Sammlerseminar

Boom der Neuen Sachlichkeit

Die Maler der Neuen Sachlichkeit reagierten mit einem kühlen, distanzierten Realismus auf die turbulente Weimarer Republik. Ihre Kunst triumphiert derzeit mit Rekordpreisen. Besonders für die unbekannten Meisterwerke, mit denen der Markt immer wieder überrascht

Von Sabine Spindler
14.09.2020
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 174

Messerscharf und mit einer Spur von Dekadenz hat Christian Schad 1927 sein berühmtes »Selbstporträt mit Modell« gemalt. Zart wie auf einem Bild Botticellis schimmert das Inkarnat der jungen Frau. Die Narbe auf ihrer Wange, ein Schandmal der Untreue, ist akribisch bis in die Details gezeigt. Wie so oft in Schads Gemälden ist die emotionale Temperatur in dem Meisterwerk, das jeden Besucher in der Londoner Tate Modern in Bann schlägt, auf den Nullpunkt gesunken.

Nicht nur für Christian Schad, für die Neue Sachlichkeit generell gilt: Es ist die Malerei des kühlen Blicks. Die selbstbewussten Frauen, die Huren und Geldsäcke, die Kakteen-Arrangements und leeren Straßenzüge verdichten sich zum Zeitmosaik, zusammengesetzt aus Glanz und Elend, aus Utopie und verstiegenen Träumen. Der distanzierte Blick war das ästhetische Sezierbesteck: für scharfe Gesellschaftskritik, um die Melancholie der Zweifler zu chiffrieren, aber auch für eine andachtsvolle Reinheitsapologie der Dinge. Weder Kandinsky noch Schlemmer, die das Wesen der Dinge mithilfe der Geometrie zu ergründen versuchten, haben die Widersprüchlichkeit der Weimarer Republik so lebensnah wiedergegeben.

Die Epochenbilder wie George Grosz’ „Grauer Tag“ in der Berliner Nationalgalerie sind auf dem Kunstmarkt rar. Kein Wunder, dass Georg Scholz’ naiv-bissiges Gemälde „Badische Kleinstadt bei Tage“, ein Panorama provinzieller Spießigkeit aus der Vogelperspektive, 2016 bei Christie’s London von geschätzten 300.000 Pfund auf 1 Million netto sprang. Jetzt ist das Bild im Art Institute in Chicago zu bewundern. Doch Hauptwerke wie diese sind die Spitze eines Eisberges, der noch längst nicht alles freigegeben hat. Als im Berliner Auktionshaus von Irene Lehr letztes Jahr die hübsche, vom Balkon einer hoch gelegenen Etage aus betrachtete Stadtansicht der Stralsunder Malerin Edith Dettmann bei 1000 Euro startete, hatte keiner erwartet, dass erst bei 13.000 Euro der Hammer fällt. Irene Lehr hat für Sammler einen besonderen Rat: „Es kommt auf die Bilder und nicht auf den Namen an; die künstlerische Tiefe zählt, die in dieser nur auf den ersten Blick glatten Malerei steckt.“

Grethe Jürgens
Grethe Jürgens porträtierte 1929 die neusachliche Malerin Gerta Overbeck, Zuschlag 130 000 Euro bei Grisebach. © Grisebach

„Kunst haben die Expressionisten genug gemacht, wir wollten wieder ganz nah ans Leben“, erinnerte sich Otto Dix an die Anfänge der Neuen Sachlichkeit. Wie ihm ging es vielen Malern. Nach Gasangriff in Verdun, nach Revolution, Inflation und Hungersnöten misstrauten sie einer Kunst der formalen Experimente und gesteigerten Ekstase. Den Skeptizismus gegenüber der Zeit packten sie in einen präzisen Realismus. Das neue Sehen, das sich auch in der Fotografie entwickelte, basierte auf Objektivität und Sachlichkeit. Unsentimental, kritisch, manchmal verstörend schön spiegelte nun die Malerei die sichtbare Welt samt ihrer sozialen Verwerfungen und des Aufbruchsgefühls der Weimarer Republik in den Zwanzigerjahren. Berlin wurde ein neues Babylon und feierte Josephine Baker wie eine Göttin. Derweil traf sich das Kulturbürgertum bei den Boxkämpfen Max Schmelings oder zum Fünf-Uhr-Tee im Romanischen Café. In Hannover eröffnete 1922 die erste Tankstelle Deutschlands, Mobilität und Massenkultur kontra Hochkultur. Das Triviale wie etwa Litfaßsäulen, Werbetafeln oder Zigarettenmarken schlich sich in die Bilder wie ein dokumentarischer Code ein.

