Hans Ticha

Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Lila?

Früher malte Hans Ticha, einer der wenigen Popkünstler der DDR, seine politischsten Bilder im Geheimen. Mit knallbunten Farben und radikaler Formvereinfachung ging er seinen eigenen Weg. Ein Atelierbesuch im hessischen Hochstadt 

Von Lisa Zeitz
01.10.2020
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 175

Wer dem Kopfsteinpflaster der Hochstädter Hauptstraße bis zum Fuß des mittelalterlichen Kirchturms folgt, vorbei an einem hübschen Fachwerkhaus neben dem anderen, vorbei an Ebbelwei-Schenken und dem Heimat­museum, kann in der Ferne bis nach Frankfurt schauen. Das von Streuobstwiesen umgebene Städtchen liegt an der Hessischen Apfelweinstraße und ist für seine Keltereien im ganzen Bundesland berühmt. Die Tür eines Fachwerkhauses auf der Hauptstraße sticht in leuchtendem Blau und Rot heraus. Hier wohnt seit mehr als 25 Jahren der Künstler Hans Ticha gemeinsam mit seiner Frau Monika Funk.

Wir sind an einem heißen Sommertag verabredet, an dem die Wolken sich wie in Vorbereitung eines Gewitters hoch auftürmen. „Kommen Sie herein.“ Maske? Er winkt ab. Durch das verwinkelte, alte Haus gehen wir in den sonnigen Hof, wo ein angenehmer Luftzug weht. Hier ist zu sehen, womit sich der Künstler neben dem Malen beschäftigt: Vor einer Sandsteinmauer stehen Töpfe mit Fuchsien in allen Rot- und Lilatönen, Agapanthus reckt sich blau und weiß in die Höhe, es gibt Rosen und Pelargonien. Entlang der gegenüberliegenden Mauer ranken sich Glyzinien und Trompetenwinden. Sogar Zitronen gedeihen hier. Es ist ein kleiner botanischer Garten.

Zum 80. Geburtstag ehren ihn die ostdeutschen Museen

Auf der Rückseite der alten Hofreite hat der Künstler einen Stall in zwei Atelierräume umgebaut: In einem lagern seine Gemälde, manche aus den Sechzigerjahren, manche gerade erst fertiggestellt. Im anderen ist seine Staffelei am Fenster platziert, an den Wänden Regale voller Bücher, Farben und Pinsel, ein Radio auf einem Hocker. Es stehen noch ein paar Kisten herum, erklärt Hans Ticha, weil erst vor ein paar Tagen Werke und Dokumente abgeholt wurden – er hat seinen Vorlass an Illustration und Druckgrafik dem deutschen Schrift- und Buch­museum der Nationalbibliothek in Leipzig vermacht. Eben erst ist auch die große Retrospektive im Schleswig-Holstein-Haus in Schwerin anlässlich seines 80. Geburtstags am 2. September zu Ende gegangen. Eine kleinere, intimere Schau läuft noch bis Anfang nächsten Jahres im Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum in Schloss Rheinsberg. Sie heißt „Geburtstagsbilder für Monika“.

Wir setzen uns mit einem Glas Hochstädter Apfelsaft unter eine flatternde Markise, um über sein Leben zu sprechen. „Das mit den Blumen“, erklärt Hans Ticha, komme aus seiner Kindheit. Geboren 1940 im böhmischen Bodenbach, wurde er im Alter von fünf Jahren mit „umgesiedelt, wie es damals euphemistisch bezeichnet wurde – das war eine Vertreibung, mit zwischenzeitlicher Zwangsarbeit“. Seine Mutter musste in einer Gärtnerei arbeiten. „Da habe ich ein Jahr herumgelungert und den Blumen und Pflanzen beim Wachsen zugeguckt. So ein bissel was ist kleben geblieben.“

Das Abitur machte er 1958 in Schkeuditz bei Leipzig. Da die Leipziger Kunsthochschule auf den Teenager abweisend wirkte, traute er sich nicht, dort ein Kunststudium zu beginnen. Zu unsicher sei er gewesen. „Im Nachhinein habe ich gemerkt, dass es besser war, denn die hätten mich glatt überfahren. Ich wäre in das falsche Fahrwasser gekommen.“ So studierte er zunächst vier Jahre Pädagogik und arbeitete anschließend kurze Zeit als Lehrer für Geschichte und Kunsterziehung, bevor er sich – damals war ein Zweitstudium noch möglich – an der Akademie in Berlin-Weißensee bewarb.

