Auf Ackerland am Stadtrand von Neuss entstand seit den 1980er-Jahren der Kulturraum Hombroich – ein Refugium, in dem sich Kunst, Architektur und Natur gleichwertig begegnen
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13.01.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 180
Wo Hombroich endet, ist nicht auszumachen. Der Blick schweift über Eichen und Trauerweiden, verharrt an mäandernden Wasserläufen und saugt sich irgendwo an grünen Säumen fest. Hombroich wirkt grenzenlos. Ein Satz, der Burkhard Damm freut: Seit über zwei Jahrzehnten ist der Landschaftsarchitekt an der Vollendung eines Paradieses beteiligt. Das Grundstück für die Insel Hombroich und die einzigartige Kunst in den vom Bildhauer Erwin Heerich geplanten skulpturalen Bauten brachte der Düsseldorfer Immobilienmakler Karl-Heinrich Müller mit in das ewige Projekt. Für die Natur in der wiederhergestellten Auenlandschaft sorgt Burkhard Damm.
Welche Rolle die Flora im Dialog mit der Kunst spielen soll, ob Heerichs geometrische Pavillons aus Abbruchklinkern auch künftig weithin sichtbar oder bald verdeckt sein werden, hängt von seiner Planung ab. Wie es Müller gern hätte, kann Damm bloß mutmaßen, der Spiritus Rector der Insel starb 2007. Klarheit herrscht allein in den white cubes, optisch wie inhaltlich: Alles hier bleibt an seinem Ort und wird nicht einmal für wichtige Ausstellungen verliehen; weder Cézannes Aquarelle noch die Reliefs von Kurt Schwitters oder jene leuchtenden „Farbraumkörper“, die der Maler Gotthard Graubner in seinem Atelier auf der Insel schuf. Draußen aber wachsen die Bäume weiter, die Brombeeren wuchern, das Schilf ebenso. Was davon wird beschnitten, rausgerupft oder neu gepflanzt? „Eigentlich“, sagt Damm, „fallen jeden Tag Entscheidungen an.“ Dabei sieht die Landschaft auf Hombroich aus wie vom Zufall gemalt.
Ein Gesamtkunstwerk nach dem Ideal des englischen Landschaftsgartens aus dem 18. Jahrhundert. Mit sanften Erhebungen, blühenden Ebenen, die Wolken spiegelnden Teichen und einem malerisch eingesetzten Graben – Ha-Ha genannt. Die Grenze des weitläufigen Areals markiert die Erft. Müller selbst ließ den Nebenarm des Rheins weder tiefer legen noch begradigen; das haben andere vor ihm getan, als sie die Flächen für die Landwirtschaft nutzbar machten. Jetzt ist dies ein Landschaftsschutzgebiet, in dem robuste Rinder weiden: Sie halten das Grün so niedrig, dass man ohne Hindernis immer weiter schauen kann, bis Bäume der Idylle ein Ende setzen. Eine vorgetäuschte Unendlichkeit, die einen die nahen Gewerbegebiete und Neubausiedlungen vergessen lässt.
In sein Arkadien brachte Karl-Heinrich Müller eine Sammlung mit Statuen der Khmer aus Kambodscha, Porträts von Lovis Corinth und „Stabile-Mobile“-Objekten von Alexander Calder. Graubner bekam sein Atelier auf Lebenszeit, Heerich errichtete ein knappes Dutzend Ausstellungshäuser. Doch zuallererst erwarb Müller 1982 ein drei Hektar großes Kleinod auf der niederrheinischen Landkarte mit einem Park und dem „Rosa Haus“, beide aus dem frühen 19. Jahrhundert.
Auf das historische Ensemble geht auch das Wort „Insel“ zurück. Hombroich selbst wird gar nicht vom Wasser umflossen, wohl aber Park und Villa, für die man um 1900 eigens Gräben zog. Burkhard Damms Vorgänger, der Landschaftsarchitekt Bernhard Korte, stellte den verwilderten Garten wieder her, in dem über hundert Jahre alte Sumpfeichen stehen. Erwin Heerich, der an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hatte und sich dort bis 1954 ein Atelier mit Joseph Beuys teilte, war auf der documenta 4 mit seinen Kartonplastiken vertreten. Auf der Basis dieser exakten Geometrien entstand mit der „Orangerie“ seine erste begehbare Skulptur aus Mauerwerk und einer Fensterfront. Drinnen ruhen auf Sockeln schwere, dunkle Köpfe von Khmer-Statuen, und wer Glück hat, sieht die Schatten dünner Zweige aus dem Park über die Wand wandern. Sie machen klar, weshalb im Zusammenhang mit Hombroich so oft Cézannes Idee von einer „Kunst parallel zur Natur“ zitiert wird. Denn auch wenn sich beides hier in überaus kultivierter Form begegnet, schwebte Müller und seinen Mitstreitern keinesfalls eine romantische Verschmelzung vor. Dem Besucher, der Hombroich seit 1987 betreten kann, offenbaren sich zwei Schönheiten im Dialog. Die Kunst bleibt – von den Außenskulpturen abgesehen – in den Räumen. Heerichs Häuser kapseln sie ein, während die Natur im Rhythmus der Jahreszeiten ihr eigenes Schauspiel performt.