Und diese Flucht in die Wirklichkeit beschränkte sich nicht nur auf die Malerei. Der Arzt Alfred Döblin saß nach Praxisschluss über seinem Manuskript zu „Berlin Alexanderplatz“ und montierte dokumentarische Beschreibungen von Schaufensterauslagen und Flugblättern in den ersten modernen Großstadtroman. Der Theaterregisseur Erwin Piscator integrierte Dokumentarfilme in seine Bühnenbilder. Es war eine Zeit kultureller Radikalität, aber auch der politischen Gegensätze. Adolf Hitler schrieb in Festungshaft sein ideologisches Pamphlet „Mein Kampf“, Kurt Tucholsky in der Weltbühne pazifistische Aufsätze.

Bilder einer neuen Zeit

Für Mythen und Historisches waren andere zuständig. Die neue Kunst war dem Jetzt verfallen. Und sie zerfiel in zahllose Konzepte, Handschriften und Ausdrucksmöglichkeiten. Abstrakte, expressionistische und surrealistische Tendenzen flossen ebenso ein wie die Faszination für die Spätgotik und die Renaissance. Während die Sezessionisten die Honoratioren der Gesellschaft und Bankiersgattinnen malten, fühlte sich die Generation der 30-Jährigen zu den kulturellen Unruhestiftern, zur intellektuellen Avantgarde, aber auch zu Außenseitern und Proletariern und bislang wenig dargestellten Berufsgruppen hingezogen. Auch deswegen pulsiert in ihren Bildern der Herzschlag einer neuen Zeit. Das Porträt wurde zur Gesellschaftsmetapher, auch der Fortschritt der Technik hinterließ hier seine Spuren.

Die neue Frau – mondän, selbstbewusst, provokant lasziv oder verloren melancholisch dargestellt – durchkreuzte überkommene Rollenbilder. „Sie repräsentieren für mich unsere Epoche“ soll Otto Dix zur Journalistin Sylvia von Harden gesagt haben und porträtierte sie in dem für ihn typischen verzerrten, das Hässliche betonenden Stil. Das Porträt wird zur Alltagsbeobachtung und Gesellschaftsmetapher. Die Einsamkeit des modernen Menschen fixiert die erst kürzlich wiederentdeckte Lotte Laserstein in dem verschollen geglaubten Frauen-Porträt „Im Wirtshaus“, dessen Preis vor einigen Jahren im Auktionshaus Ruef von taxierten 900 Euro auf 90.000 Euro schoss. Eine Einsamkeitsstudie, in der das Abstreifen eines Handschuhs zur Desillusionierungsgeste transformiert.

Auch der Fortschritt der Technik  hinterließ seine Spuren. Die Welt kam ab Mitte der Zwanzigerjahre via Radioempfänger ins Haus und der Kleinbürger saß im feinstem Anzug mit Partiturheft, Weinflasche und Kopfhörern neben dem Empfänger und hörte Mozart „Zauberflöte“. So erzählt es das ironiefreie, nur die Dinge sprechen lassendes Bild „Der Radionist“ von Kurt Günther, dessen Porträt in jedem Band über die Neue Sachlichkeit publiziert ist, dessen Werk jedoch erst vor wenigen Jahren ins Blickfeld geriet.

Zwischen Klassizismus und Sozialkritik

In der Kunsthalle Mannheim versammelte 1925 die Ausstellung „Neue Sachlichkeit“, die dieser Kunst endgültig ihren Namen gab, zum ersten Mal die Künstler der nachexpressionistischen Strömungen. Etwa Grosz mit seiner bissigen Sozialkritik oder Dix mit dem verschollenen Gemälde „Witwe“, das wie eine bizarre Adaption von Botticellis „Verkündigung“ ausgesehen haben soll. Alexander Kanoldt präsentierte kubistische Kantigkeit in seinen unverkennbaren Stillleben, die heute auf Auktionen 30.000 bis 100.000 Euro erzielen. Und Anton Räderscheidts „Haus Nr. 9“, das vor vier Jahren bei Grisebach 700.000 Euro netto kostete, verströmte surrealistische Erstarrung.

