Hester Diamond

Fabelhaft furchtlos

Die New Yorker Kunsthändlerin Hester Diamond war nicht nur als Mutter der Hip-Hop-Legende Mike D von den Beastie Boys bekannt, sondern auch als Sammlerin, die virtuos Kunst aus Renaissance und Barock mit Design des 21. Jahrhunderts kombinierte. Jetzt versteigert Sotheby’s Spitzenstücke ihrer Altmeisterkollektion

Von Lisa Zeitz
29.12.2020
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 179

Wenn die Schule aus war, ging Hester Klein nicht wie andere Kinder nach Hause oder traf sich mit Freunden, sondern sie besuchte die Museen und Galerien von Manhattan. Rückblickend wunderte sie sich darüber, dass sie in den Vierzigerjahren so jung allein durch New York streifen durfte. „Es ist eigentlich interessant, wie viel Freiheit ich damals hatte“, sagte die alte Dame, als sie vor drei Jahren für die Archives of American Art interviewt wurde. Eine „fabelhafte Erziehung“ nannte sie ihre Nachmittage im Museum of Modern Art und im Guggenheim Museum. Das Gefühl für Freiheit und Kunst begleitete die junge Frau bald auch in ihrer ungewöhnlichen Karriere und bis ins hohe Alter bei der Zusammenstellung ihrer spektakulären Kunst- und Designsammlung.

Anfang 2020 ist Hester Diamond, wie sie seit ihrer Eheschließung hieß, im Alter von 91 Jahren gestorben, und nun liefern ihre Erben einen bedeutenden Teil ihrer Sammlung zur Auktion ein. Im Januar plant Sotheby’s in New York, Objekte zu versteigern, die einen Bogen von wertvollen Mineralien über gotische Skulpturen bis zu Videokunst von Bill Viola spannen. Zu den Highlights zählen ein Altar von Pieter Coecke van Aelst, der kürzlich noch als Leihgabe im Metropolitan Museum hing, und eine Marmorskulptur, die Pietro und Gian Lorenzo Bernini, Vater und Sohn, gemeinsam geschaffen haben. Alte Meister von diesem Kaliber kommen nicht jeden Tag unter den Hammer.

Hester Diamond Pieter Coecke van Aelsts Altar Sotheby's
Pieter Coecke van Aelsts Altar aus der Zeit um 1520 soll bei Sotheby’s mindestens 2,5 Millionen Dollar einspielen. © Sotheby’s

Zum Kunstmarkt kam die am 10. Dezember 1928 in der Bronx geborene Sammlerin nach dem Studium der Sprachwissenschaft, als sie – mittlerweile mit dem Lehrer Harold Diamond verheiratet – als Sozialarbeiterin tätig war und nebenbei in der Antiquitätenhandlung Stair and Company jobbte. Die 57th Street in Midtown Manhattan war damals die lebendigste Galerienmeile New Yorks, und Freundschaften wie die mit der Galeristin Martha Jackson fachten das Interesse für die zeitgenössische Kunst in Hester Diamond und ihrem Mann weiter an.

Aus spontaner Begeisterung für die Arbeit der britischen Malerin und Bildhauerin Barbara Hepworth schrieben die Diamonds Mitte der Fünfzigerjahre einen Brief an die Künstlerin und schlugen vor, eine Wanderausstellung durch Amerika mit ihren Arbeiten zu organisieren. Für beide überraschend sagte Barbara Hepworth Ja. So reiste bald eine Auswahl ihrer Werke durch acht verschiedene Museen, unter anderem in New York, San Francisco und Kanada, wobei jedes Museum ein Kunstwerk erwarb. Bei einem Besuch der Künstlerin in England ergaben sich neue Kontakte, und sie wurden gefragt, ob sie Kunst für ihre neuen englischen Freunde verkaufen könnten, was prompt geschah – mit so viel Erfolg, dass sie ihre berufliche Tätigkeit ganz der Kunst widmeten: 5000 Dollar Kommission für den Verkauf einer Plastik von Henry Moore war damals ein Vermögen.

