Der Londoner Kunstmarkt steht noch ganz im Zeichen des Lockdowns. Während Museen und Messen mit den verheerenden Folgen der Krise zu kämpfen haben, funktioniert der Online-Auktionsmarkt auch im höheren Preissegment
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19.05.2020
Lockdown in London. Seit nunmehr über vier Wochen. Es ist still geworden, in jeder Hinsicht. Die Hintergrundmusik der Großstadt, das ständige Summen des Verkehrs – zuvor fast körperlich spürbar wie ein ständiges Vibrieren: verschwunden. Auch kreischende Reifen, hupende Autos, Wochenendtumult: weg, fort, Vergangenheit. Und, überraschend nach so kurzer Zeit – oder ist es nur Einbildung? Die Luft ist klarer geworden. Die Sterne werden sichtbar, die Venus strahlt hell, die Internationale Raumstation rast über den klar gewordenen Nachthimmel. Und wenn – ganz selten – ein Flugzeug am Himmel entlangzieht, wenden sich alle Blicke den Kondensspuren zu. Und man fragt sich unwillkürlich nach dem Zweck der Reise, nach den Passagieren, nach dem wohin, dem woher … Das Heulen von Sirenen – der Ambulanz, der Feuerwehr, der Polizei, manchmal ganz nah und verstörend – holt einen dann aber oft ganz schnell zurück in die Realität des Frühlings 2020 (sofern man sie denn wirklich vergessen hat): in die Zeit der Covid-19-Pandemie – in ein Leben wie im Katastrophenfilm.
Seit Mitte März wurde der Londoner Kulturbetrieb sukzessive heruntergefahren. Zunächst wurden die großen Museen und Institutionen geschlossen: das British Museum, das Barbican, das Victoria & Albert, die Theater und Konzerthallen, das Wachsfigurenkabinett. Noch etwas länger waren die königlichen Sammlungen geöffnet: Windsor Castle, die Queen’s Galleries, Kensington Palace, der Tower of London. Doch jetzt liegt alles still, bis Juni mindestens, wie es heißt. Und man möchte manchmal eine Maus sein, die Korridore entlangrennen, ungestört, unbehindert von Besuchermassen, um beispielsweise den Parthenonfries ganz für sich allein zu haben.
Die Folgen für den Kulturbetrieb, für das Auktionswesen, den Handel, die Museen sind – man muss es so deutlich sagen – verheerend. Zunächst heißt die Devise: Augen zu und durch. Der Staat versucht, zu helfen – soweit möglich. Er garantiert zum Beispiel 80 Prozent Lohnfortzahlung. Doch insgesamt rächt sich nun die gnadenlose Austeritätspolitik der Tories. Vor allem die kleineren Sammlungen und Museen, erschöpft von den erzwungenen Einsparungen des vergangenen Jahrzehnts, dürften kaum über die nötigen Reserven verfügen, um diese Herausforderung zu überstehen. Ebenso die im Kulturbetrieb tätigen Reinigungs- und Sicherheitsfirmen, auch die Zulieferer für Museumsshops und -restaurants. Viele Projekte sind zum Stillstand gekommen (Renovierungen, Ausstellungen etc.). Mit den entsprechenden Folgen für Kunstspeditionen, freiberufliche Konservatoren, Projektmanager, Grafikdesigner, Filmemacher, Softwareentwickler, Ausstellungsinstallateure, Museumsvermittler …
Und der Kunstmarkt? Jüngst veröffentlicht, liest sich der Art Market Report 2020 wie ein Abgesang auf eine verlorene Welt. Er bestätigt aber auch die Wichtigkeit des Sektors. Trotz tendenziell fallender Umsätze, gerade im Hochpreisbereich, spielt der Kunstmarkt nämlich immer noch eine wesentliche Rolle im internationalen Wirtschaftsgefüge. Rund drei Millionen Menschen sind hier tätig. Von den über 64 Milliarden Dollar Gesamtumsatz (gegenüber knapp 68 Milliarden im Vorjahr) wurden allein 20 Prozent, also knapp 13 Milliarden Dollar, auf dem britischen Markt erwirtschaftet. Angesichts der aktuellen Probleme mutet der Brexit – vorangetrieben von konservativen Scharfmachern wie Dominic Cummings (dessen ursprüngliche sozialdarwinistische Strategie zur Bekämpfung von Covid-19 in England ja völlig in die Hose gegangen ist) – wie der schiere Irrwitz an.
Auch nicht zu vergessen: Die alljährliche Märkte- und Messesaison hätte jetzt anlaufen sollen. Die „Open Art Fair“? Vorzeitig geschlossen. Die „Masterpiece“? Abgesagt. „Olympia Art and Antiques Fair“? Auf unbestimmte Zeit verschoben. Ebenso die „Photo London“. Die „London Art Week“ im Juli? Als „London Art Week DIGITAL“ neu lanciert. Immerhin das verspricht spannend zu werden – auch als mögliche Alternative für die Zukunft, da weniger personal- und kostenintensiv, umweltfreundlicher und flexibler. Man wird sehen. Die Veranstalter jedenfalls zeigen Initiative und Mut.