Die Mannheimer Schau demonstrierte, dass die Expressionisten ihren Zenit überschritten hatten. Aber wie schwierig die Abgrenzung zum Spätexpressionismus und zum expressiven Realismus war, zeigte die Einbeziehung von Max Beckmann und Karl Hofer. Die Kunstwelt stritt, wie sie die Gemeinsamkeit der vielen Gegensätzlichkeiten definieren sollte. Gustav Friedrich Hartlaub, Direktor der Mannheimer Kunsthalle, hatte es schon 1922 versucht: „Ich sehe einen rechten und einen linken Flügel. Der eine, konservativ bis zum Klassizismus, im Zeitlosen Wurzel fassend, will nach so viel Verstiegenheit und Chaos das Gesunde, Körperlich-Plastische in reiner Zeichnung nach der Natur wieder heiligen. Der andere Flügel grell-zeitgenössisch, weit weniger kunstgläubig, eher aus Verneinung der Kunst geboren, sucht mit primitiver Feststellungs-, nervöser Selbstentblößungssucht das wahre Gesicht unserer Zeit.“

Josef Mangold Lehr Auktion Neue Sachlichkeit
Josef Mangolds „Anemonen in Vase“ kam bei Lehr auf einen Hammerpreis von 26 000 Euro. © Lehr, Stefan Schiske

„Links“, das waren für Hartlaub die Veristen, zu denen er Dix, Grosz und Rudolf Schlichter zählt. Typisch für sie ist eine bis zum Grotesken gesteigerte Verzerrung der Realität und der Fokus auf sozialkritische Themen. Ihre Zentralfigur ist zweifellos Dix. Seine drastischen Schilderungen der Halbwelt stehen für die ganze Strömung. Für viele Sammler ist der Verismus der frühen Zwanziger der Höhepunkt des ganzen Jahrzehnts. Aber wer sich hierauf konzentriert, muss schon lange auf Aquarelle und Zeichnungen ausweichen. Das ist keine zweite Wahl, denn der Zeichnungsstil hat die Intensität der Gemälde. Mit hartem Strich und flüssig gesetzten Farbakzenten fing Jeanne Mammen die flirrend kesse Stimmung in den Cabarets ein. Und Schlichter hielt in seinen aufwendig ausgearbeiteten Aquarellen das Typenkabinett großstädtischen Lebens fest. Grafitzeichnungen sind auch dadurch attraktiv, dass man bei nicht wenigen Künstlern schon bei 2000 oder 3000 Euro einsteigen kann.

Dresden malte links

Durch die wirtschaftliche Konsolidierung ab 1925 verlor die Kunst an politischer Schärfe. Viele sprechen von einer Wende zur illusionären Sachlichkeit. Die Überzeichnung, die leichte Disproportionierung von Körpern aber blieb eine malerische Methode, die in den Bildern von Albert Birkle, Barthel Gilles oder Erich Ockert das aus den Fugen geratene Lebensgefühl spürbar machte. In den Dreißigern nahm der Realismus häufig beschaulichere, formalere Züge an, bis er unter den Nazis entweder zu einer depressiven Harmlosigkeit oder zu einem pathetischen Realismus tendierte.

In Dresden nahm man die Bezeichnung „links“ wörtlich. Otto Griebel, Hans und Lea Grundig oder Curt Querner widmeten sich proletarischen, kommunistischen Themen. Auch Wilhelm Lachnit, der seine Gesichter präzise wie ein Altmeister ausarbeitete und den Rest eher flächig und mit rauhem Pinselstrich gestaltete, zeigt in seinen Porträts jene, die nicht viel vom Glanz der vermeintlich goldenen Zwanziger abbekommen hatten. Nur wenige Bilder aus Dresden passierten in den letzten Jahren den Auktionsmarkt. Griebels Doppelakt „Zwei Frauen“ und Hans Grundigs „Schüler mit roter Mütze“ gehörten zu den gefragtesten. Das eine brachte bei Ketterer netto 130000 Euro, das andere bei Grisebach gerade erst im Juli 370.000 Euro.

