Die Staatsbibliothek Unter den Linden erstrahlt nach langen Jahren der Sanierung endlich in neuem altem Glanz. Sie beherbergt ein Weltgedächtnis. Wann die Menschen dazu wieder Zugang haben, ist derzeit ungewiss
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06.05.2020
Ursprünglich sollte dies mal ein Text über eine der vielen Berliner Kulturbaustellen werden. Ein Text mit einer guten Nachricht: dass die Staatsbibliothek zu Berlin nach 15 Jahren Sanierung im Juni dieses Jahres nun endlich und tatsächlich eröffnen wird. Dass der Prachtbau an Berlins zentraler Allee Unter den Linden, ein Tempel der Wissenschaft, dessen Umbau, Rückbau und Instandsetzung die stolze Summe von knapp 500 Millionen verschlungen hat, nun schließlich in vollem Glanz erstrahlt und alle lesefreudigen Bürger willkommen heißt. Dass die Staatsbibliothek dem Humboldt Forum, dessen finaler Eröffnungstermin auf September 2020 angesetzt war, oder der benachbarten Dauerbaustelle Museumsinsel damit eine entscheidende Nasenlänge voraus ist.
Doch die Coronakrise hat die Zeitrechnung durcheinandergebracht. Ob der geplante Eröffnungstermin der Staatsbibliothek im Juni zu halten sein wird, ist derzeit wie so vieles völlig ungewiss. Und ausnahmsweise liegt dies nicht an der viel gescholtenen Berliner Ineffizienz, an unzureichender Planung oder Dissenz über inhaltliche Konzepte, sondern an der höheren Gewalt eines sich pandemisch ausbreitenden Virus. Wenn wir hier hinter die Kulissen des im Jahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, von Kaiser Wilhelm II. feierlich eröffneten Gebäudes blicken, damals der größte Bibliotheksbau der Welt, können wir leider nicht wissen, wann die ersten Besucher durch den Brunnenhof die zentrale Halle betreten und die majestätische Treppe hinaufsteigen werden, um am zentralen Empfang ihre Besucherkarte einzuscannen und sich dann im großen Lesesaal, in einem der Sonderlesesäle, im Zeitschriftenarchiv oder in einer der vielen kleinen Arbeitsnischen in die Lektüre zu vertiefen. Wann endlich wieder Leben in diese Welt der Bücher kommt.
Die Staatsbibliothek zu Berlin, im Jahr 1661 als Churfürstliche Bibliothek von Friedrich Wilhelm von Brandenburg gegründet, ist ein Weltgedächtnis. Ihr Bestand umfasst etwa zwölf Millionen Bände. Sie verwahrt rund eine Million Karten aus allen Zeiten und Ländern. Die Bibliothek verfügt über 500 Erd-, Himmels- und Mondgloben und damit über eine der umfangreichsten Globensammlungen in Mitteleuropa. Sie besitzt etwa 1600 Nachlässe, darunter den des großen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, des Romantikers Joseph Freiherr von Eichendorff oder des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. In ihren Tresoren lagern der wohl älteste erhaltene Druck der Welt, eine Dharani aus dem Japan des achten Jahrhunderts, die weltweit größte hebräische Bibel auf Pergament, die Geschichten der Propheten des persischen Schreibers Ishaq Ibn-Ibrahim al-Nishapuri und herausragende Beispiele abendländischer Buchmalerei des Mittelalters.
Als die World Digital Library, ein Projekt der amerikanischen Nationalbibliothek Library of Congress in Washington und der Unesco, vor gut zehn Jahren damit begann, das weltweite kulturelle Erbe schriftlicher Dokumente zu digitalisieren und jedermann im Internet zugänglich zu machen, wandte sie sich an wichtige Bibliotheken weltweit und rief sie dazu auf, zunächst jeweils drei Highlights aus ihrem Bestand auszuwählen, die Eingang in die neue Datenbank finden sollten. Die Staatsbibliothek war gleich zu Beginn mit elf Dokumenten vertreten – eine Beschränkung auf drei war angesichts der Breite und Tiefe des Bestands schlicht nicht möglich.
Für die langjährige Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf ruht ihr Haus auf zwei großen Säulen: Forschung und Kultur. Im Bereich der Forschung dient die Staatsbibliothek vor allem als Wissensreservoir der Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Anders als die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt am Main oder die Bibliothèque nationale in Paris kauft sie nicht sämtliche neu erscheinende Literatur des Landes an. Sie fokussiert sich auf die wissenschaftlich relevante und kommt allein damit auf rund 100.000 Neuerwerbungen im Jahr. Den kulturellen Auftrag nimmt das Haus mit seinen Ausstellungen, Lesungen und Wissenswerkstätten wahr – und nicht zuletzt dadurch, in Zeiten vor Corona mehreren Tausend Besuchern am Tag Zugang zum geschriebenen Wort zu verschaffen.
Die Geschichte der Bibliothek ist vor allem im 20. Jahrhundert eine überaus wechselvolle – wie könnte es im Herzen von Berlin anders sein. Der Vorgängerbau zur heutigen Adresse steht schräg gegenüber am Bebelplatz. Friedrich II. gab den geschwungenen Barockbau, der heute die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität beherbergt, im späten 18. Jahrhundert in Auftrag. Seine Königliche Bibliothek sollte nicht mehr nur dem Adel und Ministern, sondern auch den Bürgern offenstehen. „Geistige Nahrung“, so der lateinische Schriftzug über dem Portal, für des Lesens mächtige Untertanen. Der wachsende Bestand, zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es 1,2 Millionen Bände, machte einen Neubau erforderlich, und dem Geist der Zeit und Kaiser Wilhelms II. entsprechend sollte es ein monumentaler neobarocker Prachtbau sein. Zwischen 1905 und 1914 entstand nach Plänen des Architekten Ernst von Ihne, der auch das heutige Bode-Museum entworfen hatte, das neue Zuhause für das Weltwissen im wilhelminischen Reich. Herzstück des Baus war der riesige Kuppel-Lesesaal, eine Kathedrale für Bücherwürmer, mit 34 Metern Raumhöhe und 372 Leseplätzen, erreichbar über eine majestätisch breite Treppe.
