Kunstwissen

Tomás Saraceno - Im Zeitalter der Luft

Ein Mann will nach oben: Tomás Saraceno baut mithilfe von Biologie und Ingenieurskunst an seiner Vision eines postfossilen, nachhaltigen Lebens. Eine Ausstellung in Südkorea lässt seine poetischen Flugobjekte steigen

Von Verena Emke
16.10.2017

Es ist ein Dilemma: Zwischen seinem Berliner Studio im Bezirk Lichtenberg und seiner aktuellen Soloshow in der Ausstellungshalle des Asia Culture Center im südkoreanischen Gwangju liegen 8331,88 Kilometer. Wenn der Künstler Tomás Saraceno diese Strecke möglichst schnell bewältigen will, werden auf dem Hin- und Rückflug vom Berliner Flughafen Tegel nach Seoul knapp fünf Tonnen Kohlendioxid erzeugt. Von Seoul bis nach Gwangju sind es noch 330 Kilometer, die Saraceno glücklicherweise mit der umweltfreundlicheren Bahn bestreiten kann.

Dabei hat der 1973 geborenen Argentinier eigentlich ganz andere Vorstellungen von Mobilität. Ginge es nach ihm, sollte die Menschheit zukünftig vollständig auf den Verbrauch fossiler Brennstoffe verzichten und sich auf nachhaltige Alternativen der Fortbewegung konzentrieren. „Aerocene“ lautet der Titel seines interdisziplinären Kunstprojekts, das sich als offene Plattform zur experimentellen Erforschung alternativer Lebensräume und Transportmittel in der Luft versteht. Der Titel knüpft an den Begriff des Anthropozäns an, einer Definition unseres Erdzeitalters, in dem der Mensch als wichtigster biologischer Faktor Einfluss auf das Ökosystem nimmt. Durch den Abbau natürlicher Ressourcen, steigende Emissionen, Klimawandel und Artensterben werden unsere langfristigen Lebensgrundlagen auf diesem­ Planeten zerstört. Das Aerozän möchte in der Gestaltung menschlicher Lebensform einen neuen Fokus setzen, denn das Zeitalter der Lüfte steht für eine nachhaltige Zukunft – für eine Art Wiedergutmachung am Planeten Erde. 

Vision einer umweltfreundlichen Luftfahrt

Dass die Verwirklichung von Saracenos Vision einer umweltfreundlichen Luftfahrt in gar nicht weiter Ferne liegen könnte, beweist er im Rahmen seiner Ausstellung in Gwangju. Auf dem Vorplatz des Kulturzentrums präsentiert der Künstler zur Eröffnung das „Aerocene Explorer Kit“. Der große Rucksack enthält sämtliche notwendigen Utensilien, um den Himmel mit einer Ballonskulptur aus wetterfestem Ripstop-Gewebe zu erkunden, die ganz ohne fossile Brennstoffe auskommt. Die Gesetze der Thermodynamik machen es möglich, dass der Ballon schwebt. „Es ist so einfach und unkompliziert“, betont der Künstler, für den Flug sind lediglich Luft und Sonnenwärme von­nöten. Mit allerlei Messgeräten in einer kleinen Plastik­flasche zeichnet der Explorer relevante Informationen zu Luftdruck, -qualität, -feuchtigkeit, Temperatur auf und macht darüber hinaus Videoaufnahmen seiner Umwelt. Schon laufen Saracenos Assistenten über den Platz und beginnen, den Explorer mit Luft zu befüllen, wodurch sich das filigrane­ Gebilde vor den Augen der Zuschauer eindrucksvoll entfaltet. Nach zwei Minuten schwebt das halb transparente Flugobjekt, befestigt an einem Nylonseil, sanft über dem Boden.

Das Projekt ist auf eine hierarchielose Partizipation ausgelegt: Auf der Website www.aerocene.org kann sich jeder Aerophile ein Kit ausleihen oder mithilfe einer Anleitung seine eigene Ausführung zusammenbauen. Auch die gewünschte Flugroute lässt sich bereits mithilfe eines entsprechenden Tools, das die natürlichen Luftströme für die Kalkulation nutzt, auf der Internetseite genau berechnen. Im Moment aber dürfen die Prototypen gemäß den Luftverkehrsgesetzen nur unbemannt und angeleint über dem Boden schweben. Auch die Steuerung des Flugobjekts wirft noch einige Fragen auf. Die Messungen, die Saraceno mit Wissenschaftlern unternahm, kalkulierten beispielsweise für einen Flug von Paris nach Boston etwa zwölf Tage, wobei vorausgesetzt ist, dass sich weder der Wind dreht noch eine Veränderung der Flughöhe stattfindet. Das Open-Source-Projekt ist auch eine Einladung zum Einbringen von Wissen und Ideen. 