Flucht in die Gebrauchsgrafik

Das Gefühl, er sei ein Außenseiter, begleitete ihn auch in Weißensee. Er hatte sich für Grafik beworben, begann aber in der Malereiklasse. „Heute will es mir niemand glauben, aber es gab damals Sonderverträge mit Intellektuellen in der DDR. Wichtige Mediziner oder andere Wissenschaftler bekamen ein höheres Gehalt und die Zusage, dass ihre Kinder studieren dürfen, was sie wollen. Die haben sich dann unter anderem auch in Weißensee beworben.“ In der Aufnahmeprüfung saß ganz entspannt ein Abiturient neben Ticha, der sagte, er sei schon angenommen. „Da war es klar. Man hatte kaum eine Chance. Bei 50 bis 70 Bewerbungen blieben am Schluss drei Leute.“

In der Malereiklasse hätte sich Ticha nach dem ersten Studienjahr zwischen dem systemkonformen Walter Womacka, der ein optimistisches Weltbild sowjetischer Prägung propagierte, und Fritz Dähn entscheiden können, der ebenfalls dem Sozialistischen Realismus verpflichtet war und ihn mit dem Expressionismus in Einklang zu bringen versuchte. „Da dachte ich: Jetzt muss ich entweder gehen, oder ich mache das, wofür ich mich eigentlich beworben habe, nämlich Gebrauchsgrafik.“ Das Fach war breit angelegt zwischen freier und angewandter Grafik und umfasste unter anderem Typografie, Illustration und Plakate – womit Ticha nach dem Studium nicht nur seinen Lebensunterhalt verdiente, sondern offiziell Anerkennung erhielt und viele Preise gewann.

In Kurt Robbel fand Ticha einen aufgeschlossenen Lehrer, den er allerdings auch als ängstlichen Menschen erlebte – kein Wunder: „Er hatte gerade die Nazizeit überstanden und wollte seine Stellung als Hochschullehrer nicht riskieren.“ Ticha erinnert sich, wie er seine Bilder einwickeln und in ein separates Kabuff bringen musste, um sie Robbel zu zeigen. Der schloss dann auch noch die Tür ab, bevor er sich die Werke anschaute. Und wie hat er die Arbeiten beurteilt? „Er war eigentlich wohlwollend. Am Schluss dann nicht mehr, aber da war er schon alt.“ Als Ticha mit Rasterpunkten ankam, sei das Robbel deutlich zu viel gewesen.

Wie konnte man damals in Ostberlin überhaupt amerikanische Pop-Art sehen? „Gar nicht“, sagt Ticha und erzählt, dass an der Bibliothek der Hochschule nicht einmal Bücher über die Moderne an die Studenten ausgeliehen wurden. An Informationen zu kommen war in der Zeit, in der Walter Ulbricht an der Spitze der SED stand, das heißt bis 1971, sehr schwierig. Übersichtswerke über die Kunst dieser Zeit, so Ticha, seien aber auch im Westen erst Anfang der Siebzigerjahre erschienen. „Doch zum Beispiel die Dumont-Taschenbücher, in denen überhaupt erst einmal aufgezeigt wurde, was Surrealismus ausmacht, dieses Zeug ist nicht in der DDR gelandet. Das wurde vom Zoll aus den Päckchen entfernt.“

