In Gotha ereignete sich 1979 der berühmteste Kunstraub in der Geschichte der DDR. Fünf Gemälde aus der Galerie „Niederländischer Meister“ in Schloss Friedenstein wurden bei einem Einbruch gestohlen. Erst jetzt scheint der Fall endgültig aufgeklärt
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08.10.2020
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WELTKUNST Nr. 176
Eine ungewöhnliche Anzeige erschien im Juni 1980 in der WELTKUNST. Keine Annonce für eine Kunsthandlung oder ein Auktionshaus, sondern im Gegenteil die Warnung vor einem Ankauf. Fünf Ölgemälde waren auf der Seite abgebildet, das „Brustbild eines jungen Mannes“ von Frans Hals, eine „Heilige Katharina“ von Hans Holbein dem Älteren, das „Brustbild eines alten Mannes“ von Jan Lievens, eine „Landstraße mit Bauernwagen“ von Jan Brueghel dem Älteren und ein Anthonis van Dyck zugeschriebenes „Selbstbildnis mit Sonnenblume“. Ein lakonischer Satz begründete die Warnung: „Diese Gemälde wurden bei einem Einbruchdiebstahl im Schloß Friedenstein, Gotha (DDR), am 14.12.1979 entwendet.“ „Sachdienliche Hinweise zur Wiedererbringung“ der Gemälde solle man an die Direktion der Museen in Gotha oder an eine diplomatische Vertretung der DDR geben.
Kriminalität, so hieß es in der DDR, sei ein Problem des kapitalistischen Westens. Wenn im sozialistischen Staat aber doch gestohlen, geraubt und gemordet wurde, liefen die Ermittlungen eher im Verborgenen. Doch der Fall Gotha ließ sich nicht geheim halten. Es ging um den wohl größten Kunstdiebstahl in der Geschichte der DDR, einen Fall, bei dem es Dutzende von Verdächtigen gab, in dem nicht nur die Kriminalpolizei, sondern auch die Stasi mit ungeheurem Aufwand ermittelte. Und für dessen Aufklärung die Organe sogar eine Anzeige in der Kunstzeitschrift im feindlichen Westen schalteten.
Über Jahrzehnte sorgte dieser Fall immer wieder für neue Legenden und Mythen um die Einbrecher und ihre Hintermänner. Erst jetzt wird die Tat aufgeklärt und gegen Männer ermittelt, die vierzig Jahre nach dem Diebstahl die verschollenen Bilder womöglich für ein neues Delikt benutzen wollten – so lautet zumindest der Verdacht des Landeskriminalamtes und der Staatsanwaltschaft Berlin.
Begonnen hatte alles in der feuchtkühlen Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1979. Ein Täter war mit eigens für diesen Zweck geschmiedeten Steighilfen rund zehn Meter am Blitzableiter die Fassade des Schlosses Friedenstein in Gotha hinaufgeklettert, um direkt zu einem Fenster der Galerie „Niederländischer Meister“ im zweiten Stock zu gelangen. Das Fenster wurde säuberlich mit einem Klebeband gesichert, so konnten keine herunterfallenden Scherben klirren, das Glas mit einem Schneidegerät bearbeitet und zertrümmert, dann das Fenster geöffnet. Eine Alarmanlage war noch nicht installiert, wie die Stasi in der minutiösen Rekonstruktion des Tathergangs notierte – der Deckname des sogenannten Operativen Vorgangs, dessen Akten gut 500 Seiten umfassten, lautete „Alte Meister“. Nur der Klimaschreiber des Museums, der die konservatorisch richtige Raumtemperatur und Feuchtigkeit kontrollieren sollte, zeichnete auf, dass es gegen zwei Uhr nachts auf einmal kalt wurde im Museum. Am frühen Morgen entdeckte ein Sicherheitsmann, dass mehrere Ketten, an denen sonst die Bilder von der Decke hingen, nun ohne Last vor der kahlen Wand baumelten. Die „Heilige Katharina“ hatte der Täter aus der Wand reißen müssen, sie war festgedübelt gewesen. Im angrenzenden Park fanden sich Teile der Rahmen, die Beute hatte anscheinend bei der Flucht Schaden genommen.
Sofort wurde mit großem Aufwand gefahndet und ermittelt, schnell kam es zu falschen Verdächtigungen. Da war zum Beispiel ein Westberliner Kunsthändler, der angeblich mit gestohlenen Werken handelte – und sich regelmäßig mit zweifelhaften Menschen in der Kneipe Zur Waffe traf. Bei Einbrüchen in Museen stützen sich Täter nicht selten auf das Wissen von Insidern, die ihnen Tipps geben – also wurden auch alle Mitarbeiter und Handwerker durchleuchtet und verhört. Und dann waren da noch die Fleischtransporte, die von einer Schlachterei in der Nähe des Museums in den Westen gingen. Wurden die Bilder zwischen Schweinehälften in die BRD geschmuggelt?