Erste Erfolge konnte Saraceno bereits verbuchen: 2015 gelang es dem Kollektiv, in der Wüste von White Sands in New Mexico einen Weltrekord aufzustellen, bei dem sie ein bemanntes Flugobjekt achtmal hintereinander zwei Stunden über dem Boden schweben ließen. Im Juli schaffte ein Tandemballon, der zuvor für einen Freiflug behördlich autorisiert wurde, die 420 Kilometer lange Strecke von Berlin bis nach Łączno im östlichen Polen.

Die Grenzen zwischen Nationen sind ebenso überholt wie die zwischen Fachrichtungen

Das „Aerocene“-Projekt basiert auf Tomás Saracenos früherem künstlerischen Konzept frei schwebender modularer Städte, die keinen festen Standort mehr benötigen. Die Grenzen von Nationen hält er ebenso für überholt wie die Trennung von unterschiedlichen Fachrichtungen. Nach einem Studium der Kunst und Architektur in Buenos ­Aires kam er 2001 nach Deutschland und studierte an der Städelschule in Frankfurt bei Thomas Bayrle und Ben van Berkel. Im Sommer 2009 nahm er am International Space Studies Program im Ames Research Center der NASA im Silicon Valley teil und präsentierte anschließend auf der 53. Venedig Biennale eine monumentale Installation, die vielen Besuchern im Gedächtnis blieb. Ein Netzwerk aus schwarzen Seilen erstreckte sich durch einen großen Saal des Palazzo delle Esposizioni, das an natürliche Mikrostrukturen erinnerte. Ausgezeichnet wurde die Arbeit mit dem renommierten Calder Preis. Darüber hinaus wurde Saraceno für eine Residency ans MIT Center for Art, ­Science and Technology in Cambridge, Massachusetts, geladen. Seine Kooperationen mit Luft- und Raumfahrtingenieuren, Architekten und Naturwissenschaftlern halfen bei der Umsetzung seiner Vision einer fliegenden Zivilisation.

Die zentrale Inspirationsquelle seiner künstlerischen Utopie waren stets Naturphänomene. So konnte er Kenntnisse über die Oberflächenspannung von Seifenblasen oder den Aufbau von Spinnennetzen in seine architektonischen Modelle integrieren. Dabei übten insbesondere die zeichnerischen Entwürfe urbaner Utopien von Architekten wie Frei Otto und Yona Friedman einen starken Einfluss auf Saraceno aus. Sie setzten wichtige Impulse, aus denen er begehbare Miniaturen alternativer, nachhaltiger Lebensformen entwickelte. 2011 begeisterte er das Publikum in der Haupthalle des Berliner Museums für Gegenwart im Hamburger Bahnhof mit seiner Installation „Cloud Cities“.­ Auf einem Netz aus Spannseilen konnten Besucher unter dem Dach in transparenten Plastikkugeln spielerisch Erfahrungen mit einem Leben über dem Boden machen. 

Saracenos Kunst versucht, unsere Wahrnehmung der Umwelt zu schärfen und dem individuellen Menschen seine globale Verantwortung für die Zukunft der Erde bewusst werden zu lassen. Dies wird durch das Fühlen und Erleben seiner Installationen möglich. Es bleibt die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Die von ihm verwendeten Materialien sind Nylon, Plastik, Stahl und viele andere chemisch synthetisierte Stoffe, die unter großem Energieaufwand produziert werden. Sie veranschaulichen ein Dilemma beim Thema Nachhaltigkeit, mit dem Saraceno bei der Entwicklung seiner Konstruktionen konfrontiert ist. 

