Elfriede Lohse-Wächtler

Das Rätsel Mensch

Der Kunstmarkt für die von den Nazis ermordete Malerin Elfriede Lohse-Wächtler ist noch nicht gefestigt. Doch für Sammler ist die Zeit reif, sich zu engagieren

Von Gabriele Himmelmann
21.12.2020
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 20

Gegenwärtig ist das Interesse an den Künstlerinnen der Klassischen Moderne groß – Namen wie Paula Modersohn-Becker, Käthe Kollwitz oder Frida Kahlo erzielen Höchstpreise und garantieren den Ausstellungshäusern Besucherströme. Aber auch weniger bekannte Künstlerinnen wie beispielsweise Jeanne Mammen, Anita Rée und Lotte Laserstein sind inzwischen mit großen Werkschauen gewürdigt worden. Dass ihr spezifischer Blick auf eine Welt im Wandel Kunstwerke von außergewöhnlicher Qualität hervorbrachte, wird inzwischen nicht mehr bezweifelt.

Zu den bedeutenden Künstlerinnen, deren Wiederentdeckung trotz einiger Publikationen zu Leben und Werk noch aussteht, zählt die gebürtige Dresdnerin Elfriede Lohse-Wächtler (1899–1940). Ihr gutbürgerliches Elternhaus verließ sie bereits mit 16 Jahren; im Jahr 1915 schrieb sie sich an der Dresdner Königlichen Kunstgewerbeschule für das Fach Mode ein. Kunstgewerbliche Arbeiten sicherten ihren Lebensunterhalt, aber sie war auch als freie Künstlerin tätig. Die eigenwillige und unkonventionelle junge Frau befreundete sich mit Otto Dix, Otto Griebel und Conrad Felixmüller, die damals ebenfalls noch im konservativ-bürgerlichen Dresden lebten. In diesem Umfeld lernte sie ihren späteren Ehemann, den Sänger und Maler Kurt Lohse kennen – einen „arbeitsscheuen Jammermenschen“, wie ihr Vater ihn nannte. Mit ihm ging sie 1925 nach Hamburg; ein Jahr später trennte sich das Paar. Für Elfriede Lohse-Wächtler folgten einsame, schwierige und entbehrungsreiche Jahre, in denen sie jedoch künstlerisch höchst produktiv war. Nach einem psychischen Zusammenbruch wurde sie 1929 in die Hamburger Staatskrankenanstalt Friedrichsberg eingeliefert; hier entstand mit den „Friedrichsberger Köpfen“ einer ihrer bedeutendsten Werkzyklen. Rund 60 Blätter zeigen vor allem Bildnisse von Lohse-Wächtlers Mitpatientinnen in der psychiatrischen Klinik. Mit ihren zeichnerischen Mitteln gelang es ihr, deren desolate seelische Verfassung anschaulich zu machen. Ein unruhiges Liniengeflecht bezeichnet Haare und faltige Haut. Der Blick ist meist angstvoll starrend, weist in eine eigene Welt voller Hoffnungslosigkeit, Düsterkeit und Verzweiflung.

Im unruhig nervösen Strich liegt die Unmittelbarkeit und Intimität ihrer Zeichnungen

Die hohe Qualität der „Friedrichsberger Köpfe“ wurde auch von den Zeitgenossen erkannt. Der bekannte Kritiker Harry Reuss-Löwenstein schrieb anlässlich ihrer Präsentation in einer Hamburger Galerie: „Elfriede Lohse-Wächtler ragt gegenüber dem heutigen Plätscher-Niveau empor – sie ist entschieden eine Entdeckung.“ Und im „Hamburgischen Correspondenten“ stand zu lesen: „Man spürt, wie die Malerin gepackt ist von einer mehr als malerischen Aufgabe, man spürt, wie Malen das Offenbarmachen eines geistigen Inhalts ist. Das Rätsel Mensch ist erfasst und gestaltet.“ Die Begeisterung der zeitgenössischen Presse teilte auch Gustav Pauli, der Direktor der Hamburger Kunsthalle; er erwarb zwei der Blätter für sein Museum.

Elfriede Lohse-Wächtlers 1930 datierte Kohlezeichnung „Hyäne“ erzielte am 19. September 2020 bei Schmidt in Dresden 1200 Euro. © Schmidt Kunstauktionen, Dresden
Elfriede Lohse-Wächtlers 1930 datierte Kohlezeichnung „Hyäne“ erzielte am 19. September 2020 bei Schmidt in Dresden 1200 Euro. © Schmidt Kunstauktionen, Dresden

Bilder von Menschen an den Rändern der Gesellschaft sollten Elfriede Lohse-Wächtlers zentrales Thema bleiben. Psychisch labil, isoliert und trotz ihrer Erfolge häufig in finanzieller Notlage, suchte sie Zuflucht in der großstädtischen Subkultur. Bars und Bordelle auf St. Pauli boten ihr neue Motive. Die Bilder, die dort entstanden, zeigen unter anderem Prostituierte, müde und desillusioniert, mit ihren Freiern in den Lokalen jenseits der Reeperbahn – „es sind ganz unromantisch geschaute Szenen der Unterwelt“, schrieb ein zeitgenössischer Kritiker.

