht, sondern vor allem durch einen Sohn der Stadt, dessen Name auf immer mit höchster Menschenverachtung und Grausamkeit verbunden sein wird. Josef Mengele wurde im Jahr 1911 als ältester Sohn des Landmaschinenunternehmers Karl Mengele in Günzburg geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend, bevor er die Stadt 1930 zum Medizinstudium verließ. Das Unternehmen des Vaters war in der Nazizeit und bis in die 1960er-Jahre der größte Arbeitgeber im Ort, bis heute gibt es eine Karl-Mengele-Straße in Günzburg. Josef Mengele musste sich der Verantwortung für seine Verbrechen als Lagerarzt in den KZs Auschwitz und Groß-Rosen, wo er maßgeblich an den Selektionen beteiligt war und medizinische Experimente an Tausenden Häftlingen, darunter Hunderten von Kindern durchführte, nie stellen. Er floh nach 1945 zunächst nach Oberbayern und dann weiter nach Südamerika, wo er, wie man heute weiß, 1979 infolge eines Schlaganfalls ertrank.
Seit den 1960er- bis in die 1980er-Jahre hinein wurde weltweit fieberhaft nach Mengele gefahndet, in dieser Zeit erlangte Günzburg traurige Berühmtheit. Die Stadt wurde in der amerikanischen Presse zur „Mengele-town“. Denn der „Todesengel“ von Auschwitz konnte nur deshalb jahrelang unerkannt in Lateinamerika leben, weil seine Familie ihn unterstützte, allen voran der Prokurist der Firma, der die Finanzen des Flüchtigen regelte. All diese Verstrickungen haben dazu geführt, dass die Einwohner Günzburgs zwischenzeitlich unter Generalverdacht als Mengele-Freunde gerieten. Auch weil über Jahrzehnte keinerlei Aufarbeitung vor Ort erfolgte und vieles beschönigt wurde, was nicht zu beschönigen ist. Erst im Jahr 2005 wurde ein Mahnmal zum Gedenken an die Mengele-Opfer in Günzburg errichtet.
Auf die Frage nach diesem dunklen Teil der Geschichte seiner Heimat und einem Reflex auf sein Werk antwortet Michael Wutz zurückhaltend, beinahe ausweichend und greift zur Zigarette. Er verweist auf eine frühe Radierung, „Germania 1“ aus dem Jahr 2008, ein zwei Meter breites, aus mehreren Blättern bestehendes Werk, das Hitlers utopische Welthauptstadt, in tiefes Schwarz getaucht, darstellt. Das Blatt sei das Ergebnis eines Ringens gewesen, das Thema Nazizeit „angemessen“ zu bearbeiten, ohne in Provokationen à la Jonathan Meese mit seinen Hitler-Grüßen zu verfallen oder gar einer, wie er es nennt, „neokonservativen Faszination“ zu erliegen.
Im Versuch einer weiteren Annäherung fahren wir nach Ichenhausen. Die 8000-Seelen-Kleinstadt, die zum Kreis Günzburg gehört, ist der Geburtsort von Michael Wutz, im dortigen Krankenhaus kam er zur Welt. Ichenhausen ist auf den ersten Blick ein idyllisches Städtchen mit so engen Gassen, dass unser Auto kaum hindurchpasst. Nach mehrmaligem Abbiegen von einer Gasse in die nächste stehen wir vor der ehemaligen Synagoge, ein in der Kleinstadtdimension schon von außen imposanter Bau mit schmalen, hohen Fenstern. Eine Angestellte der Stadtverwaltung lässt uns hinein, zeigt dem Künstler aus der Nachbarstadt den prächtigen Gebetsraum und die Mikwe, das rituelle Tauchbad im Keller, die Empore für die Frauen und die Schubladen voller wunderschön bestickter Thorawimpel, die aus den Stoffwindeln der Jungen bei der Beschneidung genäht werden.
Im Jahr 1830 war die Hälfte der Bevölkerung von Ichenhausen jüdisch, auch 1933 waren Juden mit 13 Prozent im landesweiten Vergleich weit überdurchschnittlich vertreten. Sie lebten Seite an Seite mit ihren christlichen Nachbarn, wie eine Ausstellung im Gebäude zeigt, in der Fotos aus Sportvereinen oder vom Kinderfasching zu sehen sind. Ichenhausen und andere Kleinstädte in Schwäbisch-Bayern waren ebenso wie Unterfranken Zentren der sogenannten Landjuden, die hier seit Jahrhunderten siedelten, nachdem sie im Spätmittelalter aus den Städten vertrieben worden waren.
Nach Hitlers Machtergreifung begann für die Ichenhausener Juden so wie überall in Deutschland das große Leiden und Sterben. Von den 427 ansässigen jüdischen Menschen hat es nur gut ein Drittel in den Folgejahren in die Emigration geschafft, alle übrigen wurden deportiert und ermordet, starben infolge alltäglicher Schikanen, oder es verliert sich ihre Spur.
Heute leben keine Juden mehr in Ichenhausen, ebensowenig wie in den anderen Kleinstädten der Region, das Landjudentum existiert nicht mehr. Die Auslöschung war total, der Verlust unwiederbringlich. Die Ichenhausener Synagoge wurde in der Reichspogromnacht 1938 verwüstet, die Thorarollen zerstört, nur wegen der dicht stehenden Häuser der christlichen Nachbarn brannte man sie nicht komplett nieder. Nach dem Krieg nutzte man das Gebäude geschichtsvergessen jahrzehntelang als Feuerwehrstation, erst in den 1980er-Jahren besann man sich der Vergangenheit, stellte den ursprünglichen Bauzustand weitgehend wieder her und öffnete das Haus als Museum und Begegnungsstätte. Es herrscht eine merkwürdige Stimmung in diesem einstigen Gotteshaus mit der strahlend blau bemalten Himmelszeltdecke – seine Schönheit berührt und wirkt dennoch tot. An die Ostwand, wo einst der Thoraschrein stand, hat man bei der Restaurierung in Trompe-l’Œil-Manier einen Vorhang aufgemalt. Das geistige Zentrum ist nur noch Kulisse.
Zu seiner »Germania«-Arbeit erzählt Michael Wutz noch eine Anekdote. Ein Berliner Sammler erwarb vor einigen Jahren eine Radierung aus der Serie, zunächst begeistert von der Schönheit und Strenge des Werks, von seiner formalen wie inneren Dunkelheit. Doch kürzlich hat er es wieder an Wutz’ Galeristen zurückverkauft.
Der Sammler konnte sich an die Finsternis nicht gewöhnen.
Diesen Beitrag finden Sie in WELTKUNST Nr.117/2016
Noch bis 11. März 2017 sind in der Galerie Klaus Gerrit Friese, Berlin, in der Ausstellung »In den Kabinetten: Felix Droese – Via Lewandowsky – Michael Wutz« druckgrafische Werke von Michael Wutz zu sehen