Besonders intensiv wurde eine Gruppe Roma oder Sinti bespitzelt, und das jahrelang – in den Stasiakten ist von einer „Zigeunersippe“ die Rede. Einige der Männer waren bei einem Einbruchsversuch 1978 in das Schloss Friedenstein erwischt und zu Haftstrafen verurteilt worden. Auch eine andere Form von „Clankriminalität“ rückte in den Fokus: Vier der gestohlenen Gemälde seien angeblich im Frühjahr 1980 bei Sotheby’s in London versteigert worden – an Angehörige der Adelsfamilie „Coburg-Gotha“. Einer ihrer Verwalter sei im Frühjahr 1980 zu Besuch in Gotha gewesen, mit einem weißen Mercedes. Ein Stasimajor schlug die Beschaffung des Auktionskatalogs vor – und eine „inoffizielle Aufklärung“ im Privatmuseum der herzoglichen Familie in Coburg. Der Direktor der Museen in Gotha übernahm diesen Auftrag, mit einer falschen Legende reiste er in die Bundesrepublik, zum Sitz der Adligen auf der Veste Coburg. Doch trotz aller Ermittlungen und Bespitzelungen blieben die fünf Gemälde verschollen, 1985 schloss die Stasi den Operativen Vorgang. Auch nach dem Ende der DDR tauchten die Bilder nicht wieder auf, selbst als nach 30 Jahren zivilrechtliche Herausgabeansprüche verjährten – strafrechtlich hätte der Einbruch sowieso keine Konsequenzen mehr gehabt. Doch dann meldete sich im Sommer 2018 ein westdeutscher Anwalt beim Bürgermeister von Gotha, Knut Kreuch.
Die Bilder seien im Besitz einer Erbengemeinschaft, für die er tätig sei, habe der Anwalt gesagt. Bürgermeister Kreuch war elektrisiert, er kannte die Geschichten vom Einbruch aus seiner Jugend. Der Anwalt lieferte ihm zum Beweis fünf Umschläge: Farbfotos der vermissten Gemälde, von denen einige bisher nur in Schwarz-Weiß dokumentiert waren. Auch die Rückseiten der Gemälde waren auf den Fotos zu sehen. Für eine Rückgabe müsse jedoch eine ordentliche Summe fließen, hieß es, mehrere Millionen Euro wurden genannt, äußerste Diskretion sei nötig. Schon im Januar 1980 hatte eine Kunsthistorikerin der Staatlichen Museen in Ostberlin den Wert der Gemälde auf 4,53 Millionen Westmark geschätzt. Berechnungsgrundlage waren damals unter anderem „mehrere Jahrgänge WELTKUNST“.
Knut Kreuch schaltete die Ernst von Siemens Kunststiftung ein, deren Generalsekretär Martin Hoernes schon oft bei der Rückholung von Kulturgütern finanzielle und logistische Hilfe geleistet hatte; die in Kunstsachen versierte Anwältin Friederike Gräfin von Brühl wurde von ihm als Beraterin hinzugezogen. Der Anwalt der Gegenseite präsentierte ihnen eine Forderung von 5,25 Millionen Euro und eine sonderbare Geschichte: Die verstorbenen, im Westen beheimateten Eltern der Erbengemeinschaft hätten in den 1980er-Jahren eine Million D-Mark im Zusammenhang mit dem Freikauf eines DDR-Bürgers und dessen Familie gezahlt, wobei man in den Besitz der Ölgemälde aus dem Schloss Friedenstein gekommen sei. Bei dem Einbruch habe es sich 1979 aber nicht um einen Diebstahl, sondern um eine Entnahme gehandelt: Da bei der Tat keine Alarmanlage aktiviert gewesen wäre, sei eine Mitwirkung der Stasi oder anderer DDR-Organe bei dieser „Entnahme“ zu vermuten.
Warum hätte die DDR bei dem Diebstahl von fünf Gemälden mitwirken sollen, wenn sie für die Freilassung eines Inhaftierten sowieso ein Geschäft mit der BRD aushandeln konnte? Warum kauften Privatleute Bilder, die eindeutig Diebesgut waren? Obwohl sich die Geschichte sehr sonderbar anhörte, handelte der Bürgermeister einen Vertrag aus – die lang vermissten Bilder sollten einfach nicht wieder im Nirgendwo verschwinden.
Zur Bedingung einer Vertragsunterzeichnung machte man eine sorgfältige Überprüfung aller Werke im zu den Staatlichen Museen Berlins gehörenden Rathgen-Forschungslabor. Schließlich könne es sich bei den Bildern um Fälschungen handeln. Der Anwalt der obskuren Erbengemeinschaft willigte ein, am 30. September 2019 traf er sich im Rathgen-Forschungslabor mit dem Gothaer Bürgermeister und dem Generalsekretär der Siemens-Kunststitung. Sobald der Vertrag unterzeichnet war, tätigte der Anwalt einen Anruf. Wenig später fuhr ein Mercedes Vito auf den Hof des Labors, ein Mann mit Brille packte die Bilder aus, der Direktor des Rathgen-Labors, Stefan Simon, warf einen ersten Blick auf sie. Der verschollene Kunstschatz war zurückgekehrt. Stolz ließ sich der Bürgermeister mit dem „Alten Mann“, der „Heiligen Katharina“ und den drei anderen Werken fotografieren.