Picasso wurde in der DDR gezeigt, die Pop-Art nicht

Und wie stand die DDR zu Fernand Léger? Eine gewisse Verwandtschaft von dessen glatten Proto-­Pop-Figuren und seiner Maschinenästhetik zu Kompositionen von Hans Ticha ist durchaus erkennbar. „In der Kulturpolitik war Légers Kunst nicht gut angesehen. Aber da er in der Kommunistischen Partei war, ging er durch, wie ja teilweise auch Picasso.“ Noch prägender allerdings war für Ticha ein Buch über den russischen Konstruktivisten El Lissitzky. „Das war eine ausschlaggebende Publikation, wichtiger als die Pop-Art-Bücher, die ich nur am Rande wahrnahm.“

Wie schwierig es war, Informationen über die aktuelle Kunst in Amerika zu finden, zeigt Tichas erste, indirekte Begegnung mit Pop-Art. Gegen Ende der Sechzigerjahre fand er auf der Leipziger Buchmesse die Schmähschrift eines russischen Kulturpolitikers über den Verfall der Kunst im Kapitalismus – mit kleinen Schwarz-Weiß-Abbildungen von Werken Roy Lichtensteins und Richard Lindners. Über Linder fand Ticha außerdem einen Artikel in der Neuen Berliner Illustrierten. Darin wurde der Künstler zwar „mit einem leicht antisemitischen Unterton angegangen und bösartig beschimpft“, aber es waren Abbildungen zu sehen. „Insgesamt fand ich Pop-Art, so weit ich etwas zu sehen bekommen habe, sehr interessant“, sagt Ticha.

 In den Sechzigerjahren überführte Ticha Rasterpunkte aus der Gebrauchsgrafik in seine Kunst. Dass New Yorker Pop-Artists ebenfalls Rasterpunkte verwendeten, erschütterte ihn: „Als ich gesehen habe, dass Lichtenstein das schon seit zehn Jahren macht, habe ich schlagartig damit aufgehört.“ Zumindest für eine Weile. „Später stellte ich fest, dass auch Polke Rasterpunkte verwendet, und habe wieder damit angefangen.“

Mit Buchillustration mochte er Erfolg haben, aber es war Ticha klar, dass er mit seiner Malerei „nicht aus dem Haus kommt“. Dabei, erklärt er, hätte in erster Linie nicht der Künstler den Ärger abbekommen, sondern der Aussteller. Vielleicht hätte er sich selbst noch ganz gut herausreden können: „Ich bin Künstler, ich bin blöd. Ich werde mich bessern.“ Er lacht. Für die Veranstalter einer unliebsamen Ausstellung dagegen wäre es schwieriger gewesen. Einen gewissen Grad der Öffnung brachte Honecker mit seinem Prinzip der „Weite und Vielfalt“ in die Kulturpolitik. Die neuen Möglichkeiten, meint Ticha, habe er aber beinahe verpasst, da er sich seit Ende der Sechzigerjahre die offiziellen Ausstellungen einfach nicht mehr angeschaut habe. Nun reichte er doch wieder Werke zu den Bezirksausstellungen ein, die regelmäßig am Fuß des Berliner Fernsehturms stattfanden und ihm ein „bissel preußische Toleranz“ entgegenbrachten: „Es gab eine bunte Ecke in der Nähe der Toilette, da hingen die Abweichler.“

Das Thema Sport erlaubte subtile politische Äußerungen

Furore machte er mit seinem Werk „Mannschaft“, auf dem die Fußballer als gesichtslose Figuren mit nummerierten Trikots wie gleichgeschaltete Roboter zu einem Gruppenbild angetreten sind. Hans Ticha blättert im Werkverzeichnis, das vor uns auf dem Tisch liegt, um nach den Maßen der Leinwand zu suchen. „Da – es ist 190 Zentimeter breit.“ Nach der Ausstellung in Berlin wanderte das Bild zur großen DDR-Ausstellung nach Dresden. Ticha fuhr zur Eröffnung und suchte es zunächst vergeblich. Schließlich fand er es in einem separaten Raum, der vermutlich abgeschlossen war, weil Honecker es bei seinem Rundgang nicht sehen sollte.