Im März dieses Jahres wurde unter dem Dach des Düsseldorfer K21 die publikumswirksame Installation „in orbit“ wiedereröffnet. In 25 Meter Höhe über dem Boden der Piazza klettern die Museumsbesucher auf einer Art Spinnennetz aus Stahlseilen, das durch die Bewegung der jeweiligen Personen in Schwingungen versetzt wird. Saraceno macht komplexe Naturphänomene für den eigenen Körper nachvollziehbar und illustriert, dass alles auf der Welt kausal miteinander verbunden ist. Jeder trägt seinen Teil zum Ganzen bei und übernimmt Verantwortung. „Wir müssen mehr zusammenarbeiten, mehr miteinander sprechen. Damit ein Wandel erst möglich wird“, erklärt der Künstler.

Auch in Gwangju stellt Saraceno die menschliche Existenz in einen größtmöglichen Kontext, indem er für uns die Planeten vom Himmel holt. Im Space 1, einer über 2000 Quadratmeter großen Halle, hat er neun sphärisch leuchtende Kugeln im Raum installiert. Die größte von ihnen hat einen Durchmesser von 14 Metern. Der mit schwarzem Teppich ausgelegte Hallenboden gibt dem Besucher ein Gefühl von Schwerelosigkeit in mystischer Gegenwart auratischer Himmelskörper. Ein leises Knarzen und Kratzen, das unregelmäßig durch lautes, dumpfes Klopfen unterbrochen wird, ist zu hören. Sucht man nach der Geräuschquelle, trifft man auf ein weiteres Element der Installation, dessen Aufgabe erst erschlossen werden muss. In einem offenen Karbonkubus befindet sich eine lebende Seidenspinne, die ihr feines Netz webt. „Es ist eine komplex verwobene Geometrie aus hybriden Netzen verschiedenster Spinnenarten“, erläutert Saraceno. 

Zuvor haben bereits andere Spinnen ihre Netze in dem Quader gesponnen. Nun sitzt dort eine Nephila edulis und verwendet vorhandene Strukturen, um ihre eigene Architektur zu bauen. Dabei sind ihre Fäden um Mikrofone gespannt, die die Bewegungen der Spinne klanglich aufzeichnen und auf einen Lautsprecher übertragen. Der Sound versetzt den Korpus der Box in Schwingung, wobei Staub aufgewirbelt wird. Mithilfe einer Echtzeitübertragung wird die Dynamik des Staubs als großformatige Videoprojektion gezeigt. 

Alles steht in dieser Ausstellung in Wechselwirkung zueinander. Nähert sich der Besucher der Installation, beeinflusst er durch seine Atmung und Bewegungen die Flugbahnen der Staubpartikel und wird zum Teil der Sinfonie. Der Künstler setzt auf die Umkehrung der Betrachtungsrichtungen mit poetischen Mitteln. Unsere Sinne sind die Grundlage unseres Wissens. Was wir sehen, hören, riechen und fühlen können, versuchen wir zu verstehen und einzuordnen. Das Publikum tritt mit einem Universum aus lebenden und unbelebten Elementen in einen Dialog. „Häufig konzentrieren wir uns zu sehr auf nur eine Sache, sodass der Rest ringsherum irrelevant wird. Das führt dazu, dass wir zum Teil ausblenden, auf welche Weise in unserem Ökosystem ­alles miteinander verbunden ist“, so ­Tomás ­Saraceno. 

Währenddessen arbeiten die zahlreichen Mitarbeiter in seinem Berliner Studio schon wieder an neuen Projekten: Im obersten Geschoss des Gebäudes befindet sich eine riesige Spinnennetzsammlung. Naturkundemuseen weltweit sind bereits auf diesen Schatz aufmerksam geworden, bieten Hilfe bei der Pflege der Tiere an und stellen die Kuben in ihren Häusern aus. Hinter einem schwarzen Vorhang verbergen sich auf einem unscheinbaren Metallschrank kleine Aquarien, in denen hoch spezialisierte Spinnenarten unter der Wasseroberfläche ihre Netze gebaut haben. In einer Art Taucherglocke warten die Spinnen auf ihre schwimmenden Opfer. Wie dieses Naturschauspiel Einzug in sein Werk halten wird, ist noch unklar. Man kann nicht vorhersagen, was Saraceno in Zukunft für uns bereithält. Doch es scheint, als erobere seine Kunst nach luftigen Höhen bald ein neues Element: das Wasser.

Service

Ausstellung

„Tomás Saraceno. Our Interplanetary Bodies“, Asia Culture Center, Gwangju, Korea, bis 25. März

Dieser Text erschien in

WELTKUNST Mr. 133 / 2017

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