Kunstwissen

Feier der Langsamkeit

In seinem neuen Buch „Alle Zeit der Welt“ betrachtet Thomas Girst Phänomene von überzeitlichen Dimensionen und spannt einen Bogen von der Astronomie und Religionsgeschichte zu Literatur, Architektur und Kunst, zum Beispiel mit dem Kapitel „Die Eisprozession“

Von Thomas Girst
05.03.2019

Weltreligionen sind Refugien Jahrtausende währender Rituale und Traditionen. Deren Wirkung entfaltet sich gerade dadurch, dass sie durch die Zeit hindurch unverändert Bestand haben und damit Zusammenhalt stiften. So ist das Kamasutra seit bald 2000 Jahren für eine Milliarde Gläubige der unter dem Hinduismus subsumierten Konfessionen eine essentielle Schrift. An der Klagemauer Jerusalems finden sich Juden seit 500 Jahren zum Gebet ein. Mit dem Timkat Fest äthiopisch-orthodoxer Christen gedenken Zehntausende in alten ostafrikanischen Städten wie Gondar oder Lalibela der Taufe Jesu Christi durch den heiligen Johannes: eine Tradition, die zurück ins sechste Jahrhundert reicht. Dicht gedrängt und ganz in Weiß gekleidet, versammeln sich die Gläubigen nächtens an Flüssen und riesenhaften, im Freien erbauten Taufbecken, um in der Morgendämmerung sich und ihre Kreuze mit dem vom Priester gesegneten Wasser zu benetzen. Und keiner hat die »Rompida de la hora« während der vorösterlichen Kawoche im aragonischen Calanda eindringlicher beschrieben als der spanische Filmregisseur und Surrealist Luis Buñuel. 24 Stunden lang trommeln hier seit dem Spätmittelalter Jung und Alt und Mann und Frau mit Schlaginstrumenten aller erdenklichen Größen und allem, was ein Paukengeräusch von sich zu geben vermag – nicht selten im Wein- und Bierrausch, das letzte Abendmahl im Sinn, gekleidet in violette Gewänder und Kapuzen: So wird oft getrommelt, bis das Blut von den Händen spritzt. In Gedenken an das Sterben Christi und das Erdbeben, das sein Tod ausgelöst haben soll, entsteht infernalischer Lärm als Ausdruck des Schmerzes, als letztes Aufbegehren gegen das Unvermeidliche. Noch lange nach dem Getöse, während die Trommeln im Kopf weiterdröhnen, sprächen die Menschen Calandas in seltsam abgehackter Prosodie, so Buñuel. Trotzdem fanden zahlreiche über Jahrhunderte gepflegte Bräuche der katholischen Kirche spätestens in der Moderne aufgrund der Säkularisierung und der Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihr Ende. Die Liturgiesprache Latein während der heiligen Messe wurde von den Landessprachen abgelöst, und seitdem sich der Priester während der Eucharistie nicht mehr der Apsis, sondern den Gläubigen zuwendet, ist der Berufsstand des Dirigenten der letzte, der mit dem Rücken zum Publikum agiert. 

