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Macht des Schicksals

Am 19. Mai ist der Wiesbadener Sammler Reiner Winkler im Alter von 94 Jahren gestorben. Seine Privatsammlung barocken Elfenbeins – es ist weltweit die beste – kam vergangenes Jahr ans Frankfurter Liebieghaus

Von Lisa Zeitz
29.05.2020

Jedes Detail der ergreifenden, auf 1736 datierten „Allegorie der Verdammnis“ hat der Dresdner Elfenbeinschnitzer Ludwig Lücke virtuos dem harten Material entrungen, vom zerzausten Haar über das Stirnrunzeln bis hin zur Warze auf dem unrasierten Kinn. Ein Drache sitzt ihm im Genick, Flammen züngeln an seinem nackten Oberkörper empor. So schreit der Gequälte seine Schmerzen bis in alle Ewigkeit aus dem kleinen, ovalen Relief hinaus. 

Johann Christoph Ludwig Lücke, Allegorie der Verdammnis in der Hölle (Anima Damnata?), Dresden, 1736, Elfenbein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Johann Christoph Ludwig Lücke, Allegorie der Verdammnis in der Hölle (Anima Damnata?), Dresden, 1736, Elfenbein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung

Das Relief ist nur eines von mehr als 200 Werken, die der Wiesbadener Bauunternehmer Reiner Winkler in den letzten fünfzig Jahren zusammengetragen hat – und die er Anfang 2019, als Mann von Mitte neunzig, dem Liebieghaus in Frankfurt zu einem mäzenatischen Preis überlässt, das heißt für einen Bruchteil ihres Werts. Auf dem Markt wäre die Sammlung gewiss mit einem zweistelligen Millionenbetrag zu beziffern, rechnete man selbst die neuen Einschränkungen des internationalen Handels ein, die sogar antikes Elfenbein betreffen. Schon um 1900 wurde übrigens beklagt, dass die wachsende Gier nach Elfenbein zur Ausrottung der Elefanten führt – Werke aus dieser Zeit oder gar jüngere hat Reiner Winkler nicht gesammelt.

Reiner Winkler, ein nachhaltiger Sammler

Seiner Liebe für europäisches Elfenbein, vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts, sagt er, sei eine längere Phase des Ausprobierens vorausgegangen: Auf seinen Kunstreisen erwarb er Skulpturen aus Keramik, Bronze und Holz, „bis mich ein kleines Elfenbeindiptychon so faszinierte, dass von nun an meine Sammlerleidenschaft diesem Material galt.“ Er hat sich ganz auf figürliche Arbeiten konzentriert und dabei die besten Stücke versammelt, die im Handel und auf Auktionen zu finden waren. Einige wenige Stücke datieren ins 19. Jahrhundert, darunter das herrliche Biedermeierbildnis einer unbekannten Dame mit Kopfschleier und Perlenkette von Norbert Schrödl. In der Hauptsache sind es jedoch Werke des Barock.

Die „Allegorie der Verdammnis“ hat Winkler einst auf der Antiquitätenmesse im Münchener Haus der Kunst erworben. Er schätzt die einzigartige Spannung des Kunstwerks, seine „ungeheure Anziehungskraft“. Dieser Ausdruck trifft nicht nur auf Ludwig Lücke zu. Man will ganz nah herangehen, um sich in die Einzelheiten zu vertiefen und immer Neues zu entdecken, pulsierende Adern oder das Spiel der Muskeln.

Da das Material härter als Holz ist, aber weicher als Stein, und eine gewisse Elastizität besitzt, ermöglichte es den Bildhauern besonderen Detailreichtum. Ein süditalienischer oder sizilianischer „Sturz der abtrünnigen Engel“ aus dem frühen 18. Jahrhundert ist als ein wundersam durchbrochenes, scheinbar schwebendes Gewimmel aus vielen Dutzend Figürchen ein Schaustück miniaturhafter Erzählfreude.

Eine kleine Schatzkammer

Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums, der Schirn Kunsthalle und der Skulpturensammlung im Liebieghaus, hat die sensationelle Erwerbung mit dem Sammler ausgehandelt. Ermöglicht wurde die Umsetzung durch zahlreiche Unterstützer, die Ernst von Siemens Kunststiftung, den Städelschen Museums-Verein und das Städel Museums für das Liebieghaus sowie die Kulturstiftung der Länder und die Hessische Kulturstiftung. „Es lohnt sich ungemein, wieder die kleinen Dinge zu betrachten“, sagt Demandt und freut sich ebenso wie Maraike Bückling, Leiterin der Abteilung Renaissance bis Klassizismus, die Objekte ab Ende März im Galerieflügel des Museums alle zusammen wie in einer Schatzkammer zu inszenieren.