Kaum ein Gebäude macht die Idee so transparent wie der „Turm“ des Bildhauers aus den späten Achzigerjahren, den man vom Kassenhaus als Erstes erreicht. Vier gläserne Öffnungen in alle Himmelsrichtungen ermöglichen den Ein- und Ausgang. Zu sehen gibt es vermeintlich nichts, der scharf eingeschnittene Kubus mit Oberlicht ist vollkommen leer. Bis auf die Impressionen von wogenden Gräsern und dichten Büschen, die durch die Glastüren sichtbar werden. Der „Turm“ als transitorischer Ort soll die Sinne schärfen, einstimmen auf die Begegnung mit Natur, Architektur und Kunst.
An der Kasse erhält man auch einen Plan, der über die Wege und alle elf Ausstellungshäuser informiert, in denen man neben Müllers Rembrandt-Radierungen auch die monumentalen Wimmelbilder von Norbert Tadeusz findet, der hier ebenfalls ein Atelier hatte. Schöner ist es, man lässt sich treiben, streift durch die Landschaft und stößt unversehens auf Heerichs Pavillons, in denen ein ähnliches Prinzip favorisiert wird: Alles bleibt namenlos, wird unhierarchisch präsentiert. Kein Schild weist die Zeichnungen als von Gustav Klimt geschaffen aus oder erklärt, was Jean Fautriers „Grand Nu Noir“ von 1926 bedeuten soll, wer der De-Stijl-Künstler Bart van der Leck war und weshalb chinesisches Glas aus dem 18. Jahrhundert neben Wachsköpfen von Medardo Rosso steht. Was die Exponate miteinander verbindet, muss oder vielmehr darf der Besucher selbst herausfinden. Seine Chancen schwinden mit dem Tageslicht, künstliche Beleuchtung gibt es keine. Mit Beginn der Dunkelheit schließt die Insel.
Unmittelbares Erleben schlägt Wissen, so fühlt sich das kuratorische Konzept an. Ganz ähnlich muss Karl-Heinrich Müller gedacht haben, dem bald nach dem Ankauf der Villa klar wurde, dass seine Sammlung das alte Haus im Barockstil sprengt. Er erwarb mehr Land und bekam ausgelaugte Ackerflächen, die Bernhard Korte akribisch nach Pollen und anderen Hinweisen auf ihre frühere Vegetation durchpflügen ließ. Die Auenlandschaft wurde renaturiert, darauf setzte Heerich die „Hohe Galerie“, das „Labyrinth“ und ein „Zwölf-Räume-Haus“, wo unter anderem fünf monochrome Objekte von Yves Klein untergekommen sind. Nur der „Graubner Pavillon“ blieb leer, in ihm prallten die Interessen unvereinbar aufeinander.
Erwin Heerich hatte ihn für den Maler entworfen, im Halbrund der Mauer sollte ein monumentales Wandbild entstehen. Den Eingang ließ er allerdings ebenfalls in die steinerne Wand setzen – aus der Perspektive eines Bildhauers schien es wohl völlig okay, wenn die Besucher eine Tür öffneten, die sich mitten im Gemälde befand. Graubner empfand es als Affront und weigerte sich zeitlebens, dort eine Arbeit auszuführen. Damm erzählt die Geschichte beim Rundgang leicht amüsiert, und man stellt sich die drei charakterstarken Gestalten – Müller, Graubner und Heerich – lebhaft dabei vor, wie sie das Inselprojekt bis weit in die Neunzigerjahre ebenso visionär wie streitfreudig vorantrieben.
