Sie ist ein Meisterwerk der Schnitzkunst en miniature: Die Betnuss mit christlichen Motiven erlebte ihre Blüte in der Zeit um 1500, heute kommen nur selten Exemplare auf den Kunstmarkt. Eine Stilkunde
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21.12.2020
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 168
Um 1500 entstanden große, mehrflügelige, szenenreiche Schnitzaltäre mit stattlichen lebensgroßen Kruzifixen, Madonnen, Heiligenfiguren und Engeln. Zur gleichen Zeit wurden Miniaturschnitzereien gefertigt, bei denen sich das Heilsgeschehen, ebenfalls vielfigurig und bis ins Detail ausgeführt, auf kleinstem Raum zutrug. Zu deren Höchstleistungen zählen die sogenannten Gebetsnüsse oder Betnüsse. Dabei handelt es sich beileibe nicht um Nüsse. Ihren Namen haben sie nur wegen ihrer vergleichbaren Größe und dem auf den ersten Blick ähnlichen Aussehen der Oberfläche.
Die nuss- oder schotenförmigen Kapseln sind nur fünf bis sieben Zentimeter groß. Sie kamen mit dem Rosenkranzbeten in Mode. Ihre Blütezeit währte etwa von 1470 bis um 1530. Die meisten Betnüsse sind aus Buchsbaumholz geschnitzt. Sein Vorteil: Es splittert nicht, und die feine, dichte Struktur eignet sich besonders für die virtuose Mikroschnitzkunst, die damals en vogue war. Man denke nur an die Adam-und-Eva-Statuetten oder die runden Spielsteine. Darüber hinaus hatte dieses spezielle Holz eine sakrale Bedeutung. Auch als „Palmholz“ bezeichnet, soll seinerzeit das Kreuz Christi daraus geschlagen worden sein.
Dass diese kunstvollen Betnüsse absolute Luxusobjekte für den Adel oder betuchte Patrizier waren, liegt auf der Hand. Sie dienten der privaten Andacht und wurden als Anhänger am Rosenkranz oder an einer Schmuckkette getragen. Mit den Stürmen der Reformation verloren sie an Bedeutung. Später kamen sie als „Merabilia“-Sammelobjekte in die fürstlichen Kunstkammern der Habsburger, ins Grüne Gewölbe in Dresden oder in die Münchner Residenz. Dort wurden sie vor allem als Zeugnisse höchster Kunstfertigkeit geschätzt. So sind bereits im berühmten Fickler’schen Inventar der bayerischen Herzöge von 1598 Betnüsse beschrieben, die in der Schatzkammer zu bestaunen sind.
Doch wie sind diese Kostbarkeiten entstanden? Der Schnitzer dürfte sich einer Lupe bedient haben, um die Reliefs aus dem Holzrohling herauszuschneiden. Die beiden aufklappbaren Kugelhälften sind mit Stabgelenken verbunden. Die Schalenhälften sind meist im Stil der Spätgotik als durchbrochenes Maßwerk mit Fischblasendekor gestaltet. Beide zeigen im Inneren Szenen aus dem Alten Testament – wie die Aufrichtung der ehernen Schlange – und dem Neuen Testament. Häufig steht die Passion Christi im Mittelpunkt. Die Ränder tragen meist lateinische Inschriften in gotischen Majuskeln, die sich auf die Darstellungen beziehen.
Blickt man in die geöffnete Gebetsnuss, kommt man aus dem Staunen kaum heraus: Beide Hälften sind mit mehreren, separat gearbeiteten, unterschiedlich tief geschnitzten Reliefs gefüllt, die hintereinander gestaffelt und seitlich mit kleinen Stiften befestigt sind. So entsteht eine verblüffende Raumillusion mit tiefer geschnittenem Vordergrundgeschehen und flacheren Hintergrundreliefs. Damit nicht genug, weisen einige Kugeln zwischen den Bildreliefs und der durchbrochenen Außenwand einen schmalen Zwischenraum auf. Vermutlich hat man ihn mit wohlriechenden Kräutern gefüllt, deren Duft durch die Maßwerkornamentik nach außen geströmt ist. Einige Betnüsse waren ursprünglich gefasst oder vergoldet. Eine Münchner Nuss war gar als kleines „Monstränzl“ montiert. Zur Aufbewahrung dienten Lederetuis oder Metallkapseln, die leider nur selten erhalten sind.
Die wohl berühmteste Gebetsnuss gehört zu den Prachtexponaten im Bergbau- und Gotikmuseum Leogang. Sie wurde um 1470 für Maria von Burgund (1457–1482) gefertigt. Die Tochter Karls des Kühnen wuchs am kunstsinnigsten Hof Europas auf und heiratete Erzherzog Maximilian von Österreich, den späteren Kaiser Maximilian I. Schon im Alter von 25 starb sie nach einem Sturz vom Pferd und liegt in Brügge begraben. In der einen Betnusshälfte tritt uns die heilige Barbara entgegen, Fürsprecherin der Bergleute, deren Namensfest am 4. Dezember als Feiertag begangen wurde.
Auch wenn eine Münchner Gebetsnuss der Überlieferung nach vom Mönch Hieronymus Faber aus Messina stammen soll, der angeblich 18 Jahre lang daran gearbeitet hat, geht man heute davon aus, dass alle Exemplare in Flandern entstanden sind. 2016/17 zeigte das Rijksmuseum Amsterdam in Kooperation mit dem New Yorker Metropolitan Museum und der Art Gallery of Ontario die Ausstellung „Small Wonders“. Zu den Exponaten gehörten rund 60 Gebetsnüsse. Eine ist von „Adam Theodrici“ signiert. Ihn hat man als den Schnitzer Adam Dircksz identifiziert, der wohl um 1500 bis 1530 eine Werkstatt in Delft betrieben hat. Aus ihr sollen (fast) alle der kleinen Wunderwerke stammen.
Wenn auch die meisten Betnüsse längst Museen gehören, kommen doch gelegentlich Stücke auf den Markt. 2012 wurde bei Sotheby’s in London eines für stolze 133.250 Pfund versteigert. Und der Antwerpener Kunsthändler Bernard Descheemaeker bietet in seinem Katalog 19 eine Buchsbaum-Gebetsnuss an, die wohl von einem Dircksz-Nachfolger um 1530/40 stammt und sogar über Reste der originalen Fassung verfügt.