Thomas Girst:
Thomas Girst: "Alle Zeit der Welt", Hanser Verlag, 2019

Eben während der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils aber, am 12. Februar 1963, setzte sich eine feierliche Prozession katholischer und evangelischer Christen über das Eis des vollständig zugefrorenen Bodensees vom deutschen Hagnau ins schweizerische Münsterlingen in Gang. Mit etwa 3000 Gläubigen, die sich an diesem Tag übers Eis wagten, entsprach die Menschenmenge jener Anzahl der Bischöfe und Konzilsväter, die Papst Johannes XXIII in Rom um sich versammelt hatte. Die Wegstrecke übers Wasser von Hagnau nach Münsterlingen beträgt etwa sieben Kilometer, der Bodensee ist dort mit 250 Metern noch deutlich tiefer als Loch Ness. Ab zehn Zentimeter Dicke trägt Eis ganze Personengruppen. Allen voran schritten zwei Männer, die auf einer Bahre die blumenumkränzte Büste des heiligen Johannes trugen. Nicht jene Johannes des Täufers, der uns in Äthiopien bereits in Zusammenhang mit Wasser begegnete, sondern vielmehr eine bemalte Holzskulptur des Evangelisten Johannes. Wenn der Bodensee auf einer Fläche von über 500 Quadratkilometern in seiner Gesamtheit überfriert, nennt man das auf der deutschen Seite »Seegfrörne« und auf der Schweizer »Seegfrörni«. Diese ereignete sich seit Ende des 16.Jahrhunderts nur siebenmal, alle 100 Jahre nur ein- höchstens zweimal. Nachweislich wurde die spätgotische Büste des Apostels Johannes aus dem Münsterlinger Kloster erstmals 1573 über das Eis nach Hagnau gebracht – was ursprünglich weniger einer Prozession glich als vielmehr den Anlass für eine solche gab: In der Sterbenotiz eines Hagnauer Bürgers fand sich der Hinweis, dass dieser im Alter von 28 Jahren ein »frommes Bildnis« von Münsterlingen über den zugefrorenen Bodensee mitgebracht habe, da auf der Schweizer Seite des Binnengewässers »häretische Schlechtigkeit« tobte, womit der Bildersturm der Reformation gemeint war, der die Büste der unmittelbaren Zerstörung preisgab. Das Jahr 1573 ist auf dem Sockel des heiligen Johannes vermerkt, dazu die Folgejahre der Überführung der Skulptur von Deutschland in die Schweiz und wieder zurück, 1796, 1830, 1963. Zudem wird eine weitere Prozession zur Überführung der Büste nach 1573 erwähnt: »Nach 100 Jahren wurde sie bei überfrohrnem See wider hieher gebracht.« Zwischenzeitlich verhinderten Kriege oder die allzu fragile Beschaffenheit des Eises die Prozession während einer Seegfrörnen. Um die Sicherheit der Erstüberquerer zu gewährleisten, machte man sich mit Hopfenstangen, Kompass, Signalhorn, Stöcken und Leitern auf den Weg. Männer leinten sich in klirrender Kälte mit Seilen an den Nächsten, um einander gegen eventuelle Einbrüche zu sichern und sich bei Gefahr aus dem Eiswasser ziehen zu können. Sobald man mit Hämmern ein Loch in die Eisdecke zu schlagen vermochte, ohne dass die Oberfläche Sprünge bekam, war der See passierbar. Dicke Äste und Tannenzweige markierten die begehbaren Wege. Auch 1963 war der Gang übers Eis nicht ungefährlich. Junge Männer, die als Erste die Überquerung auf ungesicherten Wegen wagten, sprachen von Peitschenhieben, dann Donnerschlägen mitten auf dem See, als das knirschende und krachende Eis unter ihren Füßen großflächig auseinanderzubrechen drohte und sich spinnennetzartige Risse bildeten. Andere starben während der Überquerung. Ein Mann brach mit dem Fahrrad ein und ertrank. Zwei Schüler trieben auf einer Eisscholle ab, tags darauf fand man sie erfroren. Für Guido Hess und Walter Speck, die am 12. Februar 1963 der ersten Prozession seit 133 Jahren mit der Büste des Apostels Johannes voranschritten, barg der Weg übers Eis keine Risiken mehr. Auf Mopeds, mit Kleinflugzeugen, Autos und Kinderwägen, mit Roll- und Schlittschuhen, von Hunden gezogen oder bei starkem Wind durch aufgespannte Regenschirme übers Eis gleitend, lockte die Seegfrörne zwischen Februar und April nicht nur Einheimische auf die spiegelglatte Fläche. Es herrschte Volksfestatmosphäre. Hagnauer und Münsterlinger begrüßten einander mit Wurstbratereien und Glühweinständen auf dem Eis, ein Reiter war vorausgeeilt, Geistliche beider Ufer bezeugten mit dem Austausch von Weinfässchen einander ihre Gastfreundschaft. Ministranten, Dekane, Fahnenträger und Musikkapellen beider Nationen beteten bei Glockenklang gemeinsam für den Weltfrieden, keine 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Das Original der Büste befindet sich seither im Tresor der Sakristei von Sankt Remigius in Münsterlingen. Ein Replikat begrüßt die Betenden im Innern der Klosterkirche. In Hagnau fürchtet man wegen der Erderwärmung um das Ende der Eisprozession und damit um das Ende der Hoffnung auf eine Wiederkehr der Reliquie. Als 2013 beide Gemeinden des 50-jährigen Jubiläums der letzten Seegfrörne mit Festakten in Deutschland und der Schweiz gedachten, überließ Diakon Matthias Loretan dem Hagnauer Museum die nach 1963 angefertigte Kopie des Sankt Johannes für eine Ausstellung, »aus einer Mischung aus Übermut und Mitleid«, wie er augenzwinkernd mitteilte. Anfang Februar 2014 wurde die Holzskulptur nach einem Festgottesdienst von deutschen und Schweizer Gemeindemitgliedern in Bussen und Autos auf einer Fähre wieder zurück nach Münsterlingen gebracht, »mit Wehmut«, wie der Hagnauer Gemeindepfarrer Wolfgang Demling seinerseits wissen ließ. Auch Tränen sollen geflossen sein. Keine drei Wochen später verstarb Demling bei einem Tauchunfall im Bodensee in 100 Meter Tiefe.

Service

Neuerscheinung

Thomas Girst, Alle Zeit der Welt

Erscheinungstermin: 11.03.2019

©2019 Carl Hanser Verlag G,bH & Co. KG, München

17.- EUR

hanser-literaturverlage.de

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