Das Thema Sport spielt im Œuvre von Ticha eine große Rolle. Es gibt Fußballspieler und Schlittschuhläufer, Reiter, Boxer, Tänzerinnen und Fahrradfahrer. Nicht nur kann der Künstler mit den Motiven die menschliche Figur in all ihren Bewegungen darstellen, auch politische Äußerungen ließen sich damit in der DDR abhandeln. „Das Publikum war damals hellhöriger. Heute regt sich ja keiner mehr auf.“

Direkt aus der Dresdner Ausstellung wurde „Mannschaft“ vom damaligen Direktor des Weimarer Museums, der sehr aufgeschlossen war, angekauft. Schwer gekränkt hatte Ticha mit dem Bild allerdings den Deutschen Turn- und Sportbund. Sport war für die DDR „die einzige Möglichkeit, die Überlegenheit des Systems zu zeigen“ und der DTSB daher eine mächtige Vereinigung. Ticha bekam einen Brief, in dem stand, er solle gefälligst mit seinen Bildern beim DTSB vorbeikommen, es gäbe etwas mit ihm zu diskutieren.

Nach einiger Zeit antwortete Ticha und lud im Gegenzug zu sich ins Atelier ein: „Vorsichtshalber habe ich gefragt, wer da alles kommt, wie viele, und mir eine gleich große Mannschaft zusammengestellt, damit ich diesem Tribunal nicht allein gegenübersitze.“ Im Nachhinein ist er froh, dass die Konfrontation keine Konsequenzen hatte. „Es ging weiter wie mit dem Hornberger Schießen. Keiner hat sich getraut, richtig vom Leder zu ziehen, mir wurde aber glücklicherweise auch nie ein Auftrag gegeben. Da fängt ja die Korrumpierbarkeit an.“

Künstlerleben in den Ruinen von Prenzlauer Berg

1994 kaufte die Nationalgalerie ein stilistisch ähnliches, weitaus regimekritischeres Werk von 1984 an, das zwar „Ballett“ heißt, aber keine Tänzerinnen, sondern gesichtslose Soldaten im Gleichschritt zeigt. Wie kam es, dass der Künstler große Ölbilder mit gefährlichem Inhalt malen konnte, obwohl er wusste, dass er sie nicht ausstellen konnte? Ticha holt einen Stapel alter Fotografien heraus und zieht die schwarz-weiße Ansicht eines heruntergekommenen Gebäudes heraus, Adresse Rykestraße 28 im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. „Das Haus, in dem ich gewohnt habe, war eine halbe Ruine. Dort habe ich mich ausgebreitet, erst mit Mitstudenten, aber deren Wohnungen habe ich dann peu à peu übernommen.“

Das Vorderhaus war im Zweiten Weltkrieg ausgebombt worden, und der Schutt lag teilweise noch da – bis Ticha mit seinen Kommilitonen einen Crocketplatz planierte. Er zeigt auf das Erdgeschoss, dort befand sich die Werkstatt, oben die Wohnung – insgesamt hatte er mehr als 300 Quadratmeter – genug Platz für viele Bilder. In der Holzwerkstatt arbeitete er an Skulpturen, gemeinsam mit einem Kollegen restaurierte er Möbel, es gab eine Dunkelkammer. Das Gebäude war allerdings in einem desolaten Zustand. Wo einst die Balken in den Mauern verankert waren und mittlerweile Tauben nisteten, waren die Wände so dünn, dass Ticha drinnen hören konnte, wenn eine Taube sich draußen in ihrem Nest umdrehte.

Mit seiner Kunst hätte er nie umziehen können: „Das hätte Knast gebracht. Die Bilder hätte ich vernichten müssen. Da gab es einen Paragrafen, Verleumdung der DDR. Das war ernst.“ Gezeigt hat er die Bilder nur zwei Menschen: seiner damaligen Frau und einem Freund. Da der in Scheidung lebte „und die Leute rumquatschen“, ließ er aber auch das bald sein.