Hester Diamond Wohnzimmer Interior Design
Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau? Hester Diamond jedenfalls nicht! In ihrem New Yorker Wohnzimmer kontrastierte sie Kunstwerke des 16. und 17. Jahrhunderts mit brandaktuellem Interior Design. © Sotheby’s

Hester Diamonds besonderes Gespür für Interior Design wurde bald ein eigener Geschäftszweig. Mit viel Stilgefühl kombinierte sie moderne Kunst und Antiquitäten, für Kunden ebenso wie in ihren eigenen vier Wänden in Manhattan und in ihrem Wochenendhaus in Huntington, Long Island, wo ein Wandbild von Fernand Léger ebenso Platz hatte wie eine ägyptische Grabmaske. Brâncușis Skulpturen „Kuss“ und „Vogel im Raum“ gehörten zu ihrer Modernesammlung, daneben Werke von Picasso, Matisse und Kandinsky.

Die Achtzigerjahre waren turbulent für Hester Diamond, und sie erfand sich neu: Ihr Mann starb unerwartet, ihr Sohn Michael gründete mit zwei Freunden die Beastie Boys und wurde zur Hip-Hop-Legende. Sie gab das Interior-Design-Business auf und heiratete den Ökonomieprofessor Ralph Kaminsky. Inspiriert durch dessen Tochter, die in der Altmeisterabteilung von Christie’s arbeitete, kaufte sie ihre ersten flämischen und ferraresischen Gemälde und fokussierte ihre Sammlertätigkeit bald ganz auf alte Meister. Sie verkaufte ihre modernen Bilder und Skulpturen, die im Wert enorm gestiegen waren, und stieg mit den Erlösen in die Renaissance und die Zeit des Barock ein.

Hester Diamond Dosso Dossis Szenen aus der Aeneis Sotheby's
Dosso Dossis Szenen aus der Aeneis, „Die Pest in Pergamea“ (oben) und „Die sizilianischen Spiele“, entstanden im Auftrag des Herzogs von Ferrara, Alfonso d’Este. Das Paar ist auf 3 bis 5 Millionen Dollar taxiert. © Sotheby’s

Anstatt wie bisher moderne Kunst mit Rokokomöbeln zu kombinieren, drehte sie das Konzept um und wählte bald zeitgenössisches, oft leuchtend buntes Design und einige wenige Arbeiten von jungen Künstlern, um einen größtmöglichen Kontrast zu den Werken des 14., 15. und 16. Jahrhunderts zu erzielen. Und sie begann, die kunsthistorische Forschung aktiv zu unterstützen, indem sie das „Medici Archive Project“ gründete, nachdem auf der Rückseite ihrer Pontormo-Madonna Inventarzeichen entdeckt wurden. Wenige Jahre vor ihrem Tod rief sie zudem die Organisation Vistas ins Leben, die der Erforschung sowie digitalen und analogen Sichtbarmachung europäischer Skulpturen des 13. bis 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Auch philanthropisch betätigte sich Hester Diamond und schenkte etwa dem Worcester Art Museum in Massachusetts Gemälde von Veronese und Cornelis van Haarlem.

Die Auktion bei Sotheby’s, die mit einem eigenen Katalog während der traditionellen Altmeisterauktionen im Januar geplant ist, heißt „Fearless“ – unerschrocken. Furchtlos sieht die Sammlerin in dem Porträt aus, das Carla van de Puttelaar 2018 für das Projekt „Artfully Dressed: Women in the Art World“ aufgenommen hat, furchtlos hat sie gesammelt. Der Katalog wird nicht nur Highlights aus ihren alten Meistern beinhalten, sondern auch ausgewählte Stücke, die ihre anderen eklektischen Interessen beleuchten. Hester Diamond hatte ein Faible für exotische Mineralien wie Rauchquarze und Amazonite, die sie in ihrer Wohnung wie Kunstwerke präsentierte. Ein Aquamarin ist auf 20.000 bis 30.000 Dollar geschätzt.

