Paul Cassirer brachte um 1900 den Impressionismus nach Berlin und war das schillernde Machtzentrum im Kulturleben des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. An den visionären Kunsthändler kann man nicht oft genug erinnern
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17.07.2020
Eine Berliner Anwaltskanzlei im Januar 1926. Der Zigarrengeruch, der die Räume durchweht, stinkt plötzlich nach Pulverdampf. Allgemeines Entsetzen. Haben Sie gehört? Den Schuss? Was ist passiert? Der Kunsthändler Paul Cassirer, Noch-Ehemann der Schauspielerin Tilla Durieux, jetzt vor der Scheidung stehend, hat sich im Vorzimmer mit einer Pistole angeschossen. Als Tilla hinzustürzt, lebt er noch. »Nun bleibst du aber bei mir!«, röchelt er. Die Scheidung ist Tillas Wunsch, sie hat einen neuen Mann gefunden. Doch zählt das nur noch in späteren Erbstreitereien, denn Cassirer stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Das erste Glamourpaar des deutschen Kulturbetriebes ist für immer getrennt. Wobei zum Glamour auch dunkles Wüten gehört: Cassirers Aufstieg beginnt ebenso mit der Gründung seiner Kunsthandlung 1898 wie mit dem monumentalen Streit zwischen ihm und Vetter Bruno, in dessen Folge er sich selbstständig macht.
Mit Tilla akzeptiert Paul Cassirer eine freizügige Ehe, Wutausbrüche in eleganten Salons inklusive. Er wird erst Sekretär, dann Vorstand der Berliner Secession, eine impressionistische Malervereinigung, die sich unter Max Liebermann gegen die akademische Kulissenkunst der Gründerzeit verschwört und Berlin kulturmäßig bald mitbestimmt. Cassirer pflegt eine Freundschaft mit Walther Rathenau, dem ersten jüdischen Außenminister, der später ermordet wird. Er raucht viel, veranstaltet spektakuläre Ausstellungen – und erst die Durieux! Sie ist modern, treibt Sport, bräunt sich in der Sonne und verdreht auf der Bühne Kulturgrößen den Kopf. »Sie ist eines der fortgeschrittensten Menschenwesen«, jubelt Heinrich Mann, während Franz von Stuck sie als düstere Circe malt. Mit ihr und Cassirer hat sich das Kunst- und Theaterleben Berlins auf höchstem Niveau vereint, zwischen ihrer Heirat 1910 und Pauls Tod wird keine wichtige Abendgesellschaft ohne das Traumpaar geplant worden sein.
Die Legenden überlebten beide, auch durch Durieux’ Memoiren: Sie verdanke Paul den Himmel, aber seiner aggressiven Launenhaftigkeit auch die Hölle auf Erden. Cassirer, als Münchner Student schreibend tätig, hat sich für seinen Roman »Josef Geiger« (1895) das Pseudonym Paul Cahrs ausgedacht, inhaltlich geht es jedoch heftig um ihn selbst: »Du hast eine einzige Eigenschaft, die wirklich eklig ist«, sagt ein Freund zu Josef alias Paul Cassirer: »Deine Unzufriedenheit mit dir selbst.« Der flamboyante Lebensstil zwischen Zweifel, Unruhe und Exzess war ein Grundpfeiler des Ruhms. Zugleich hat er Cassirers eigentliche Leistung lange verstellt. Mittlerweile verschwindet der manische Schöngeist immer mehr im Schatten, und es tritt ein weitsichtiger Kulturstratege hervor, einer, der die deutsch-europäische Kultur über Jahrzehnte getragen hat und sich nicht in zwei oder drei hübsche Storys falten lässt. Dafür braucht man schon ein paar Buchseiten mehr.
Vor ziemlich genau zwölf Jahren wurde begonnen, diesen echten Cassirer freizuschälen: einen visionären Kunsthändler, einen klugen Verleger, der von 1898 bis zu seinem Tod knapp 230 Ausstellungen veranstaltete, wegweisende Bücher ermöglichte und in seiner Pan-Presse bibliophile Kostbarkeiten mit Künstlergrafiken herausgab. Es ist ein historiografischer Gewaltakt, dem sich der Historiker Bernhard Echte zusammen mit dem Kunstkenner und Händler Walter Feilchenfeldt junior gestellt hat. Die Kunsthandlung über gut drei Jahrzehnte anhand von Zeitungsartikeln zu rekonstruieren: Das nämlich war Echtes geniale Idee, da die allermeisten geschäftlichen Unterlagen nach der Vertreibung des »jüdischen« Unternehmens durch die Nazis vernichtet wurden.