Ticha war sich bewusst, dass das Haus überwacht wurde, denn in der Wohnung über ihm wohnten die Bürgerrechtler Gerd und Ulrike Poppe. Als die beiden einzogen, hängte Ticha in seinem Atelier sofort Gardinen auf, weil er wusste, dass die Stasi eine große Wohnung gegenüber angemietet hatte, um das Ehepaar Poppe zu beobachten. „Die haben nicht wie im Film ,Das Leben der Anderen’ auf dem kalten Boden gesessen!“ Außerdem bezog ein junger Mann eine kleine, baufällige Wohnung in Tichas Haus. „Wenn jemand einzog, und die Post kam mit Kabeltrommel hinterher und legte die Telefonleitung, wusste man gleich: Der ist von der Stasi. Niemand sonst bekam Telefon.“

Sammelmappen mit brisantem Material

Gab es brenzlige Momente für ihn? Im Prinzip schon, antwortet Ticha. „Die Stasi war hinter mir her. Es wurde ein IM auf mich angesetzt. Ich hatte eine operative Akte, eine Prozessakte.“ Er schüttelt den Kopf: „,Verbreitung nicht geheimer Nachrichten zum Schaden der DDR’ – das kann sich kein Satiriker ausdenken.“ Schwierigkeiten hätte er nicht nur wegen seiner politisch brisanten Kunst bekommen. Ticha schnitt Fotos aus Zeitungen als Inspiration für seine Kunst aus. Auf den Veranstaltungen, Versammlungen und Kongressen, die als Motive mit „Klatschern“ und „Hochrufern“ in seiner Malerei und Grafik auftauchen, war er selbst nie dabei, „die kenne ich alle nur aus dem Neuen Deutschland“.

Er hat Mappen voller Fotos, die er mit „Fahnenübergaben“, „Auszeichnungen“ oder „Beifall“ beschriftet hat – eine Auswahl drucken wir hier erstmals ab (Seite 22). „Wenn Sie das durchblättern, wirkt das plötzlich so massiv!“ Er besitzt eine Ausgabe des Neuen Deutschland, in dem 36-mal Honecker abgebildet ist. „36 Fotos in einer Zeitung! Wenn die das gefunden hätten…“ Wer Zeitungsartikel sammelte, sagt er, habe die Absicht gehabt, nachzuweisen, dass irgendetwas gemauschelt wurde. „Das war verboten.“

Dreimal ist bei Ticha im Atelier eingebrochen worden, und nie wurde etwas geklaut. Seine großen, potenziell gefährlichen Ölbilder standen mit der Vorderseite zur Wand, aneinandergelehnt mit dazwischengeklemmten Papierstreifen. Wenn die Streifen zu Boden gefallen wären, hätte er zumindest gewusst, dass jemand die Bilder gesehen hat. Doch dazu kam es nicht. Nur einmal verrückte jemand seine Schreibmaschine, und einmal wurde, vielleicht als Warnung, seine Deckenlampe abgeschnitten. „Das war schon merkwürdig.“

Eine Buchillustration als Herzenswunsch

Heimlich malte Ticha regimekritische Bilder und machte gleichzeitig Karriere als anerkannter Grafiker und Illustrator. Viele seiner Bücher gewannen Preise, und Generationen von Kindern wuchsen in der DDR mit seinen witzigen Illustrationen zu Hans Falladas „Geschichten aus der Murkelei“ auf. „Von der Buchgrafik konnte man in der DDR leben“, sagt er, im Westen kann man es nicht.“ Er nimmt ein leinengebundenes Buch in die Hand, Karel Čapek, „Der Krieg mit den Molchen“. Der satirische Science-Fiction-Roman von 1936 ist besonders bedeutsam für Ticha, da er schon als Sechzehnjähriger davon träumte, das Buch einmal zu illustrieren. Knapp zwanzig Jahre später – „Es ist das einzige Buch, das ich mich gedrängelt habe zu illustrieren“ – entwarf er zwei Seiten, die ein paar Jahre beim Verlag liegen blieben, bis die Verleger ihn mit Termin im August 1980 zur Eile antrieben. Doch da die Druckereien das Tempo vorgaben, und die Kultur, erklärt Ticha, in der Dringlichkeit an letzter Stelle stand, erschien das aufwendig in acht Farben gedruckte Buch erst kurz vor der Wende. Er schlägt eine ganzseitige Illustration auf, die die Mauer zeigt. Bei diesem Bild sei der künstlerische Leiter blass geworden und habe angekündigt, dass die Seite herausgenommen werde. Ob dieser das Bild vergessen oder plötzlich Mut gefasst habe, fragt Ticha sich noch heute. Jedenfalls ist das Buch so erschienen und hätte den Mann seinen Kragen kosten können.