Fotografiert wurde die Ankunft der Bilder aber auch von einem Observationsteam des LKA Berlin, ein verdeckter und verwanzter Ermittler nahm sogar an der Übergabe teil. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der das Rathgen-Forschungslabor gehört, hatte das Landeskriminalamt Berlin informiert, schließlich waren die Gemälde, die da untersucht werden sollten, immer noch als gestohlen gemeldet. René Allonge und seine Kollegen von der international bekannten Abteilung für Kunstdelikte begannen zu ermitteln, der Verdacht: versuchte Erpressung. Schnell fanden sie nach dem Treffen heraus, wer der um Anonymität bemühte Mann mit der Brille war, der die Bilder ins Labor gebracht hatte: ein Arzt aus Ostfriesland. Auf Anfrage der WELTKUNST reagierte der Mann nicht. „Die Bilder hingen all die Jahre bei meinen Eltern im Wohnbereich“, sagt die freundliche Lehrerin Elisabeth Schmidt, die eigentlich ganz anders heißt und auf keinen Fall über ihren Bruder, den Arzt, und die Ermittlungen gegen ihn sprechen möchte. Aber sie will helfen, den Weg der Bilder aufzuklären.
Irgendwann Ende der 1980er-Jahre seien die Gemälde bei ihnen zu Hause aufgetaucht. Für Kunst interessierte sich die Familie – der Vater Angestellter, die Mutter Hausfrau, vier Kinder – eigentlich nicht, man ging in Konzerte, nicht in Museen. Doch eines Tages war dieser Freund der Familie, Rudi B., vor der Tür gestanden, frisch entlassen aus der DDR-Haft. Er suchte Anschluss im Westen. Der risikofreudige Mann war immer wieder mit dem DDR-Staat aneinandergeraten, dafür sorgte seine Wut gegen das System, aber auch der Einbruch in einen Intershop. Einige Zeit nach seiner Übersiedlung in den Westen reiste Rudi dann mit den Eltern Schmidt zurück in die DDR – und wenig später hingen die Meisterwerke aus Schloss Friedenstein in einem Reihenhaus in der westdeutschen Provinz. Eine Summe von einer Million D-Mark hätten ihre Eltern nie dafür zahlen können, sagt die Tochter, höchstens ein paar Tausend aus einer kleinen Erbschaft. Fotos zeigen die Familie und ihre Besucher beim Nachtisch vor der weltweit gesuchten Kunst.
Einmal, erinnert sich Elisabeth Schmidt, habe eine Tante zu dem Männerbildnis gesagt: „Das sieht ja aus wie von Frans Hals.“ „Schön wär’s“, habe der Vater geantwortet, „dann würden wir nicht mehr hier wohnen.“ Erst spät erfuhren die Kinder von der Herkunft der Bilder: Eine Schwester von Elisabeth Schmidt hatte 2009 einen Fernsehbeitrag zum Einbruch in Gotha gesehen und die Wohnzimmerdekoration wiedererkannt. Kurz vor seinem Tod erzählte der Vater dann seiner anderen Tochter von einer abenteuerlichen Gemäldeübernahme in der DDR. Man habe dem Rudi helfen wollen. Wer die Bilder gestohlen hatte, blieb in den Erzählungen unklar.
Heute weiß man, dass der längst verstorbene Familienfreund Rudi genau jenen DDR-Kombi fuhr, der zur Tatzeit in der Nähe des Schlosses gesehen wurde. Auch seine Schuhgröße passt zu den Spuren am Tatort. Und als ausgebildeter Schmied hatte Rudi Zugang zu dem speziellen Stahl gehabt, aus dem die Steigeisen waren. Ein Komplize hatte Rudi B. Anfang der 1980er-Jahre zudem bei der Volkspolizei verpfiffen, Geschäfte mit gestohlen gemeldeten Gemälden abwickeln zu wollen. Es wurde damals auch ermittelt, doch man erkannte den Zusammenhang zum Fall Gotha nicht.
Einen Wunsch hatte der Vater von Elisabeth Schmidt: dass die Bilder, falls es die Originale seien, nach seinem Tod in das Schloss Friedenstein zurückkehren sollten. Nachdem sich das LKA eingeschaltet hatte, einigte sich die Familie in einem neuen Vertrag mit dem Museum im Gotha auf eine Rückgabe ohne finanzielle Gegenleistung. Jetzt werden die Gemälde restauriert, zuvor konnten die Gothaer sie Anfang des Jahres eine Woche lang im Schloss Friedenstein bestaunen. Sie kamen in Massen.