Kunstwissen

Stilkunde: Syrische Glaskunst des Mittelalters

Zahlreichen antiken Quellen zufolge wurde der Werkstoff Glas in Syrien entdeckt. Bis heute zählen Erzeugnisse der islamischen mittelalterlichen Glaskunst zu den Highlights einst fürstlicher europäischer Sammlungen.

Von Gloria Ehret
22.03.2017

Syrien: seit Jahren Schauplatz von Krieg, Zerstörung, Verwüstung und Leid. Auch zu Zeiten der Kreuzzüge ging es dort nicht friedlich zu. Doch damals blühte der Handel zwischen Christen und Muslimen, zwischen Aleppo, Damaskus und Europa – Rohstoffe gegen Luxusgüter.  Zu den eigenwilligsten Zeugnissen zählen Schöpfungen wie die sogenannten Hedwigsbecher und die fragilen Aleppo-Gläser. Was verbindet die heilige Hedwig mit einem islamischen Glastypus des 12. Jahrhunderts?
1174 als jüngste Tochter des Grafen Berthold von Andechs geboren und mit Heinrich dem Bärtigen, Herzog von Schlesien und Polen verheiratet, legte sie nach der Geburt ihrer sieben Kinder 1209 ein Keuschheitsgelöbnis ab und führte ein heiligmäßiges Leben. Fürderhin trank sie nur Wasser – in diesen Zeiten so ungesund wie ungewöhnlich! Doch das Wasser soll sich regelmäßig in Wein verwandelt haben – was den Ruhm der nach ihr benannten Gläser begründete. Das runde Dutzend erhaltener Hedwigsgläser stammt wohl aus Syrien. Man könnte die schweren, dickwandigen, rauchtopasfarbigen Trink­becher mit kräftigem Relief für Art déco der 1930er-Jahre halten, wie Neil MacGregor in Bezug auf das prächtige Exemplar im Britischen Museum treffend schreibt. Als Einziges ist es mit Löwen-, Greif-, Adler-, Blumen- und geometrischen Motiven reliefiert. Vermutlich stammen alle Hedwigsgläser aus einer Werkstatt und gelangten im Zuge der großen islamischen Exporte von „Damaskus-Glas“ über den Handelshafen Akko nach Europa.
Im Jahr 1217 brach Hedwigs Schwager, der König von Ungarn, zum Kreuzzug ins Heilige Land auf. Gut möglich, dass er der Auftraggeber dieser Gläser war, denn das Fragment eines solchen Glases hat sich im Palast von Budapest erhalten. 1267 wurde Hedwig heiliggesprochen. Kein Wunder, dass einige der nach ihr benannten Gläser europäische Edelmetallfassungen erhielten, wie jenes im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, und auch als Reliquiare dienten.

„Aus dem Licht der Himmelsweiten geformt“

Größer könnte der Kontrast dieser gedrungenen Reliefbecher zu den zarten, transparenten, mit bunten Emailfarben und Vergoldung geschmückten „Aleppo-Gläsern“ kaum sein. Ihre Blütezeit fällt in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Nach dem Untergang der Fatimidenherrschaft 1171 erlebte Aleppo unter der Regierung von Nasir II. Yusuf (1237–1260) eine künstlerische Blüte, zu der die weithin exportierten Gläser gehören.
Am markantesten sind hohe, schlanke, zehn bis zwanzig Zentimeter hohe Becher mit trichterförmig erweitertem Lippenrand. Wie „von Luft gefroren, aus einer Staubwolke kondensiert, aus dem Licht der Himmelsweiten geformt oder aus der äußeren Schicht einer weißen Perle entstanden“, beschreibt sie ein zeitgenössischer Dichter. Beispiele finden sich in Paris, Kassel, Köln oder Lübeck. Die Malerei schildert höfische Vergnügungen, Gartenszenen, Musikanten und Ban­kette. Ein Prachtbecher im Louvre stellt drei Polospieler dar, die nach links auf einem roten, schwarzen und weißen Pferd galoppieren: Ein in der damaligen Zeit in Syrien beliebtes Sujet, das Pferdesport und Wettkampf verbindet. Poloreiter schmücken auch eine bauchige Flasche mit Standring und hohem Zylinderhals im Islamischen Museum in Berlin, deren vertikale Rippenwandung durch Anblasen in der Form entstand. In Kassel hat sich ein wunderbarer Aleppo-Becher mit typischem doppelten Boden aus dem Schatz der hessischen Landgrafen erhalten. Seine Wandung zeigt eine umlaufende Gartenszene mit zwei Turban tragenden Musikanten, einen Lauten- und einen Tambourspieler – Instrumente, die zu jener Zeit vom Orient aus Europa eroberten.

Das Museum für Kunst und Kultur in Lübeck besitzt einen Becher, dessen Wandung ebenfalls die damals beliebten, optisch geblasenen senkrechten Riefelungen aufweist. Die Bildzone schmücken reich gewandete „orientalische“ Figuren, die arabische Inschrift lobpreist einen Sultan. Der Becher ist aus den Scherben rekonstruiert, die aus einem Lübecker Brunnenschacht geborgen wurden, der Teil des Besitzes des Ratsherren und Bürgermeisters Pesko war. Zu den aufwendigsten Aleppo-Gläsern gehört ein Trinkhorn in St. Petersburg, dessen sparsame Emailmalerei vier Heilige in faltenreichen Gewändern nebst arabischer Inschrift aus dem Heiligen Land darstellt.
Wohl Mitte des 16. Jahrhunderts erhielt es seine reich verzierte vergoldete Silberfassung mit den zwölf Aposteln und dem Segen spendenden Christus. Eine Inschrift von 1551 bezieht sich auf den livländischen Adeligen Bruno von Drolshagen, der das Horn möglicherweise zur Hochzeit seines Sohnes – vielleicht in Reval? – hat fassen lassen. Vorübergehend in der Kunstkammer des Zaren Peter I. (1689–1725), kam es 1860 in die Eremitage. Trinkhörner hatten im mittelalterlichen Europa eine lange Tradition. In der islamischen Welt waren sie eher selten. Das kostbare gläserne Horn könnte für die christliche Minorität innerhalb der islamischen Gesellschaft oder im Auftrag eines Kreuzfahrers geschaffen worden sein. Denn, wie schon erwähnt, Kunsthandwerk und Handel funktionierten damals über Länder, Kontinente und Glaubenskriege hinweg.

ABBILDUNG GANZ OBEN

Die Petersburger Eremitage besitzt ein syrisches Glas des 14. Jahrhunderts in Form eines Horns (Fassung von 1551), Glass, Emaille, Silber, H: 29,5 cm, vergoldet, (Foto: The State Hermitage Museum, St. Petersburg)

DIESER BEITRAG ERSCHIEN IN

WELTKUNST Nr. 126/2017

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