Auch viele andere Akteure – einschließlich der großen Auktionshäuser – bieten bereits einen Großteil ihres Angebots virtuell an. Die Formate variieren. Die Online-Auftritte reichen von Instagram-Interviews mit Hans Ulrich Obrist bei Thaddaeus Ropac über Leonardos anatomische Notizbücher per App von der Queen’s Gallery (nur für iPad / iPhone) bis hin zu einer Vielzahl von Touren und Schauräumen. Arg auf Nummer sicher geht die Royal Academy mit Highlights von David Hockney, des wohl meistüberschätzten britischen Malers der Gegenwart.
Im Auktionswesen zeigt sich, dass auch online durchaus die Bereitschaft besteht, aktiv zu werden – selbst im höheren Preissektor. Die Verlautbarungen von Phillips, Christie’s und Sotheby’s geben jedenfalls Anlass zu vorsichtiger Hoffnung. Das „Pfeifen im Walde“? Wie dem auch sei: 350 000 Pfund erzielte Irma Sterns Ölgemälde „Grape Packer“ (Abb.) jedenfalls im Online-Africa-Sale bei Sotheby’s am 31. März. Und George Condos Ölbild „Antipodal Reunion“ (Abb. S. 8) stieg in der jüngsten, rekordebrechenden Online-Auktion für zeitgenössische Kunst, die am 21. April endete, von 650 000 auf 850 000 Pfund. Gut 20 Jahre ist es nun her, dass Sotheby’s erstmals Internetauktionen durchführte – gerade in Deutschland gab es damals dagegen große Vorbehalte. Das hat sich über die letzten Jahre spürbar gewandelt. Grundlage für den Erfolg sind aber auch in diesem Sektor ganz traditionelle Werte: Seriosität, Qualität, und Vertrauen. Hier könnte die Krise nicht nur zum „Disruptor“, sondern auch zum Beschleuniger bestehender Trends werden.
In dieser Zeit des erzwungenen Stillstands gibt es auch allerhand bewegende menschliche Initiativen. Etliche Galerien beispielsweise geben Anteile ihrer Online-Erlöse an die World Health Organisation, Hauser & Wirth beispielsweise oder das Online-Portal „Artsy“. Und die „White Cube Gallery“ veranstaltet in Zusammenarbeit mit Harland Miller ein COVID-19-Fundraising, mit dem Ziel, 1,25 Millionen Pfund für den Kampf gegen das Virus aufzubringen.
Bleibt die Frage: Was bringt die Zukunft? Mehr Online, wie gesehen, sicherlich. Doch die virtuelle Welt hat auch ihre Grenzen, denn die Kunst- und Kulturszene lebt insgesamt doch vom direkten, spürbaren, sozialen Erlebnis: von Geruch, Farbe, Lärm, Atmosphäre, direkter Kommunikation – technisch unmöglich replizierbar. Die Welt der Kunst wird auch die Covid-19-Krise überleben, keine Frage. Aber (zumindest in naher Zukunft) wird sie vorsichtiger handeln müssen: Schutzmasken und -handschuhe, Sprays und Handgels werden noch lange Bestandteile des Lebens bleiben – bis entsprechende Vakzine entwickelt und verfügbar sind.
Manche der Schutzmaßnahmen, die nun im Rahmen einer behutsamen Exitstrategie diskutiert werden, könnten für die Besucher aber wohl dauerhaft von Nutzen sein – etwa ein getakteter Einlass. Denn wollen wir doch mal ehrlich sein: Die sogenannten Blockbusterereignisse der letzten Jahre haben aufgrund des allgemeinen Ansturms die Qualität des Besuchserlebnisses ohnehin meist gemindert. Und vielleicht werden in Zukunft ja auch die „Kunden“ etwas wählerischer werden und auf der Jagd nach Instagram-Momenten nicht immer nur den altbekannten Pfaden hinterherrennen – den ewig gleichen Bildern, Plätzen, Aussichtspunkten.
Der allgemeine Hausarrest erlaubt ja immerhin einen täglichen Spaziergang in die unmittelbare Umgebung. Und der kann zu ganz überraschenden Beobachtungen führen. So gibt es beispielsweise eine erstaunliche Anzahl bademantelgewandeter Engländer, die an sonnigen Frühlingsnachmittagen vor ihren Türen sitzen – soviel zu den britischen Manieren! Aber Spaß beiseite! Man kann gerade auch wunderbar das Dickens’sche „Holly Village“ für sich entdecken, einen Katzensprung vom (normalerweise überlaufenen) Hampstead Heath entfernt. Oder George Orwells House in Kentish Town. Oder die großartig-bombastische spätviktorianische Villa des Präraffaeliten John Collier nördlich vom Regents Park. Oder die Bauhäuser nahe Hampstead Village. Möglichkeiten über Möglichkeiten …