Otto Griebel Zwei Frauen Ketterer Neue Sachlichkeit
Spitzenpreis für Otto Griebel: Das Aquarell „Zwei Frauen“, 1924, sprang 2010 bei Ketterer von taxierten 30 000 auf 130 000 Euro netto. © Ketterer Kunst

Wie es in München in den Zwanzigern zuging, hat Lion Feuchtwanger in seinem Roman „Erfolg“ beschrieben. Wer zu progressiv war, eckte an. Selbst die weichen Frauen- und Kinderfiguren in den gemächlichen, fast pastellfarbigen Kompositionen Georg Schrimpfs, die wie moderne Adaptionen des Romantikers Philipp Otto Runge anmuten, waren den Münchnern damals zu modern. Heute werden seine Bilder auf Auktionen zunehmend sechsstellig zugeschlagen. Gerade erzielte Van Ham für sein melancholisches „Mädchen am Fenster“ 195.000 Euro. Schrimpf ist das Paradebeispiel der „Neoklassizisten“, die Hartlaub zum „rechten“ Flügel zählte. Was keine politische Aussage war: Der Maler stand der Revoluzzer-Szene um Oskar Maria Graf nahe, seine einstige KPD-Nähe führte 1937 zur Entlassung aus dem Lehramt.

Die Anmut und die menschliche Zugewandtheit der Kunst um 1800 inspirierten auch Carlo Mense, Professor in Breslau, seinen Schüler Arno Henschel aus Görlitz und den Rheinländer Eberhard Viegener. Berührungspunkte zur Einfachheit der Biedermeiermaler und eine Nähe zum großen Naiven der Moderne, Henri Rousseau, zeigten sich in Norddeutschland. Dort durchzog eine bewusst sonntagsmalerische Zweideutigkeit die Hinterhöfe, Dachboden- und Stadtszenen des Hannoveraner Kreises um Ernst Thoms, Erich Wegner und Grethe Jürgens.

Magischer Realismus

Die Einteilung in Klassizisten und Veristen hat ein Manko, denn sie berührt nicht das Fantastische und Rätselhafte, das vielen Bildern eigen ist. Für den Kunstkritiker Franz Roh, der durchaus an Hartlaubs Unterscheidung von „rechts“ und „links“ festhielt, hatte das Metaphysische des neuen Realismus mehr Gewicht als rein stilistische Kategorisierungen. Doch in seinem 1925 erschienenen Buch „Nach-Expressionismus – Magischer Realismus“ beschrieb er nicht, wo die Trennlinie verläuft. Denn die Lust am Rätselhaften zog sich durch alle Bildgattungen, Themen und Strömungen. So flüchtete der Kölner Josef Mangold vor den Stürmen der Zeit in eine überhöhte puristische Ordnung. Mit feinstem Pinsel und wie von jedem Schmutz befreit, zelebrierte er stilisiert-perfektionierte Blumenvasen als Hohelied auf die Unergründlichkeit der Dinge und ihres Seins. Ein magischer Realismus bestimmt auch die Gemälde von Heinrich Maria Davringhausen, Georg Scholz oder Franz Radziwill, der die atmosphärische Bedrohung zu apokalyptischen Visionen steigerte.

Sie alle drückten den Kern von Rohs Theorie aus: „Mit magisch, im Gegensatz zu mystisch, sollte angedeutet sein, dass das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält.“ Für Roh lag das Magische im Spannungsverhältnis „einer gewissen Wirklichkeitsschärfe zu dem übermäßig Komponierten“. Anders ausgedrückt: In manchen Bildern ist jedes Detail mit gleicher Präzision gemalt, aber Beiläufiges aus den Szenen getilgt. In anderen sind die Räume und Perspektiven bedrohlich verzerrt und verengt oder in einer reißbrettartigen Exaktheit erstarrt, die Schatten hart oder gar nicht existent.