Den nur wenige Monate nach Eröffnung ausbrechenden Ersten Weltkrieg übersteht das Gebäude samt seinem kostbaren Bestand halbwegs unbeschadet, doch im Zweiten Weltkrieg sieht das anders aus. Am 15. Februar 1945 wird der Lesesaal von einer Luftmine getroffen, das ganze Gebäude wird schwer beschädigt. Die Millionen Bücher und Handschriften waren zu dieser Zeit schon ausgelagert. Nicht alle fanden nach dem Krieg zurück in den Bestand. So kam etwa einiges als Kriegsbeute nach Polen und in die frühere Sowjetunion. Die Geschichte der Staatsbibliothek ging in der Nachkriegszeit so zweigeteilt weiter wie die des ganzen Landes. Die Teile des Bestandes, die in Kriegszeiten auf dem Gebiet der westlichen Alliierten ausgelagert waren, wurden zum Grundstock der Staatsbibliothek Potsdamer Straße in der avancierten Architektur von Hans Scharoun. Der Prachtbau der Staatsbibliothek Unter den Linden fiel in seinem beschädigten Zustand an die DDR, die dort über Jahrzehnte mit staatstragendem Elan und wenig Geld ein Provisorium betrieb. So riss man in den 1970er-Jahren die Reste des zerstörten Kuppelsaals endgültig ab und errichtete dafür vier schmucklose Industriesilos, die als Bücherlager dienten.
Nach der Wiedervereinigung war lange fraglich, was mit dem hochgradig sanierungsbedürftigen Komplex geschehen sollte. Dass es Bibliothek geblieben ist und nicht einem anderen Zwecke zugeführt oder gar gesprengt wurde, verdankt es unter anderem seinen Stahlregalen. Diese befanden sich in allen Magazingeschossen des Altbaus und waren so fest verbaut, dass die Räume für nichts anderes zu gebrauchen waren, als Bücher und Zeitschriften zu lagern. In den vergangenen 20 Jahren entstand nach und nach die neue alte Staatsbibliothek Unter den Linden. Die Büchersilos aus der DDR-Zeit wurden abgerissen, an ihrer Stelle entstand nach Plänen des Architekten Hans-Günter Merz ein lichter, traumschöner zentraler Lesesaal, an dessen Decke eine zwei Tonnen schwere Metallskulptur des Künstlers Olaf Metzel prangt. „Noch Fragen?“ heißt das Werk – ein schöner Titel in einem Umfeld, das zum Forschen und Hinterfragen einladen soll. Nach der langen und teuren Grundsanierung des historischen Gebäudes ist der neobarocke Monumentalbau Ernst von Ihnes nun endlich wieder klar und nachvollziehbar mit den neuen Gebäudeteilen verbunden. Vom Entree mit dem zentralen Treppenhaus gelangt man in einer Achse in den Neubau, in dem, mit orangerotem Teppich ausgelegt, eine weitere Treppe hoch in den Lesesaal führt.
Auch die verschiedenen Sonderlesesäle erstrahlen in neuem Glanz. Ein kulturelles Herzstück ist der Musiklesesaal, Hort ganz besonderer Schätze der Staatsbibliothek. Das Haus ist aufs Engste mit der Musik verbunden, im Bestand befinden sich mehr als 65.000 Musikautografen der bedeutendsten Komponisten. Die weltweit größte Mozart-Sammlung ist hier zu Hause. Von Johann Sebastian Bach sind vier Fünftel seiner Handschriften in Berlin und werden für künftige Generationen verwahrt. Es spricht für sich, dass Barbara Schneider-Kempf, befragt nach ihren drei Lieblingswerken aus dem riesigen Bestand der Bibliothek, auch ein Musikwerk nennt: Bachs h-Moll-Messe, „aus persönlicher Liebe zu diesem Komponisten“.
Als man in diesem Jahr in vielen Ländern die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens begann, schlug auch die Stunde der Staatsbibliothek. Eine „Jahrhundertausstellung“ stand im Raum, so die Generaldirektorin. Denn in den Tresoren Unter den Linden lagern auch die Originalpartituren von Beethovens 4., 5., 8. und 9. Sinfonie. Die empfindlichen Bände wurden hervorgeholt. Gemeinsam mit zahlreichen Briefen, darunter dem legendären an die „Unsterbliche Geliebte“, und den Konversationsbüchern des ertaubten Komponisten wurden sie in Vitrinen drapiert und mit kenntnisreichen Begleittexten versehen. Am 11. März war Eröffnung, schon nicht mehr so feierlich wie geplant, doch immerhin noch ein Medienereignis, sogar das „heute journal“ war da. Drei Tage später schlossen alle Häuser der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. In der Beethoven-Ausstellung der Staatsbibliothek erlosch das Licht, die wertvollen Handschriften und Notenblätter gingen zurück an einen sicheren Ort. Der gesamte Bibliotheksbetrieb ruht. Auch die Welt der Bücher hält den Atem an.