Wie die Berliner Künstlerin Jeanne Mammen hat sich auch Elfriede Lohse-Wächtler mit dem Genre des Bordellbilds auseinandergesetzt und sich damit auf ein Terrain begeben, das bislang nur von Männern künstlerisch bearbeitet worden war. Hatte sich Mammen jedoch darauf beschränkt, distanzierte Beobachterin zu sein, so wandte sich Lohse-Wächtler ihren Modellen mit Intensität und Einfühlungsvermögen zu. Einmal mehr versuchte sie, die psychische Realität des Individuums zu erfassen, und einmal mehr gelangen ihr eindringliche, sensible und respektvolle Darstellungen, die sich der konventionellen Erwartung an derartige Milieustudien widersetzten.

Im Jahr 1932 fand in Hamburg ihre letzte Ausstellung statt. Die Kritik war euphorisch; der Feuilletonist Harry Reuss-Löwenstein bescheinigte ihr „ein Temperament, das mit einem beinahe unheimlichen Spürsinn begabt ist.“ Im gleichen Jahr wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf bei Dresden eingewiesen, die Diagnose lautete Schizophrenie. Auf Betreiben ihres Ehemannes Kurt Lohse wurde sie als „unheilbar geisteskrank“ eingestuft; Lohse ließ sich von ihr scheiden und heiratete seine langjährige Lebensgefährtin Elsa Haun. 1935 wurde Elfriede Lohse-Wächtler zwangssterilisiert; fünf Jahre später, im Jahr 1940, wurde sie in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein im Zuge der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ermordet.

Dieses entsetzliche Ende beschließt ein Leben, in dem die Malerei zum wichtigsten Ausdrucksmittel geworden war. So schrieb fast 20 Jahre nach ihrer Ermordung der Schriftsteller Rudolf Adrian Dietrich in seinen Erinnerungen an Elfriede Lohse-Wächler: „Dass sie trotz allem und in oft äußerster Not und Sorge um das primitivste Vegetieren unter dem Druck der Ausweglosigkeit der Zeitentwicklung unentwegt wie damals in Dresden malte und zeichnete, wenn sie nur Farben und Papier hatte, erstaunt mich immer wieder.“

Ein 1929 entstandenes „Selbstbildnis“ in Aquarell und Farbkreide aus dem Werkzyklus der „Friedrichsberger Köpfe“ kletterte am 30. April 2016 bei Dr. Irene Lehr in Berlin von 6000 auf 9000 Euro. © Dr. Irene Lehr Kunstauktionen, Berlin
Ein 1929 entstandenes „Selbstbildnis“ in Aquarell und Farbkreide aus dem Werkzyklus der „Friedrichsberger Köpfe“ kletterte am 30. April 2016 bei Dr. Irene Lehr in Berlin von 6000 auf 9000 Euro. © Dr. Irene Lehr Kunstauktionen, Berlin

So hatte es wohl auch finanzielle Gründe, dass sie vor allem zeichnete, aquarellierte und Pastellkreiden verwendete. Die genuinen Möglichkeiten ihrer Malmittel wusste sie allerdings zu nutzen: So findet die Verletzlichkeit oder psychische Bedrängnis ihrer Modelle gerade im Medium der Zeichnung ein Äquivalent in der unruhigen Nervosität des Strichs. Die Darstellungen gewinnen dadurch ein Maß an Unmittelbarkeit und Intimität, die das Ölbild nur bedingt erreichen kann. Leider ist es nicht möglich, die fragilen Arbeiten in Museen dauerhaft zu zeigen – hierin liegt sicherlich auch ein Grund für die mangelnde Bekanntheit der Künstlerin.

Auf Auktionen zeigt sich ein differentes Bild. So wurde am 18. Oktober 2000 bei Sotheby’s London das außergewöhnlich qualitätvolle Aquarell einer Animierdame auf St. Pauli von 25.000 auf 38.000 Pfund gehoben. Das 1931 entstandene Blatt setzt „Lissy“ mit Zigarette, intensiv roten Lippen und in einem roten Kleid bildbeherrschend in Szene – während zwei Männer an einem Tisch hinter ihr zu Statisten degradiert werden. Ein vorbereitendes Aquarell von 1930 für „Lissy“ allerdings blieb am 26. September 2019 bei Hampel in München zur Taxe von 600 Euro liegen. Ein Selbstbildnis aus dem Werkzyklus der „Friedrichsberger Köpfe“ kletterte am 30. April 2016 bei Irene Lehr, Berlin, von 6000 auf 9000 Euro. Und ein weiteres „Selbstbildnis“, diesmal mit Hut, erzielte am 30. Mai 2014 bei Grisebach, Berlin, sogar taxgerechte 40.000 Euro. Bei Schmidt Kunstauktionen in Dresden hingegen wurden am 19. September 2020 drei ihrer Aquarelle unterhalb der Schätzpreise verkauft – für Preise zwischen 1200 und 3300 Euro. Der Markt für Elfriede Lohse-Wächtler hat sich noch nicht gefestigt – und ein ganz großer Verkaufserfolg steht ohnehin noch aus. Zeit, sich zu engagieren …

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