Schon immer war die Kunst ein Aushängeschild der Donaumetropole. Doch in den letzten Jahren ist hier auch eine lebendige junge Szene entstanden, die als Magnet für Künstler, Galeristen und Kunstbegeisterte wirkt. Ihr Geheimnis? Ein entspanntes Nebeneinander von Ringstraßen-Flair, Shabby Chic und Hipstertum.
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16.12.2016
Die drei jungen Leute, die im biederen 18. Bezirk Wiens die Straßenbahn betraten, hätte man wohl selbst dann der Kunstszene zugeordnet, wenn man sie nur durch die Nebel-Installation „Yellow Fog“ von Olafur Eliasson an der Freyung wahrgenommen hätte. Die Frau trug Hut, einen weiten, leichten Sommermantel und enge schwarze Hosen. Ihre Begleiter hatten jeweils eine dieser Stofftaschen, auf denen stets das Logo eines Mode- oder Kunstfestivals prangt, über die Schulter geworfen. Die drei strahlten jene Art von Lässigkeit aus, der man so häufig auf den Kunstakademien und in den Galerien wie Offspaces dieser Stadt begegnet. Eine halbe Stunde später schlenderte das Hipster-Trio im 1. Bezirk in die Eschenbachgasse, wo man einige der wichtigsten Galerien der Stadt findet, und diffundierte sogleich in der Menge.
Dort wurde nämlich gerade das Festival „Curated by“ eröffnet, bei dem internationale Kuratoren Ausstellungen in Galerieräumen gestalten. Man kam kaum vom Fleck, weil man ständig neue Künstler, Kuratoren, Kollegen, Galeristen, Museumsleute und Sammler traf. Ein wenig fühlte sich der sommerlich warme Septemberabend wie Schulbeginn an. Nach einem langen Sommer hatte man einander eine Menge zu erzählen, und ja, die Kunst gab es auch noch. Eine exzellente Ausstellung etwa hatte die Leiterin des Hamburger Kunstvereins, Bettina Steinbrügge – früher Kuratorin am Wiener 21er Haus –, in der Galerie Krobath kuratiert, bei der sie Werke moderner Meister wie Henri Michaux oder Man Ray den Skulpturen der 1971 geborenen Sofie Thorsen gegenüberstellte. Die Dänin lebt seit über zehn Jahren in Wien. Später am Abend feierte man im Museum für angewandte Kunst die Opening-Party. Die Stimmung war derart angeregt, dass die Reden in der Neorenaissance-Säulenhalle kaum zu hören waren. Der Wiener Tanzschulchef und Benimmpapst Thomas Schäfer-Elmayer wäre angesichts derart schlechter Manieren wohl in Ohnmacht gefallen. Doch wen kümmert’s?
Zwei Wochen später ging die Kunstsause weiter – neben der Vienna Design Week eröffneten im September Wiens wichtigste Kunstmesse, die viennacontemporary, und deren Satellit, die Parallel. Da wie dort: Gedränge. Wer behauptet, dass die bildende Kunst in Wien – wegen einer angeblichen Übermacht der darstellenden Künste – einen schlechten Stand habe, der hat die Donaumetropole noch nie im September besucht. Oder im Oktober (Monat der Fotografie) beziehungsweise November (Vienna Art Week).
Zugegeben: In den vergangenen Monaten dominierten Diskussionen, die von Schöngeist weit entfernt waren. Agnes Husslein, die tatkräftige Direktorin des Belvedere, musste sich heftigen Vorwürfen stellen, hatte sie doch – wie übrigens Jahre zuvor einige ihrer Kollegen – Ressourcen des Museums privat genutzt. Monatelang debattierte man über Kilometergeld- und Restaurantrechnungen sowie Dienste von Museumsmitarbeitern, die Husslein in ihrer Privatwohnung in Anspruch genommen hatte. Der zuständige Kulturminister entschied sich schließlich dafür, den Vertrag mit der noch bis Ende 2016 amtierenden Kunsthistorikerin nicht zu verlängern; wer ihr folgt, war bis Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Petitionen – pro wie contra Husslein – kursierten, eine hitzige Diskussion teilte die Kunstszene in zwei Lager, die einander bisweilen bösartig bekämpften. Auch das ist Wien.
