Am 23. Januar 1832 wurde der Impressionist geboren. Der Kunsthistoriker und Journalist Peter Kropmanns blickt auf eines seiner berühmtesten Werke
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23.01.2018
Das Bild schlechthin, das mit „Picknick“ in Verbindung gebracht wird, Manets „Le Déjeuner sur l’herbe“, war 1863 kaum vollendet, da wurde es in Paris zum polarisierenden Stadtgespräch. Seitdem verbinden wir es ebenso stark mit dem Wort „Skandal“: Während der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Ernest Chesneau das „wenig Keusche“ der Szene 1864 verärgert als das „Erstaunenwollen des Bürgers“ abtat, erklärte der Kritiker und Romancier Émile Zola 1867, der Urheber des Bildes sei zu Unrecht als „Voyeur“ verunglimpft worden – das Thema sei lediglich Vorwand gewesen, Können unter Beweis zu stellen. In der Tat erlaubte das Sujet, Vielseitigkeit demonstrieren zu können – als Maler einer Landschaft, einer Figurengruppe, eines Akts, eines Stilllebens, von Porträts sowie eines großen Formats. Hat Édouard Manet, damals 31 Jahre alt, bewusst auf einen Eklat gesetzt? Er selbst benutzte zwar 1872 den Titel „La Partie carrée“, eine Bezeichnung, die eindeutig zweideutig verstanden werden kann („Flotter Vierer“). Doch gehörte der Künstler zur distinguierten Gesellschaft, und im älteren Sprachgebrauch bedeutete der Begriff nur einen Spaziergang zweier Paare, wie ihn Antoine Watteau 1713–1714 als „galante Szene“, aber auf einem unverfänglichen Bild gezeigt hatte.
Im damaligen Zweiten Kaiserreich bestanden strenge Regeln in der Malerei. Ein seit Jahrhunderten etablierter Kanon sowie ihre darüber wachenden Instanzen entschieden über Themen, Techniken und Darstellungsweisen – und über Wohl und Wehe der jungen Künstler. Eigensinniger Nachwuchs scheiterte an den Hürden, die errichtet worden waren, um angepasste Talente zu fördern und renitente Aspiranten zu isolieren. Filter war der zumeist jährlich stattfindende Salon, wo längst nicht alles, was eingereicht wurde, angenommen wurde. Vielmehr wachte eine Jury darüber, was ausgestellt werden könnte und was zurückzuweisen („refuser“) sei. 1863 wurde mehr als die Hälfte der eingereichten Werke refüsiert. Der Unmut über dieses System, das für noch nicht etablierte Künstler moralisch schwer zu verkraften war und ein Desaster darstellen konnte, weil sie dadurch nicht ohne Weiteres am Kunstmarkt teilhaben konnten, wuchs damals derart, dass der Kaiser intervenierte. Napoleon III. entschied, eine separate Ausstellung zeigen zu lassen, zumal er selbst den Eindruck hatte, die Jury habe übers Ziel geschossen.
Schon am ersten Tag suchten über 7000 Besucher den „Salon des Refusés“ auf. Dabei entdeckten sie auch das allein wegen seiner stattlichen Maße (214 x 270 cm vor späterem Beschnitt) unübersehbare Gemälde mit dem damaligen Titel „Le Bain“ („Das Bad“). Es irritierte sowohl wegen seiner Malweise als auch wegen seines Motivs. Die recht grobe Modellierung der Figuren und Objekte sowie das Skizzenhafte im Auftrag wichen von der Norm ab. Wie der energische Pinselstrich den Malprozess selbst nachvollziehen lässt, zeigt sich am meisten an der Landschaft im Hintergrund und an Details, etwa an dem Stillleben aus Korb, Früchten, Hut und Kleid, an dem sich ihm nähernden Frosch und dem über der Szene flatternden Zeisig. Zur expressiven Faktur kommen starke Kontraste: leuchtend weiß erscheint die Haut der Hauptfigur, tiefschwarz Barett, Bart und Gehrock ihres Gegenübers. Manet wurden ferner Schwächen in Komposition, Perspektive und Anatomie vorgeworfen. Dabei sind die Figuren einem geometrischen Gerüst mit Fluchtlinien eingeschrieben und die Gründe gestaffelt. Als Inspiration dienten im Übrigen klassische Darstellungen aus dem Themenkreis Bad mit Flussgöttern und Nymphen –darunter ein Kupferstich von Raimondi, der um 1515 nach einer Komposition von Raffael entstanden war. Manet griff dabei ein einzelnes Motiv auf, um ihm einen neuen Kontext zu verleihen. Das Gemälde „Ländliches Konzert“ von Tizian im Louvre hatte ihn ebenfalls elektrisiert. Einmal so malen zu können, aber angepasst an die Gegenwart! Zudem scheute er keineswegs Anspielungen auf die Moderne. Courbet war 1857 als führender Maler der Zeit mit dem motivisch verwandten Bild „Les Demoiselles des bords de la Seine“ hervorgetreten. Dass jetzt ganz Paris von Manets Szene sprach, hat auch mit diesem Fehdehandschuh zu tun; seht her, das kann ich auch! Damit forderte ein zweiter Nonkonformist das Establishment heraus, und Jüngere wie Monet, Renoir und Bazille waren begeistert: Es ist also doch möglich, der Verkrustung entgegenzuwirken!
