Mit seiner Kunst drückte Darrel Ellis die Brüche aus, die sein Leben prägten. Der internationale Markt ist für die Arbeiten des früh verstorbenen New Yorkers momentan mehr als aufnahmefähig
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11.10.2020
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 16
Der afroamerikanische Künstler Darrel Ellis hatte kein langes Leben – als er 1992 an Aids starb, war er gerade einmal 33 Jahre alt. Dennoch hinterließ der New Yorker rund 1200 Werke. Dreißig seiner Arbeiten waren bis Ende August unter dem Titel „Darrel Ellis: Matter“ in den Berliner Räumen der Galerie Crone zu sehen – die Wiederentdeckung dieses Sommers.
Einen Monat vor Darrels Geburt kam sein Vater Thomas Ellis, ein Fotograf mit Studio in Harlem, bei einer Verkehrskontrolle durch Polizeigewalt brutal ums Leben. Die Existenzgrundlage war dahin. Was folgte, war der soziale Abstieg aus der schwarzen Mittelschicht – am Ende stand der Umzug in die Bronx. Das Leben warf Darrel Ellis also gewissermaßen bereits aus der Bahn, ehe es überhaupt begonnen hatte.
In den Siebzigerjahren, als Kunststudent an der Cooper Union, begann Ellis dann, sich intensiv mit den geerbten Fotos und Negativen seines Vaters auseinanderzusetzen – woraus eine regelrechte Obsession erwuchs. Man könnte fast meinen, der Künstler habe auf diesem Weg eine Art Wiederbelebung des Verstorbenen betrieben. Und so machte er dessen sensible Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die das private Umfeld – die Familie, die schwarze Community – dokumentierten, zum Ausgangspunkt seines eigenen Schaffens.
Der junge Ellis zerschnitt sie, bemalte sie, zeichnete sie ab, projizierte die Negative auf kleine Stufenreliefs aus Ton oder Gips, um die „gestörten“ Bilder dann wieder neu zu fotografieren. Die Ergebnisse sind verwaschen, geradezu geisterhaft. Unerwartete Risse durchqueren die Sujets, die Aufnahmen „stottern“.
„In den 70er-Jahren war New York pleite, ziemlich korrupt und gewalttätig“, erinnert sich Mary Boone, die einstige Galeristin Jean Michel Basquiats. „Die Menschen schliefen in den Hauseingängen und auf der Straße. Aber es war auch die Welt der Kunst.“ Und so wie Basquiat begann auch Ellis zunächst damit, kleine Werke in Restaurants zu verkaufen. Der Schweizer Künstler Not Vital erwarb bei einer solchen Gelegenheit gleich 25 seiner Fotos und stellte Ellis zudem als Assistenten ein. Das East-Village New Yorks mit seinen zahlreichen Galerien wurde fortan der bevorzugte Aufenthaltsort des Künstlers und brachte ihm in den Achtzigern einen großen Freundeskreis ein. Darunter Fotografen, Filmemacher und Installationskünstler wie Lyle Ashton Harris, Sadie Benning, Pepón Osorio, Zoe Leonard, Jack Pierson, Carrie Mae Weems und Felix Gonzalez-Torres, die – wie Darrel – häufig ihre persönlichen Lebenserfahrungen in ihre Arbeiten einbezogen – und damit die „Familienwerte“ der Reagan-Ära infrage stellten.
Zu Ellis’ Freunden und Bekannten aus dieser Zeit zählten Andy Warhol, Jeff Koons, Brice Marden und Basquiat. Ebenso die amerikanische Fotografin Nan Goldin, die ihn drei Jahre vor seinem Tod im Rahmen der von ihr kuratierten Ausstellung „WITNESSES“ als einen der vielen aufstrebenden New Yorker Künstler im Alter zwischen 25 und 40 Jahren präsentierte, die an Aids erkrankt waren. Robert Mapplethorpe und Peter Hujar – Künstler, die Ellis öfter porträtiert hatten –, Keith Haring und viele andere wurden von der Krankheit in jenen Jahren dahingerafft. Ellis fiel im Frühjahr 1992 infolge seiner HIV-Erkrankung ins Koma – am 3. April starb er. Kurz nach seinem Tod erlangte sein Werk erstmals internationale Aufmerksamkeit – in der mittlerweile legendären MoMA-Ausstellung „New Photography 8“ (29. Oktober 1992 bis 12. Januar 1993). Doch danach geriet es langsam wieder in Vergessenheit.
„Mit seiner Kunst“, so Markus Peichl, der Macher der Ausstellung in der Galerie Crone, „drückt Ellis die Brüche, Einschnitte und Zerstörungen aus, die seine Familie und sein Leben geprägt haben – und die alle schwarzen Familien in der latent rassistischen US-Gesellschaft auf die verschiedensten Weisen kennen und erlebt haben.“ Und so lieferte die Galerieausstellung nebenbei auch einen Beitrag zur aktuellen Black-Lives-Matter-Bewegung.
Die gesellschaftlichen Diskurse der Gegenwart spiegeln sich auch in den strategischen Kunstkäufen der großer Ausstellungshäuser. So hat das MoMA in San Francisco (SFMOMA) jüngst ein Gemälde Mark Rothkos für 50 Millionen Dollar verkauft, um sich mit Werken von schwarzen Künstlern und mit Queer Art zu verstärken – darunter Arbeiten von Ellis. Auch das Whitney Museum of American Art deckte sich zuletzt mit Arbeiten des Künstlers ein. Überraschend spät, wenn man bedenkt, dass Ellis nach seinem Studium erst Stipendiat des MoMA PS1, dann des Whitney Independent Study Program gewesen war: Man hatte ihn also einfach vergessen, den einstigen Zögling. Nach mehr als 20 Jahren hatte es 2019 erstmals wieder eine umfassende Ellis-Ausstellung gegeben: in der New Yorker Galerie Osmos. Der Zufall wollte es, dass die Crone-Galeristen vor Ort waren – und so entstand die Idee für die Europapremiere in Berlin.
Die überwiegend schwarz-weißen Fotos des Künstlers, die manchmal von ihm auch farbig übermalt wurden, kosteten bei Crone 6500 bis 8800 Euro. Die Aquarell-Tusche-Malereien, den Sujets nach seinen Fotos entlehnt und häufig Selbstporträts, lagen zwischen 7500 und 13 500 Euro. Binnen eines Jahres haben die Preise für Ellis somit um 30 Prozent zugelegt – trotz der widrigen Umstände durch die Corona-Pandemie scheint der internationale Markt für seine Position momentan mehr als aufnahmefähig. Viele Werke des Künstlers konnten bereits in namhaften Sammlungen platziert werden – etwa in der Berliner Spreegold-Collection.
Zwischen Weihnachten und Neujahr eröffnet die erste institutionelle Ellis-Ausstellung in Europa: Die Fundaziun Not Vital im schweizerischen Ardez bei St. Moritz widmet sich dem Künstler – inklusive einer ersten Werkmonografie. Weitere Ausstellungen sind bereits in Planung. Und Sammler dürften im November auf der Art Cologne und im kommenden Jahr auf der Arco in Madrid Gelegenheit haben, Arbeiten von Ellis zu erwerben – kurz vor dem nächsten Preissprung. Übrigens: Auch die Auktionspreisdatenbanken haben den Künstler jüngst in ihr Register aufgenommen – Indiz für einen erwachenden Zweitmarkt.