Nachdem die ersten beiden schwergewichtigen Schuber 2011 und 2013 veröffentlicht wurden, zeigt auch der unlängst erschienene dritte Doppelband über den »Kunstsalon Cassirer« die wahre Größe des Mannes in Wort und Bild. Und er zeigt ebenfalls, wie scharf man über die Kunstkritik in künstlerisch aufregende, extremistische Zeiten zurückblicken kann. Das alles funktioniert so gut, da Zeitungen damals in bis zu drei Ausgaben täglich erschienen, zumal in der Zeitungshauptstadt Berlin. Außerdem bildeten die Jahrzehnte bis zum Zweiten Weltkrieg eine Blütezeit der Kunstkritik.
Redaktionelle Nachtschichten und endlose Tage am Zeitungslesegerät, die die bislang bereits 4000 erschienenen Buchseiten forderten, mag Echte nicht beklagen, obschon das Projekt dem Verleger und Robert-Walser-Experten unter den Händen ins Unermessliche wucherte. Warum es sich lohnte, weiß er aber sehr genau: »Paul Cassirer hatte eine Vision: Er wollte das deutsche Bürgertum von der impressionistischen französischen Kunst überzeugen. Damals war das ja die Kunst des Feindes, des Konkurrenten.« Anfangs gab es nur wenige Sammler, beispielsweise den Unternehmer Eduard Arnhold, laut Cassirer der erste Kunde. Er kaufte 1898, im ersten Jahr der Kunsthandlung, Edgar Degas’ »Tanzschule« von 1876 für die hohe Summe von wahrscheinlich 50000 Mark.
Es war Degas’ erste Ausstellung in Deutschland, und seine Tänzerinnen galten damals als wenig liebreizend, das bezeugt ausgerechnet Rainer Maria Rilke: »Sie überraschen durch ihre hoffnungslose Hässlichkeit, diese Mädchen, denen das ganze Leben nach und nach in die Beine fällt.« Es brauchte eine neue Käuferschicht, die diese moderne Malweise verstand. Aus jüdischer Familie stammend, wurde Arnhold in der Gründerzeit als Energieunternehmer wohlhabend und soll über die Jahre eine Million Reichsmark bei Cassirer gelassen haben. Er verkörperte den neuen Blick. Niemand sehnte sich mehr nach Bürgerlichkeit als die assimilierten deutschen Juden – niemand musste dabei im skeptisch antisemitischen Deutschland erfindungsreicher sein. Das trifft auch auf den preussisch-jüdischen Cassirer zu.
Das Scannen durch Zeitungsjahrzehnte ist unglaublich produktiv. Schlägt man die Bände von Echtes und Feilchenfeldts Monumentalwerk auf, öffnet sich buchstäblich eine Tür in die Geschichte. Man spaziert durch das künstlerische Berlin vor hundert Jahren, notiert, was die anderen Kunsthandlungen veranstalten, atmet sich in den gesellschaftspolitischen Geist der Epoche. Gerade für die jüngsten Bände, den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gewidmet, ist das extrem wichtig. Wie konnte ein Land vom Pfad kultureller Vielfalt in den Krieg abbiegen? Warum wurde Stilpluralismus als quälender Ausdruck von Dekadenz empfunden? Immer wieder spürt man deutsche Nervosität und Wut auch in den kunstkritischen Auseinandersetzungen. Manch eine nationalistische Zeitungsredaktion traute sich zwar nicht, die Ausstellungen berühmter französischer Künstler bei Cassirer gänzlich zu verschweigen, druckte die Besprechung aber erst kurz Davor oder sogar nach Ausstellungsende ab.
Doch das ist nur ein Aspekt, man darf auch einfach das Literarische genießen, denn die Kritiken stammen oft von kunstschriftstellerischen Größen wie Max Osborn oder Karl Scheffler, von kundigen Museumsleuten wie Gustav Pauli oder Curt Glaser. Hier eine Kostprobe des nationalliberalen Albert Weidner 1913 zu Lovis Corinth: »Unangekränkelt von des Gedankens Blässe, strotzt Fleisch und Bein auf diesen Bildern. Immer wieder ist es der menschliche Körper, dessen tausendfach variierenden Linien und Lichter den Künstler interessieren. Da führt nicht einer den Pinsel, den der Verkaufsgedanke treibt, sondern ein Suchender. Corinth allein verbürgt die Gesundheit und Stärke der deutschen Kunst.« Das zu kompilieren und mit den schnörkellos erhellenden Essays zu einem kulturgeschichtlichen Panorama zu flechten, ist eine Großtat des Teams Echte-Feilchenfeldt. Weidners Text ist zudem ein gutes Beispiel dafür, wie schmal der Grat zwischen löblichem Kunsteifer und Volkstümelei in der Hauptstadt sein kann.