Die Zeiten, als die Stadt für gemütliche und leicht hinterwäldlerische Beschaulichkeit stand, sind lang vorbei. Der Tourismus boomt, die Kunstmuseen – Kunsthistorisches Museum, Mumok, Leopold Museum, Albertina und Belvedere – sind Magneten für Gäste. Dass einige wichtige Institutionen (Essl Museum, Generali Foundation, Bawag Foundation) schließen mussten, tut der Beliebtheit Wiens keinen Abbruch.
Stetig strömen neue Künstler und Kunststudierende in die Stadt, aus den Bundesländern und aus dem Ausland. Das hat einen Grund. Die 1984 geborene Bildhauerin Angelika Loderer, die aus der Steiermark zum Studium nach Wien übersiedelte, meint: „Wien hat für Künstler sehr viel zu bieten. Es gibt im Vergleich zu anderen Ländern viele Förderungen und Stipendien. Museen und Musik sind die Aushängeschilder der Stadt.“ Für eines dieser Aushängeschilder wird sie demnächst ihre Arbeiten präsentieren. Der traditionsreiche Künstlerverein Secession lud sie für 2017 zu einer Ausstellung ein. Darauf darf man gespannt sein.
Die frühere Studentin von Erwin Wurm geht die Bildhauerei nämlich ebenso grundsätzlich wie gewitzt an: Sie gießt Maulwurfgänge mit Aluminium aus und presst Quarzsand zu abstrakt-reduzierten Skulpturen. Gerade übersiedelte die Tochter eines Kunstgießers, die ihr steirisches Idiom keineswegs abgelegt hat, ihr Atelier von einem zugigen, unter den Stadtbahnbögen gelegenen Raum in ein – etwas zentraleres – Gemeinschaftsstudio im 3. Bezirk, das sie mit dem Kollegen Simon Iurino bezog. Glücklicherweise gestaltet sich die Suche nach bezahlbarem Arbeitsraum für junge Künstler nicht so schwierig wie anderswo. „In Wien sind die Mieten nicht so hoch wie in New York, London oder Paris. Es ist aber auch nicht so überrannt wie Berlin. Und trotzdem wird einem nicht langweilig.“
Loderer ist wahrlich nicht die einzige Fürsprecherin. Christina Steinbrecher-Pfandt – sie wurde in Kasachstan geboren, brachte als viennacontemporary-Leiterin in den vergangenen Jahren die Kunstmesse auf Vordermann und hegt eine gewisse Vorliebe für Outfits in Knallfarben – sagt: „Die 18 Millionen Touristen, die jährlich nach Wien reisen, kommen wegen der Kultur. Stadt und Kulturszene versuchen, dem gerecht zu werden. Wir haben ein sehr dichtes Netz an qualitativ hochwertig arbeitenden Kunstinstitutionen mit internationalen und lokalen Kunstpositionen.“ An der Qualität lasse sich „ablesen, wie international die Wiener Kunstszene ist. Es arbeiten mittlerweile viele internationale Kuratoren und Künstler hier. Wien wird als Kunststadt immer spannender.“
Doch warum sollte man immer nur in Gegenwart und Zukunft schwelgen? Christine König zog bereits 1974 aus der Salzburger Provinz nach Wien. Die ebenso witzige wie resolute Frau baute hier ihre Galerie auf. Neben etablierten Künstlern wie Ai Weiwei, Juergen Teller und Gerhard Rühm, die sie in ihrem Lokal in der Schleifmühlgasse ausstellt, vertritt sie auch jüngere, etwa die Bildhauerin Toni Schmale mit ihren Arbeiten, suggestiven Kreuzungen aus Fitness- und Sadomaso-Geräten.