Hester Diamond Porträt Carla van de Puttelaar
Für das Projekt „Artfully Dressed: Women in the Art World“ hat Carla van de Puttelaar 2018 das Porträt der Sammlerin aufgenommen. © Foto: Carla van de Puttelaar/Sotheby’s

Besonders beeindruckend ist der Flügelaltar von Pieter Coecke van Aelst, der wohl zwischen 1520 und 1525 entstand. Der Künstler schwelgt in den feinen Details seiner Oberflächen, sei es in den kostbaren Gewändern der Heiligen Drei Könige auf der Mitteltafel, in den architektonischen Details auf dem Seitenflügel mit der „Geburt Christi“ oder auf der anderen Seite in der Marmorierung der Säulen in der „Darbringung im Tempel“. Als das Metropolitan Museum dem Künstler und seinen Entwürfen für Renaissancetapisserien im Jahr 2014 eine Ausstellung widmete, war der Altar, der jetzt auf 2,5 bis 3,5 Millionen Dollar taxiert ist, als Leihgabe von Hester Diamond mit dabei.

An der Spitze des Angebots steht die marmorne Personifikation des Herbsts aus dem Jahr 1616, die Pietro Bernini mit seinem gerade achtzehnjährigen Sohn Gian Lorenzo für Leone Strozzi in Rom geschaffen hat. Mit geschätzten 8 Millionen Dollar wird ein neuer Höchstpreis für Bernini angestrebt. Den Rekord hält derzeit der Terrakotta-Bozzetto „Il Moro“, ein Entwurf für einen der Brunnen auf der Piazza Navona, der 2002 bei Sotheby’s in London inklusive Aufgeld umgerechnet 3,2 Millionen Dollar erzielte.

Hester Diamond Pietri und Gian Lorenzo Bernini Herbst
Auf mindestens 8 Millionen Dollar zielt der marmorne „Herbst“ von Pietro und Gian Lorenzo Bernini (1616). © Sotheby’s

Aus Lindenholz schnitzte Jörg Lederer, der um 1500 in Füssen und Kaufbeuren tätig war, die polychrom gefasste Skulptur eines heiligen Sebastian. Es ist die einzige Figur des Heiligen, die dem Bildhauer zugeordnet werden kann, und Sotheby’s erwartet zwischen 600.000 und 1 Million Dollar dafür. Um 1510 entstand Girolamo della Robbias­typische glasierte Terrakotta-Madonna mit Kind (300.000 bis 500.000 Dollar), die von einer üppigen Girlande aus Obst, Gemüse und Blüten begleitet wird.

Kunsthistorisch besonders bedeutend sind zwei Leinwände von Dosso Dossi, „Die sizilianischen Spiele“ und „Die Pest in Pergamea“, die Szenen von Vergils Aeneis darstellen und als Paar auf mindestens 3 Millionen Dollar geschätzt sind. Sie hingen als Fries mit weiteren acht Bildern von Dosso Dossi einst im Studiolo des Herzogs von Ferrara, Alfonso d’Este, direkt über einigen der berühmtesten Renaissancemalereien überhaupt, darunter Giovanni Bellinis „Götterfest“, heute in der National Gallery in Washington, und Tizians „Bacchus und Ariadne“, heute in der National Gallery in London.

Zu den zeitgenössischen Werken, mit denen die Sammlerin lebte, gehört Bill Violas Video-Diptychon „Ablutions“, das jetzt mit einer Taxe von 70.000 bis 100.000 Dollar unter den Hammer kommt. Die Plasmabildschirme, auf denen in einer Filmschleife zu sehen ist, wie sich zwei Leute die Hände ­waschen, war bis vor Kurzem über Hester Diamonds Esstisch installiert.

Service

AUKTION

„Fearless: The Collection of Hester Diamond“

­Sotheby’s New York, 22. bis 29. Januar 2021

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