Doch mit dem Einsammeln und Interpretieren ist es nicht getan: Anhand der damals meist abbildungslosen, dafür bildreich geschriebenen Kritiken wurden die ausgestellten Kunstwerke identifiziert. Wer sich durch diese visuelle Geschichte der Kunsthandlung blättert, hört so schnell nicht mehr auf. Unfassbar, was alles durch Cassirers Hände ging: 1899 Édouard Manets bahnbrechendes »Frühstück im Grünen«, ein Jahr später Paul Cézannes »Harlekin« oder »Äpfel auf einem Tisch«, dann 1905 Gustave Courbets »Woge« oder 1912 die »Straße in Kragerø« von Edvard Munch. Jeder halbwegs Sehende kann dutzende Spitzenbilder aus den Ausstellungen ziehen und sie dann für ein anderes Dutzend leichterhands verwerfen.
Paul Cassirer, stets rauchend, stets aufbrausend, will nicht einfach teure Ware verscheuern, er will einen Geschmack etablieren. Was das angeht, ist er gar nicht nervös, sondern bestimmt und ruhig. In der Studentenzeit hat er, obschon dem hier todessüchtigen, dort schläfrigen Fin de Siècle zugeneigt, nicht nur in Kaffeehäusern herumgelungert, sondern nebenbei Kontakte geknüpft. In Berlin baute er sein Netz aus, im Zentrum der Firmensitz in der Victoriastraße 35, jetzt unter der Stadtbrache zwischen Philharmonie und Neuer Nationalgalerie begraben.
Dass Cassirers Plan langfristig aufging, ist heute jedem klar: Der Impressionismus in allen seinen Spielarten gehört zur begehrtesten Kunst der Welt. Doch erst die Berliner Ausstellungen haben etwa Vincent van Gogh so richtig berühmt gemacht, von 120 Werken in Deutschland gingen 80 durch Cassirers Hände, 1905 zum Beispiel ein wundervolles Sonnenblumen-Gemälde. Aber auch Monet, Manet, Degas, Cézanne, Liebermann, Leistikow, Corinth, Slevogt, Beckmann oder Kokoschka sind von ihm in Deutschland entdeckt oder popularisiert worden. Cézanne war dabei neben van Gogh der eigentliche Fixstern.
Um 1900 war nicht absehbar, dass diese Künstler einmal so gut dastehen würden. Cassirer musste langfristig investieren, so waren seine Bemühungen um van Gogh in den ersten zehn Jahren kaum rentabel. Noch 1911 musste der Händler erklären, dass ausländische Künstler den deutschen nicht das Brot wegnehmen: »Der gute fremde Künstler ist der Helfershelfer des guten deutschen Malers. Er kommt ins Land, nicht um ihn zu bekämpfen, sondern um ihm Beistand im Kampfe gegen die internationale Gilde der schlechten Maler zu leisten.« Klingt das nicht großartig? Damals war das Geschmacksurteil kein whatever works wie heute, sondern immer ein Angriff, den auch der Galerist führte, ein furchtloser Investor und mindestens so egozentrisch wie seine Künstler.
Als Apologet bürgerlicher Öffentlichkeit ließ Cassirer verlauten, dass jeder moderne Mensch, besonders der Künstler, die Kontroll- und Schutzwirkung der Öffentlichkeit brauche. Er musste es wissen, wollte er doch selbst literarischer Künstler werden. Sein adoleszentes Roman-Alter-Ego Josef Geiger zwingt sich, um nachts besser einzuschlafen, »zu einem schönen Traum. Er stellte sich vor, wie er seinen Freunden den Roman, den er schreiben wollte, vorliest, und wie sie ihn loben und begeistert ihn einen genialen Dichter nennen.« Das große Echo auf den Roman blieb aus. Was Cassirer als Schreibkünstler nicht erreichte, wollte er seinen Malern bieten: den Auftritt. Lieber ein Aufreger als gähnendes Schweigen im Blätterwalde; auch darin lieferte er das Vorbild für alle großen Galeristen des 20. Jahrhunderts.