Wien sei geradezu „superhip“, findet König. Wobei das für sie kein Novum darstellt. „Seit den Fünfzigerjahren ist Wien international bedeutend. Schon damals arbeitete die Wiener Gruppe medienübergreifend, vergleichbar mit Leuten wie John Cage. Nur wurde das in Wien selbst nicht so positiv aufgenommen. Die Situation war grau und stumpf.“ Dabei weiß die Galeristin auch das Traditionelle zu schätzen. Das, so beobachtet sie zusehends, sei auch bei ihren Gästen aus dem Ausland – die sich, so würde man meinen, doch vor allem für die Gegenwartskunst interessieren – beliebt: „Ich sehe das bei meinen Sammlern. Sie wohnen gern im Hotel Sacher, stöbern in Antiquitätenhandlungen oder gehen ins Imperial-Café.“
Wer lange in dieser Stadt lebt, der verliert den Blick für derlei. Die Pracht der Ringstraßenarchitektur wird bald Alltag, der Habsburg-Glamour nervt. Und doch profitiert das Zeitgenössische von der Tradition. Daran wurde der Sammler Michael Klaar kürzlich erinnert – der 42-Jährige ist bekannt dafür, dass er bereits im Alter von 13 Jahren sein erstes Werk, eine Tàpies-Gouache, erwarb. Als er im Vorjahr für Sammler und Kuratoren, die von der viennacontemporary eingeladen wurden, in seiner Wohnung ein Frühstück veranstaltete, stellte er fest: „Dinge wie die Oper sind, das habe ich da gemerkt, auch Assets. Die Situation wird genährt durch Altes, das auf Neues und Neueres stößt. Und es ist erstaunlich, was es in dieser eigentlich nicht so großen Stadt alles gibt.“
Zum Thema Alt trifft Neu liefert gerade die Galerie Beck & Eggeling gemeinsam mit den Kollegen Wienerroither & Kohlbacher ein Lehrbeispiel. In die pompöse Architektur des Palais Schönborn-Batthyány in der Innenstadt hat man die reduzierten Gemälde von Zero-Miterfinder Heinz Mack gesetzt. Das Zusammentreffen von geometrischen Kompositionen in Schwarz-Grau und bordeauxfarbener Brokattapete (bis 15. November) erweist sich als bezwingend. „Mack ist wie ein Renaissancekünstler. Weitblickend, weltoffen. Er kann mit einem Rokokopalais umgehen“, schwärmt Michael Beck.
Das Projekt ist der Auftakt zum Wien-Engagement der Galerie mit Düsseldorfer Stammhaus. Das Palais bespielt Beck & Eggeling nur temporär, parallel zur Ausstellung dort eröffnete man die neuen Räumlichkeiten nahe der Schleifmühlgasse, wo sich Galerie an Galerie reiht. In einem sorgfältig sanierten Gebäude mit lichtem Treppenhaus verbirgt sich der großzügige Showroom, den man nur nach Vereinbarung besichtigen kann. Beck sagt etwas, das man so ähnlich von Neuankömmlingen öfter hört: „Wir sind total in Wien verliebt, es ist eine tolle Stadt.“
Dass er und seine Partnerin Ute Eggeling freilich nicht aus bloß romantischen Gründen hier sind, wird spätestens dann klar, wenn Beck auf das deutsche Kulturgutschutzgesetz – „ein dummes Gesetz, das können Sie gern so zitieren“ – zu sprechen kommt. Aufgrund der Neuerungen könne man in Deutschland beispielsweise keinen Nolde mehr an italienische Kunden verkaufen. So brachte man Teile der Ware bereits vorher nach Österreich. Auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer bewog die Kunsthändler zum Schritt über die Grenze. „Wir gingen nach Wien, um wettbewerbsfähig zu bleiben“, so Beck trocken.
Beck & Eggeling sind nicht die einzige Blutauffrischung aus Deutschland, die der Wiener Kunsthandel gerade erlebt. Im Vorjahr eröffnete die Berliner Galerie Crone eine Niederlassung, und das Galeristenpaar Croy Nielsen verlegte Wohn- und Arbeitsort gleich ganz von der deutschen in die österreichische Hauptstadt. Kein Wunder, dass sich Kunstmesse-Chefin Steinbrecher-Pfandt optimistisch zeigt: „Wir sind eine Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern und 20 bis 25 Galerien, die zu den internationalen Topgalerien zählen. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren fünf neue Galerien hinzugewonnen, und nur eine international agierende Galerie hat sich entschlossen zuzumachen.“
Trotzdem: Wien bleibt die Welthauptstadt des Nörgelns. Entgegen jeder Evidenz wird gern darüber geklagt, dass der Nachwuchs im Kunsthandel gänzlich fehle. Zwar schloss tatsächlich erst kürzlich die verdienstvolle Galerie Andreas Huber. Doch gleichzeitig konnte, wer wollte, in den letzten Jahren zahlreiche Neuzugänge beobachten. Neben unttld contemporary, aa collections, Vin Vin und der Galerie Agnes Reinthaler zählen auch die Galerie Bäckerstraße und der Raum mit Licht zu jenen, die Künstler jüngeren Alters aufbauen. Auch Bechter Kastowsky sowie Straihammer und Seidenschwann, die eher auf eine mittlere Generation fokussiert sind, kamen hinzu. Und gerade in den vergangenen Monaten eröffneten die zwei Junggaleristinnen Nathalie Halgand und Lisa Kandlhofer neue Räume – Letztere einen riesigen Souterrain-Space mit fantastischem Oberlicht nahe der Innenstadt.