Ungeachtet der Anleihen posierten Manet nahestehende Personen: in der Mitte Ferdinand Leenhoff, Bruder von Suzanne Leenhoff (der späteren Frau Manets); rechts Eugène Manet, einer der Brüder des Malers (und spätere Ehemann von Berthe Morisot); dahinter Alexandrine Meley (alias Gabrielle), die spätere Frau Zolas. Ins Zentrum rückte Manet sein Modell Victorine Meurent, das er im selben Jahr auch als „Olympia“ verewigte. Für die Aue dienten Eindrücke, die er an der Seine bei Argenteuil, an der Île de Saint-Ouen nordwestlich von Paris, gesammelt hatte. Er wusste um die zunehmende Bedeutung der Pleinair-Malerei, hielt aber an der Tradition fest und malte in seinem Atelier.
Offiziell wurden formale Schwächen angeprangert. Doch konsternierte damals das Publikum – Formwahrung und Schicklichkeit prägten die Moralvorstellungen –, dass das Bild auf engem Raum zeitgenössisch gekleidete Männer im Beisein einer entblößten Frau in intimer Runde zeigt. Sind hier Söhne aus gutem Hause im Beisein einer schnellen Eroberung von zweifelhafter Tugend dargestellt? Und erst die zudringliche, unverschämte Direktheit, mit der diese Person den Betrachter fixiert! Wie sie ohne Anstand ihre Blöße kaum verbirgt, mit einem Knie und einem Fuß ihren Nachbarn fast berührt! Wie hastig sie ihre Hüllen abgelegt und zugelassen haben muss, dass der abgestellte Korb umkippt! Die im nahen Gewässer watende, ihr Kleid schürzende und dabei ihre Hand anlegende zweite junge Frau wirkt auch wie aus dem vollen Leben gegriffen. Haben hier zwei Paare die Stadt verlassen, um Erfrischung, aber auch Freizügigkeit auf dem Land zu suchen? In einer Epoche mit viel echter und noch mehr gespielter Prüderie in der besseren Gesellschaft, in der Kokotten, Kurtisanen und Mätressen eine Rolle spielten, offiziell aber nicht existierten, wurde derart Pikantes allenfalls im Männern vorbehaltenen Rauchersalon, unter Gelächter, erzählt.
Hinweise auf Ehrgeiz und Ernst eines jungen Talents gibt es ebenso wie auf Ulk, Parodie, sogar auf einen Zug zur Farce: In der Darstellung eine klare Botschaft erkennen zu wollen ist müßig. Komplexität, ja Rätselhaftigkeit lösen sich kaum auf, indem Bildelemente herausseziert werden – man wird stets auf die gesamte Anlage und die Verklammerung ihrer Details zurückgeworfen. Manet zeichnete sich mit seinem ersten kapitalen Werk dadurch aus, dass er eine unerhört komprimierte und suggestive Synthese aus Studiertem und Erlebtem erreicht hat. Die damit verbundene Ambivalenz führte zur Irritation und brachte dem Gemälde „Das Frühstück im Grünen“, das moralische Kategorien ansprach, aber besonders malerische Konventionen infrage stellte, das Etikett des ersten Bildes der Moderne ein.