Klinkenputzen bei den Westgaleristen

Die Wende bezeichnet Ticha als „irre Zeit“. Er zählte zu den zehn Ostberliner Künstlern, die der Direktor der Berlinischen Galerie damals für eine Biennale in Berlin auswählte. Für das Überleben, sagt er, war das wichtig, denn damals habe es viele Leute erwischt. „Nachdem Baselitz gesagt hat, dass die Ostberliner Maler alles Arschlöcher sind, war die Sache erledigt.“ Die Künstler der DDR bekamen den bitteren Geschmack des Kapitalismus zu schmecken: „Erst haben die Westberliner Galerien versucht, schnelles Geld zu machen, und nach einem halben Jahr haben sie gesehen, das läuft nicht. Von schon vorbereiteten Ausstellungen wussten sie auf einmal nichts mehr. Auch ich bin herumgerannt. Türklinkenputzen bei Galerien ist der letzte Quatsch, aber was soll man machen? Das führt zu nichts.“

Ticha hat Berlin 1990 verlassen. Das lag einerseits an seiner persönlichen Situation – seine erste Ehe war am Ende –, andererseits hielt er es nicht aus, dass in Berlin unter den Künstlern „das große Jammern“ begonnen hatte. Auch die Illustratoren hatten es schwer, denn von einem Tag auf den anderen waren die Verlage nicht mehr liquide. „Die Menschen in der DDR haben keine Bücher mehr gekauft, nur noch Reiseführer und Pornos.“ Ticha war fünfzig Jahre alt und zog in den Westen. Er lebte ein halbes Jahr im Rheinland und zog dann mit der Zahnärztin Monika Funk, die die DDR schon 1987 verlassen hatte, wegen ihrer Arbeit erst nach Mainz, anschließend restaurierten sie das Fachwerkhaus in Hochstadt. Seit zehn Jahren vertritt die ­Berliner Galerie Läkemäker Hans Ticha mit viel Engagement. 2015 zeigte die Kunstsammlung Jena eine gewichtige Retrospektive.

Die Pflanzen mögen den Künstler an Kindheitstage in der Gärtnerei erinnern, aber sie sind noch viel konkretere Souvenirs. Er zitiert Georg Forster, den Naturforscher des 18. Jahrhunderts, der für Besuche in fürstlichen Gärten empfiehlt, immer ein scharfes Messer und ein Taschentuch dabeizuhaben: Das Taschentuch lässt man fallen, um sich unauffällig zu bücken und mit dem Messer den Zweig einer exotischen Pflanze sauber abzuschneiden. Viele von Tichas Pflanzen sind aus Stecklingen gewachsen. Sie erinnern ihn jetzt an die verschiedensten Reisen. Das Zitronenbäumchen hat er aus einem Zweig von der Insel Samos gezogen, die Bitterorange stammt von einem Straßenbaum am Gardasee, und den Lorbeer hat er aus dem Park von Schloss Sanssouci in Potsdam, ganz in der Nähe seiner alten Heimat.     

Service

AUSSTELLUNG

Kurt Tucholsky Literaturmuseum

„Hans Ticha – Geburtstagsbilder“

bis 3. Januar 2021

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