Rudolf Wacker Sebastian Dorotheum
Rudolf Wackers Stillleben mit einer Figur des heiligen Sebastian, 1927, vervierfachte Ende Juni im Dorotheum beinahe die Taxe, als bei 300 000 Euro der Hammer fiel. © Dorotheum

Blütezeit des Stilllebens

Die Überschärfe ist ein effektvolles malerisches Mittel, Naturalismus zu vermeiden. Sie verbannt das Subjektive und Emotionale. Schließlich geht es um die objektive Dinglichkeit der Welt. Es ist kein Wunder, dass das Stillleben als Ausdruck einer Ordnung mit mehr oder weniger versteckten symbolischen Zitaten eine Blütezeit erlebte. Rudolf Dischinger etwa wischte mit metallischer Härte jeden Anflug von stimmungsvoller Impression aus Waschtisch-Arrangements und Grammofon-Nischen. Ein Meister der Gattung war Franz Lenk. Mit seinem hintersinnigen Hyperrealismus hat er aus dem Unspektakulären wie einer roten Gießkanne vor halbhohem Bretterzaun die Melancholie seiner Zeit herausgefiltert. Lenk malte atemberaubende Bilder wie sein „Stillleben mit gelber Tüte“ in der Mannheimer Kunsthalle, aber auch ziemlich spannungslose Landschaften. Das erklärt die Preisschwankungen zwischen 2000 und 70.000 Euro.

Wie Lenk zeigten viele Neusachliche nicht nur Bewunderung für die alten Meister, sie griffen zugleich die Technik der Lasurmalerei wieder auf. Dabei wird die Farbe hauchdünn Schicht für Schicht aufgetragen. Schad nutzte dieses Verfahren für die ätherische Schönheit des Inkarnats und für die Transparenz hauchzarter Textilien. Dix verlieh damit den Farben etwas Durchscheinendes und steigerte die zeichnerischen Konturen wie die Plastizität. Für den konservatorischen Umgang dieser Bilder aber gilt das Gleiche wie für alle Gemälde: Eine zu hohe Luftfeuchtigkeit, zu hohe Temperaturen und auch direkte Sonneneinstrahlung führen zu Schäden. Schmutz und Nikotinschleier sollte man nur von einem Restaurator entfernen lassen.

Flucht ins Fantastische

Die Neue Sachlichkeit war keine deutsche Erfindung. Impulse kamen früh aus Italien. Schon 1910 malten Giorgio de Chirico und kurz darauf der Futurist Carlo Carrà bühnenbildhafte Architekturszenerien in unwirklichen Farben und fragwürdiger Lichtregie. „Pittura metafisica“ nannten sie ihre Methode. Die Philosophie beschreibt Metaphysik als Wahrnehmung der hinter den Dingen liegenden Seins-Fragen. Ein weites Feld, das auch die Schweizer Maler Niklaus Stoecklin, Eduard Gubler und Theodor Barth, die Brüder François und Aimé Victor Barraud oder der Eigenbrötler Adolf Dietrich allesamt mit einer Melange aus Rückbesinnung auf Florentiner Renaissance, Avantgarde und Heimatmalerei erkundeten. Auch in Österreich zeigte sich die Neue Sachlichkeit weniger als Chronik der turbulenten Zwanziger. Die Flucht in die realen Dinge verkehrte sich in eine Flucht ins Geheimnisvoll-Fantastische. Der einstige Expressionist Rudolf Wacker entdeckte 1925 seine „Liebe zu den Dingen“. Ähnlich wie Lenk offenbart er in verzerrten und in „übersteuerte“ Farben getauchte Stadtansichten die Brüchigkeit der Welt. In leeren, irrealen Stillleben kombinierte er Puppen, Masken und Vögel und rückte damit in die Nähe des Surrealismus. Mit 300.000 Euro realisierte schon 2017 Hassfurther einen Topzuschlag für die Landschaft „Taubenschlag Goslar“. Gerade erst erzielte das Dorotheum die gleiche Summe für das abgründige „Stillleben mit St. Sebastian“. Franz Sedlaceks Thema war die dämonische Übersteigerung der Realität. Vor schwarzem Hintergrund werden Blüten und Blätter in seinen Blumenstillleben zu unheilversprechenden, bizarren Wesen. Nur selten noch sind seine faszinierenden Gemälde unter der 100.000-Euro-Marke zu haben.