Mit einer großkünstlerhaften Schau stilisierte Cassirer 1913 Max Beckmann zum verkannten Genie. Der Journalist Robert Breuer kommentierte nüchtern-witzig: »Es gelingt Beckmann auch, dass wir, vor seinen Bildern stehend, den Eindruck eines sehnsuchtsvollen, sehr ernsten Pfadfinders zum Menschlichen empfangen. Nur: Wir wissen nicht recht, ob das, war wir da vor uns haben, wirklich Malerei im letzten und höchsten Sinne ist.« Und Paul Westheim, der aufstrebende Kunstschriftsteller, hielt die Strategie, den bereits etablierten Beckmann »verkannt« zu nennen, für falsch und gefährlich: »Beckmann sollte doch begreifen, dass es nicht wahre Freundschaft ist, die ihn in eine so falsche Perspektive zerrt; er ist schließlich doch zu wertvoll, als dass ihn geschäftige Trabanten zu einer komischen Figur machen dürften.« Mit den »geschäftigen Trabanten« zielte Westheim auch auf den Kunsthändler, der seinen breiten, öffentlichkeitsvirtuosen Pinsel nicht nur bei Beckmann schwang. Die Künstler der Secession bezeichnete Cassirer als seine »Sklaven« und prahlte, täglich Geschäfte »in Millionenhöhe« zu machen. Das dürfte maßlos übertrieben sein, denn einige Geschäftsbücher haben die Zerstörung und Vertreibung der Galerie durch die Nazis nach 1933 überlebt.
Doch diese Show gehörte zum Verkaufen dazu, besonders in Berlin, wo sich zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik der erste moderne Markt für zeitgenössische Kunst herausbildete. Selbstredend gab es neben Cassirer noch andere schillernde Kunsthandelsgestalten. Eine davon arbeitete mit ihm zusammen, weil er sie in den mageren Nachkriegsjahren am Unternehmen beteiligt hatte. Sie hieß Grete Ring. Als »Hexe« des Kunstbetriebs bezeichnet, wohl einfach nur, weil sie keinen Mann, dafür aber Köpfchen hatte, forschte sie zu mittelalterlicher Kunst, schrieb pfiffige Feuilletons und enttarnte die Van-Gogh-Fälschungen der Kunsthandlung Wacker – den gewaltigen Betrug offenbarte sie mithilfe von Walter Feilchenfeldt, dem Vater des Buchherausgebers.
Der junge Mann kam mit Grete Ring zu Cassirer, nach dessen Tod hielt er die Geschäfte der Firma am Laufen und half seit seiner Vertreibung durch die Nazis, jetzt aus Amsterdam und der Schweiz operierend, verfolgten Künstlern bei der Flucht. Zudem konnte Feilchenfeldt senior mit seiner Frau Marianne Breslauer einiges an verfemter moderner Kunst aus Deutschland retten. Auch das gehört zur Geschichte der Kunsthandlung Cassirer und wird im letzten Doppelband zur Sprache kommen, der für die Zeit von 1914 bis 1933 noch einmal 90 Ausstellungen verzeichnen soll.
Echte kann eine Recherchepause vertragen, doch sucht er bereits nach Förderern, um das Unterfangen zum Abschluss zu bringen. Als Vorgeschmack für künftige Mäzene und Leser: Im letzten Band wird Rings und Feilchenfeldts dreiteilige Ausstellungsserie »Lebendige Deutsche Kunst« von 1932/33 besprochen, ein (leider ineffektives) Bollwerk gegen den erstarkenden Nationalsozialismus. In Kooperation mit Alfred Flechtheim zeigten die beiden dabei unter anderem Kunst des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Im Katalogvorwort mahnt Ring, man dürfe die neue deutsche Kunst »nicht als isolierte Sondererscheinung, vielmehr als unlösbaren Bestandteil des großen Zusammenhanges der wesentlichen Kunstübungen aller Zeit und Völker« begreifen.
Übrigens steht noch ein anderes Cassirer-Projekt aus: Jeder, der die Bände durchsieht, mag sich wundern, warum es noch keine museale Wiederauferstehung des epochalen Kunstsalons gibt. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Berliner Museen dem widmen. Oder sollte das lieber eine Aufgabe für den Berliner Kunsthandel sein? Könnte Cassirers Esprit die Auktionshäuser und Galerien zusammenbringen? Mit solchen Kunstwerken jedenfalls ist die Ausstellungssensation garantiert.
Die drei Doppelbände »Kunstsalon Cassirer. Die Ausstellungen« sind eine Großtat des Verlags Nimbus. Kunst und Bücher. Sie behandeln die Zeit von 1898 bis 1914 und kosten je 136 Euro. Die abschließenden Bände 7 und 8 (1914 bis 1933) sollen im Januar 2023 erscheinen.