Der Wunsch, das Schönste und Seltsamste auf kleinem Raum zusammenzubringen, begeistert Sammler seit der Renaissance. Ein neuer Bildband präsentiert nun Wunderkammern, die der Fotograf Massimo Listri detailverliebt in Szene setzt
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28.05.2020
Von außen macht das Château de Dampierre einen makellosen Eindruck. Das Schloss aus dem 17. Jahrhundert hat eine majestätische Geschichte und beeindruckt mit seinem barocken Garten. Drinnen weiß man nicht, ob einen das Morbide der alten Wunderkammer nun entzücken soll – oder ob gleich ein Balken von der Decke auf die alten Schauvitrinen fällt. Die Architektur ist marode, die Sammlung nur noch ein Abglanz ihrer einstigen Pracht. Und dass Honoré Théodoric Paul Joseph d’Albert, Herzog von Luynes, all seine wertvollen archäologischen Objekte 1862 an den Louvre übergab, hat es nicht besser gemacht. Denn nun fehlt der Wunderkammer jener gewichtige Teil, der die Balance zwischen ihren Kostbarkeiten und den Kuriositäten hält. Im Chevreuse-Tal, einem beliebten Ausflugsziel der Pariser, verblieben die unspektakulären Dinge: Skelette, Mineralien, präparierte Tiere, der ganze Bodenstaub der Vergangenheit.
Massimo Listri macht den Verlust schmerzlich spürbar. Nicht umsonst stellt der Fotograf die Bilder ans Ende seines Prachtbandes „Das Buch der Wunderkammern“. Was davor darin zu sehen ist, öffnet den Blick auf die wohl schönsten erhaltenen historischen Kunst- und Kuriositätenkabinette: das Grüne Gewölbe in Dresden, Schloss Friedenstein in Gotha oder Schloss Rosenborg, ehemals Residenz der dänischen Könige in Kopenhagen. Und es schärft den Blick für die ungeheure Passion, mit der sich Sammler seit der Renaissance die Welt erschließen wollten, indem sie das Schönste und Seltsamste zusammentrugen, um es zu Hause in Ruhe zu studieren. So wie der Herzog von Luynes: In seinem Labor unternahm der Naturwissenschaftler und leidenschaftliche Chemiker zahllose Versuche, die antiken Verfahren der Kunstproduktion zu erforschen. Seine Tätigkeit als Mäzen zielte parallel auf die Erneuerung der Kunst des Second Empire ab. Als er 1867 starb, geriet seine Kunst und Naturaliensammlung in Vergessenheit.
Massimo Listri, ein gefragter Fotograf für Interieurs und Architektur, stellt sie in eine Reihe mit jenen Wunderkammern, die über Epochen gehegt und gepflegt wurden. Schon als Zwanzigjähriger entdeckte er Julius von Schlossers Standardwerk über die Sammlungskonzepte der Spätrenaissance für sich. Dessen Lektüre habe sein ohnehin ausgeprägtes Interesse am Kuriosen noch einmal verstärkt, erzählt der 1953 geborene Florentiner. Wegen Schlosser sei er Ende der Achtzigerjahre nach Innsbruck gereist, um Schloss Ambras, das dem österreichischen Kunsthistoriker als zentrales Exempel diente, mit eigenen Augen zu sehen. Und natürlich zu fotografieren.
Hier hatte Ferdinand II., Erzherzog von Österreich, bis zu seinem Tod 1595 eine Kunst- und Wunderkammer der Renaissance eingerichtet, in der sich vom Kristallpokal bis zum ausgestopften Krokodil drängte, was dem Habsburger staunenswert erschien. Zwei Jahrhunderte später arrangierte der Adelige Clément Lafaille, dessen Vermächtnis Listri ebenfalls in fantastischen Bildern festhält, sein Naturalienkabinett im französischen La Rochelle nach völlig anderen Kriterien. Die Aufklärung hatte den Blick verändert, nun ging es um eine systematische Anordnung und die Hierarchisierung der Objekte. Dafür entwarf der renommierte Pariser Ebenist Claude-Charles Saunier aufwendig furnierte Wandschränke in der zarten Farbe von Korallen, in denen die präparierten Fische bis heute wie gelackt an ihrem Platz hängen. Lafaille vermachte sein Haus mitsamt der faszinierenden Sammlung der Gemeinde La Rochelle, die sie inklusive der Kabinettschränke und Vitrinen in ihr Naturhistorisches Museum integrierte.
„Ich mache keinen Unterschied zwischen den Objekten“, erklärt Listri auf die Frage, nach welchen Kriterien er die Wunderkammern für sich ausgewählt hat. Egal ob archäologische Funde, seltene Metalle, Steine, Goldschmiedearbeiten, Elfenbeinschätze, wissenschaftliche Geräte, Gemälde oder Skulpturen: Sein Interesse gilt sämtlichen „Objekten mit Geschichte“. Er sei selbst ein eifriger Sammler von Kunst und Möbeln. „Sehr oft werden Gegenstände aus meiner Privatsammlung oder meinen persönlichen Räumen Gegenstand meiner Fotografien.“
Wichtiger noch als die Wirkung des singulären Kunstwerks oder einer bizarren Rarität ist für Listri ihr Zusammenspiel. Die Art und Weise, in der sich die Objekte ihm als Fotografen präsentieren. „In jedem Raum suche ich nach der ›Seele‹ dieses Ortes, der Essenz oder dem Geist, dem Genius Loci.“ Ebendies vermitteln seine Aufnahmen, in denen sich die Wunderkammern in ihrer Schönheit und ihrem Überfluss visueller Reize offenbaren. Listris Fotografien gewähren ebenso Überblick wie sie den Blick auf versteckte Details richten, aber stets zelebrieren sie das Arrangement. Und immer offenbart sich ein Stück weit der Charakter seines Schöpfers. Was diese Sammler bewunderten, was sie erforschen und manchmal um jeden Preis besitzen wollten, um es im Universum ihrer Kabinette zu akkumulieren. Diese Wunderkammern erinnern Listri an „kleine Privatmuseen, wie sie jeder nach seinen eigenen Möglichkeiten verwirklichen könnte – und mit jenen Instrumenten, die am Schluss immer Studieren und Wissen heißen“.
Der Prachtband „Wunderkammern“, der im Mai im Taschen Verlag erschienen ist, versammelt 19 Kabinette, die Massimo Listri in Jahrzehnten fotografierte. Mit Texten von Giulia Carciotto und Antonio Paolucci, 356 Seiten, 100 Euro, Bestellung über taschen.com