Es ist unübersehbar: Wir erleben gerade eine massive Umschreibung der Kunstgeschichte. Jene Hälfte der Menschheit, der bis vor rund hundert Jahren der Zutritt in die Kunstakademie verweigert wurde, reklamiert sich derzeit in den Kanon hinein. Dorthin, wo sie längst verankert sein sollte.
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07.12.2018
Als feministische Kunsthistorikerinnen in den 1970er-Jahren mit Überblicksausstellungen und Publikationen auf weibliches Kunstschaffen der vergangenen Jahrhunderte aufmerksam machten, waren sie noch allein auf weiter Flur. Heute scheint die Wiederentdeckung von bemerkenswerten Künstlerinnen der Vergangenheit fast so etwas wie ein Sport geworden zu sein. Kannte vor wenigen Jahren noch kaum jemand eine Hilma af Klint, so gilt die schwedische Malerin heute als Pionierin der Abstraktion. Sagte der Name Carmen Herrera um die Jahrtausendwende bestenfalls Insidern etwas, so feiern jetzt die wichtigsten Museen der Welt die mittlerweile 103 Jahre alte Kubanerin. Und wenn ein Kunstgeschichte-Professor mit Schwerpunkt Moderne (wie jener der Autorin dieses Textes) noch in den 1990er-Jahren die schiere Existenz von Surrealistinnen anzweifelte, so präsentiert jetzt die Reina Sofía in Madrid das Œuvre Dorothea Tannings.
Landauf, landab rücken Überblicksausstellungen den weiblichen Anteil der Kunstgeschichte ans Licht. Das Museum voor Schone Kunsten in Gent präsentiert „Die Frauen des Barock“, das Münchner Lenbachhaus frühe weibliche Abstrakte wie eben af Klint („Weltempfänger“), die derzeit auch eine Sensation im New Yorker Guggenheim Museum ist, und das Brooklyn Museum hat Künstlerinnen von Käthe Kollwitz bis Nancy Spero aus dem Depot geholt und zeigt deren Werke: „Half the Picture: A Feminist Look at the Collection“.
Der Markt zieht ebenfalls mit. In der New York Times schrieb Mary Gabriel erst kürzlich, dass alleine in den Frühjahrsauktionen in New York 15 Künstlerinnen neue Preisrekorde aufstellten. Im Oktober triumphierte das Wiener Dorotheum mit einem unerwarteten Preis für ein Gemälde der italienischen Barockmalerin Artemisia Gentileschi: 1,9 Millionen Euro (Aufgeld inklusive) spielte ihre „Lucretia“ ein.
Im Vorjahr wurde ihr Selbstporträt als heilige Katharina für 2,4 Millionen Euro in Paris versteigert. Der Händler, der zum Zug kam, verkaufte dasselbe Bild vor wenigen Monaten an die Londoner National Gallery, Kostenpunkt: umgerechnet 4,1 Millionen Euro. Auch demnächst könnten Rekorde gebrochen werden. Am 6. Dezember versteigert Christie’s London Judith Leysters „Fröhliche Gesellschaft“, Taxe: 1,7 Millionen Euro. Auch die Konkurrenz von Sotheby’s setzt den Schätzwert einer alten Meisterin hoch an: Ein Stillleben der Barockmalerin Fede Galizia, das am 30. Januar in New York unter den Hammer kommt, liegt bei 1,7 bis 2,6 Millionen Euro. Sollten nur die unteren Schätzwerte erzielt werden, so sprengten beide Lose die Auktionsrekorde der jeweiligen Künstlerinnen. Mary Gabriel stellte zu den neuen Preisrekorden von Künstlerinnen die Frage: „Ist dieser Trend das Ergebnis einer Mode? Sind Arbeiten von Frauen bloß ein neuer Hype im Goldrausch des Kunstmarktes? Oder rührt das Augenmerk darauf auf tatsächlicher Anerkennung? Falls Letzteres zutrifft, dann gibt es wahrlich einen Grund zu feiern.“
Die Kunsttheoretikerin Isabelle Graw beschrieb noch in ihrem 2003 erschienenen Buch „Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts“ das Phänomen der „Ausnahmefrauen“. Sie beobachtete mit Blick auf den ökonomisch bestimmten Kunstmarkt, „dass es innerhalb einer künstlerischen Formation immer nur eine Künstlerin gibt, die sich ökonomisch durchsetzt und deren Werke in den oberen Preiskategorien gehandelt werden“. Kunsthistorikerinnen und Biografinnen feierten Künstlerinnen gerne „wie einsame Heldinnen“, so Graw. Doch heute, 15 Jahre nach Erscheinen ihres Buches, hat sich die Lage verändert. So steht etwa Helen Frankenthaler als abstrakte Expressionistin längst nicht mehr allein da (Lee Krasner und Joan Mitchell würden dagegen protestieren). Ebenso wenig kann Artemisia Gentileschi als einzige Malerin des Seicento durchgehen (es sei denn, man ignorierte beispielsweise Virginia da Vezzo und Elisabetta Sirani).
Je mehr Malerinnen und Bildhauerinnen vergangener Jahrhunderte sich in die Kunstgeschichte einreihen, desto mehr zeigt sich, wie groß ihr Anteil am Kunstschaffen tatsächlich war. Darüber soll ab Herbst 2019 auch eine Datenbank Aufschluss geben: „A Space of Their Own“ – in Anspielung auf Virginia Woolfs feministischen Essay „A Room of One’s Own“ – heißt das Projekt, bei dem Interessierte nach Kunstwerken von Frauen aus der Zeit vom 15. bis zum 19. Jahrhundert stöbern können. Freilich: Viele Jahrhunderte Kunstgeschichte werden, historisch bedingt, immer männlich dominiert bleiben. Doch der weibliche Anteil gerät zusehends ins Blickfeld. Er wird aus dem Kanon nicht mehr zu löschen sein.