Die historistische Villa – und den verwunschenen Garten mit Magnolien, Kastanien und Trompetenbaum – ließ der böhmische Textilfabrikant Heinrich Baron von Liebieg Ende des 19. Jahrhunderts anlegen und bestimmte sie schon wenige Jahre später, in direkter Nachbarschaft zu den Gemälden des Städel, zum Skulpturenmuseum. Man könnte sich die kleinen Elfenbeinskulpturen in Zukunft auch gut in ihren stimmungsvollen Turmzimmern und Studioli vorstellen. Die berühmte Sammlung des Liebieghauses spannt mit rund 3000 plastischen Werken aus Stein, Holz und Bronze einen Bogen von der ägyptischen Antike bis zum Klassizismus. Mit der Sammlung Reiner Winkler zählt das idyllische Haus am Frankfurter Museumsufer jetzt auch auf dem Gebiet barocken Elfenbeins zu den allerbesten internationalen Adressen. Schon durch die Nähe zu Wies­baden sieht der Sammler es als „natürliche Heimat für meine ja schon sehr spezielle und fokussierte Sammlung“. Wichtig ist ihm, dass sie als „Gesamtkunstwerk“ erhalten bleibt. 

Hochzeit in Weiß

Um ihre Ankunft wie eine Vermählung zu feiern, lautet der Titel der neuen Dauerausstellung „White Wedding“. Unter den weiß schimmernden Neuankömmlingen sind Reliefs, freistehende Skulpturen und reich verzierte Gefäße wie eine große Deckelkanne mit mythologischen Darstellungen von Balthasar Grießmann um 1660/1670. In manchen Fällen treffen Elfenbeinskulpturen von Künstlern, wie Leonhard Kern, jetzt auf andere Werke desselben Bildhauers in Holz oder Bronze, die der Institution schon lange gehören. Als Superstar ragt die 42 Zentimeter hohe Reiterfigur des sogenannten Furienmeisters heraus. Der Name des Künstlers ist nicht überliefert, aber seine Elfenbeinwerke, die im frühen 17. Jahrhundert vielleicht in Salzburg entstanden sind und sich heute beispielsweise im Palazzo Pitti in Florenz und im Kunsthistorischen Museum in Wien befinden, sprechen dieselbe, eindringliche Sprache.

Furie auf sprengendem Pferd Furienmeister (tätig um 1600‒1625) Salzburg?, 1610 Elfenbein, Holz, Bein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Furie auf sprengendem Pferd Furienmeister (tätig um 1600‒1625) Salzburg?, 1610 Elfenbein, Holz, Bein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung

Es sind rasende, gehetzte Figuren, die sich durch lange Ringellocken und eine hagere, sehnige Gestalt auszeichnen, so wie auch Reiner Winklers „Furienreiter“. Kaum bekleidet springt er mit seinem Pferd in hohem Bogen über eine wilde Felslandschaft. Den Arm hat der Reiter erhoben, als ob er mit einer Waffe, die er im Lauf der Jahrhunderte allerdings verloren hat, alles niedermähen wollte, was sich ihm in den Weg stellt. „Die Expressivität ist sensationell, wie Kirchner, Meidner und Munch zusammen, nur 300 Jahre früher“, schwärmt Demandt.

Macht des Schicksals

Viel fülliger sind die „Drei Parzen“ aus der Zeit um 1670 von Joachim Henne, der in Dänemark und Deutschland aktiv war und später in Berlin zum „Hofporträtmaler in Miniaturen“ ernannt wurde. Seine elfenbeinernen Schicksalsgöttinnen haben den Lebensfaden des Menschen in der Hand, sie spinnen ihn und schneiden ihn ab. Memento Mori sind die drei Figuren aber nicht nur durch ihre Macht über das Schicksal. Auch in ihrer Nacktheit sind sie ein Sinnbild der Vergänglichkeit, indem sie dem Betrachter den Kontrast der jugendlichen und der älteren, am Boden hockenden Parze vor Augen halten. Sie zeigen, wie unaufhaltsam der Verfallsprozess des Fleisches ist.

Ignaz Elhafen, Bacchische Szene, Wien, um 1700 Elfenbein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Ignaz Elhafen, Bacchische Szene, Wien, um 1700 Elfenbein, Liebieghaus Skulpturensammlung ‒ Sammlung Reiner Winkler, Frankfurt am Main, Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung

Service

Ausstellung

„White Wedding. Die Elfenbein-Sammlung Reiner Winkler kommt ins Liebieghaus. Für immer“

Liebieghaus, Frankfurt

Dieser Beitrag erschien in

Weltkunst Nr. 154/2019

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