Denn auch mit der Transformation von 21 Hektar Park und Ackerland war längst noch nicht Schluss. 1993, als die Nato ihren geheimen Stützpunkt für Pershing-Raketen und Cruise-Missiles keine halbe Autostunde von Düsseldorf entfernt schloss, übernahm Müller dieses Erbe des Kalten Krieges. In die blechverkleideten Unterkünfte sah er Maler und Musiker einziehen, bis heute finden auf Hombroich Lesungen und Konzerte statt. Mitte der Neunziger machte der Literat Thomas Kling den ehemaligen Wachturm zu seinem Studio. Im „Rosa Haus“ lebte ab 1999 Volker Kahmen, gründete hier ein Literatur- und Kunstinstitut und baute seine fotografische Sammlung mit Spitzenwerken von August Sander, Bernd und Hilla Becher oder Otto Steinert aus.
Die Künstlerin Katharina Hinsberg zog 2002 in ein von Heerich ersonnenes Atelierhaus auf der Raketenstation. Als sei es eben erst gewesen, erzählt sie von ihren Begegnungen mit Müller, der sich für alle kulturellen Sparten begeistern konnte und zu sich einlud, wen ihn interessierte. „Er dachte groß und großzügig“, sagt Hinsberg. Künstlern bot er Aufenthalte an oder gleich einen Arbeitsraum für immer. 1994 kam der japanische Architekt Tadao Ando zu Besuch, das Ergebnis waren Pläne für eine spektakulär schlichte Ausstellungshalle mit Wasserbassin. Über ihre Funktion dachte Müller erst später nach – und fragte die Sammlerin Marianne Langen, ob sie das Projekt realisieren wolle. Mit ihrem verstorbenen Mann hatte Langen eine einzigartige Kollektion aus moderner westlicher und alter Kunst aus Asien und Südamerika zusammengetragen. 2004 eröffnete die private Langen Foundation. Zwei Jahre zuvor startete der dänische Künstler Per Kirkeby sein Projekt der „Drei Kapellen“ und schuf große, begehbare Backsteinskulpturen auf dem Weg zwischen der Insel Hombroich und der Raketenstation. 2017 wurde schließlich das kreisrunde „Haus für Musiker“ fertiggestellt – ein Projekt, das zwischendurch aus finanziellen Gründen lahmte. Hombroich-Gründer Müller hatte zahllose Träume, aber nicht immer reichte das Geld für die hohen Kosten der Umsetzung. Unrealisiert blieb deshalb Kirkebys Modell eines Bahnhofs. Frank Boehm, Architekt und seit fünf Jahren Geschäftsführer der Insel Hombroich, gibt die Idee jedoch nicht auf, dass die Bahn zwischen Köln und Düsseldorf irgendwann auch bei Kirkeby hält.
Auf der Raketenstation bewegt man sich frei und ohne Eintritt, bewundert die Überbleibsel aus Militärzeiten neben dem neuen „Ein Stein Teehaus“ des heimlichen japanischen Architekturstars Terunobu Fujimori oder Fotografien seiner raren Bauwerke im „Siza Pavillon“ – dann allerdings wird Eintritt fällig, genau wie auf der Insel. System hat das nicht. Man merkt, dass Müller sich, nach eigenen Worten vom „Inselbazillus“ befallen, grenzenlos auf letztlich 60 Hektar ausgebreitet hat. Ohne Kalkül, allein aus Liebe zum „Inselgeschehen“ und den „Inselbeteiligten“. Karl-Heinrich Müller hat alles gegeben, sein Erbe steckt in jenem traumhaften Refugium, das kein Denkmal sein will, sondern Ansporn für ein wachsendes spirituelles Labor. Wie schön es wäre, wenn sich die Insel hinter ihrem Ha-Ha tatsächlich ins Unendliche verlängern würde.
Der Weg zur Kunst
Mit dem Auto braucht man etwa eine halbe Stunde von Düsseldorf. Die Bahn hält in Neuss Hbf, von dort bringt einen der Bus 869 bis zur Haltestelle Insel Hombroich.
Unser Tipp
Auf der Raketenstation, fußläufig knapp zwölf Minuten von der Insel Hombroich entfernt, liegt auch das Gästehaus „Kloster“. Erwin Heerich hat es mit 14 Zimmern geplant, die sich um einen Hof gruppieren. Ihre großartige Einfachheit setzt sich in der Gemeinschaftsküche fort. Ab 70 Euro pro Nacht lässt sich der magische Ort mitten in Natur – nach Aufhebung der Corona-Maßnahmen – 24 Stunden genießen.