Der Kunstmarkt entwickelte erst um 1970 wieder ein Auge für die Qualitäten der Neuen Sachlichkeit. Das Nachkriegs-Westdeutschland hatte sich gegen jedweden Realismus gesträubt. Erst als Maler wie Georg Baselitz und Horst Antes sowie die Pop-Art der Gegenständlichkeit wieder einen Platz einräumten, wurde der kühle Blick der Zwanzigerjahre wiederentdeckt und neu geschätzt. Dem Münchner Galeristen Michael Hasenclever ging es damals ein bisschen so wie Dix und Schad fünfzig Jahre zuvor; der Expressionismus hatte sich für ihn erschöpft. „Ich war so fasziniert von den neusachlichen Bildern, weil sie relevant waren, voller sozialer und politischer Apelle und weil sie das Menschliche an sich mit seinen Exzessen und seiner Schönheit betrachteten“, erinnert er sich. Mitte der Siebziger begann er, das Werk Felix Nussbaums zu betreuen und zu vermitteln. Die düster gestimmten Bilder des Osnabrücker Malers, der als Jude schon vor dem Machtantritt Hitlers die antisemitischen Anfeindungen besonders spürte, reflektieren die heraufziehende Bedrohung. 1944 wurde Nussbaum in Auschwitz ermordet.

Holzmodelle Carl Grossberg Galerie Michael Hasenclever
Das herrliche Aquarell „Holzmodelle rot“ von Carl Grossberg, 1936, kostet bei ­Michael Hasenclever 30 000 Euro. © Courtesy Galerie Michael Hasenclever

Hasenclever beschreibt den heutigen Markt als ausgetrocknet. In den Siebzigern und Achtzigern lebten einige Künstler der Neuen Sachlichkeit noch, die Nachlässe waren ergiebig. Und die internationale Nachfrage trieb die Preise bis in den siebenstelligen Bereich. Der letzte Nachlass, zu dem Hasenclever Zugang hatte, war der von Carl Grossberg, der wie kein anderer die Macht der Maschinen in einem überhöhten und perfektionierten grafischen Stil ästhetisierte. Grossberg war ein Magier des Technoiden. Stets konstruktiv im Bildaufbau, verwandelte er Fabrikanlagen mit ihren Rohren, Tanks und Gerüsten zu Labyrinthen des Industriezeitalters: die bunte Leere der modernen Welt. Die phänomenalsten Gemälde Grossbergs werden von Privatsammlern gehütet wie ein Schatz. Momentan bietet der Berliner Kunsthändler Hendrik Berinson eine Ansicht des „Muntplein“ in Amsterdam von 1925/26 für etwas mehr als eine Million Euro an.

Noch sind Entdeckungen möglich

Der Markt für die Neue Sachlichkeit ist kein Zug, auf den man schnell aufspringen kann. Die Galerie Brockstedt ist glücklich, dass sie Zeichnungen von Grosz und Jeanne Mammen sowie Schlichters Gemälde „Speedy stehend“ von 1930 präsentieren kann. Es ist ein Museumsbild, nicht nur wegen seines siebenstelligen Preises. „Aber auch unterhalb der Topliga gibt es hervorragende Bilder“, sagt Boris Brockstedt. Wer den Markt aufmerksam verfolgt, wird immer wieder auf Werke von bislang nicht so bekannten Künstlern stoßen, die schon für niedrige vierstellige Summen zu haben sind.

Man muss dem Sammler und Autor des Ratgeber-Buchs „Große Kunst für kleines Geld“ Erling Kagge nicht in allem zustimmen. Aber dass „Neugier und Entscheidungsfreudigkeit“ der Weg zu einer guten Sammlung sind, wenn man nicht über ein Managergehalt verfügt, das trifft trotz der deutlich steigenden Preise für Hauptwerke auch noch für die Neue Sachlichkeit zu.

Hier geht es zum Service des Sammlerseminars Neue Sachlichkeit

Zur Startseite