Doch finden die jungen Händler – meist: Händlerinnen – auch Käufer für ihre Ware im ohnehin schon dichten Galeriebetrieb Wiens? Den Newcomern ist längst klar, dass sie ihre Sammlerschaft selbst heranziehen müssen. Nathalie Halgand hat zu diesem Zweck einen Young Collectors Circle aufgebaut. „Wir veranstalten Talks mit etablierten Sammlern, fragen diese etwa, wie man eine Kunstkollektion aufbaut und worauf man dabei achten muss“, erzählt sie in ihrem kleinen, aber feinen Laden nahe dem Naschmarkt. Sie zeigt sich zuversichtlich: „Langsam verdienen die Leute aus meinem Umfeld genug Geld, um Kunst erwerben zu können.“ Es scheint zu funktionieren, auch wenn die jüngeren Käufer öffentlich noch nicht so präsent sind. Das beobachtet auch Sammler Klaar: „Es hat sich durchaus eine neue Sammlerschaft entwickelt – die zwar noch immer nicht der wirtschaftlichen Kapazität des Landes entspricht, im Vergleich etwa zu Belgien. Aber es tut sich etwas.“
Andernorts macht man aus der finanziellen Not eine Tugend. In Wien pflegt die Szene eine gewisse Vorliebe für den Shabby Chic, für Zwischennutzungen, bei denen das Vorgefundene einbezogen wird. Keine ganz neue Haltung, aber erfolgreich. Im 4. Bezirk nahe dem Schwarzenbergplatz hat die Kuratorin Angela Stief eine solch ungewöhnliche Location aufgetan: ein leeres Büro in einem nicht besonders hübschen Nachkriegsbau. In der Schau „Off Is“ begrüßt eine gerümpelartige Installation des gerade recht gehypten Christian Eisenberger die Besucher, im Raum dahinter lädt eine Bar zum Verweilen ein. An diesem Spätnachmittag ist es noch hell, dennoch werden erste Drinks gereicht, irgendwer zündet sich eine Zigarette an. Der Bildhauer Peter Sandbichler erläutert den Anwesenden seine Installation aus Karton, die ihr Publikum in Schieflage bringt und so – selbst ohne Alkoholkonsum – taumeln lässt. Unter den Zuhörern findet sich eine mit Schmuck behängte Sammlerin, eingeflogen aus Monaco. Erstaunlich, wer alles den Weg hierher findet.
Doch so cool diese Location in ihrer Abgewohntheit erscheint: Mit der riesenhaften ehemaligen Postzentrale kann sie einfach nicht mithalten. Hier wurde im September die Satellitenmesse Parallel veranstaltet. Bei deren Eröffnung drängte sich das Publikum durch lang gezogene Flure, besichtigte Videoinstallationen in kleinen Amtsstübchen und kuratierte Fotoausstellungen in den großzügigeren Räumen. Zwischen dem auch in dieser Stadt allgegenwärtigen Kunstprekariat und der Kunst-Boygroup Gelatin, die einen menschlichen Aufzug performte, wurde gar Aktionisten-Altmeister Hermann Nitsch gesichtet. Irgendwann strandete das Kunstvolk im Hof. Es wurde wieder spät.
Die Künstlerin Angelika Loserer, Jg. 1984, kam aus der Steiermark nach Wien. Nächstes Jahr wird sie ihre unkonventionellen Skulpturen in der Secession ausstellen. (Bild: Martin Stöbbich für WELTKUNST)