Der Traum vom besseren Leben begleitet die Kunstgeschichte. Galt die Sehnsucht einst dem Garten Eden und seiner ewigen Lust und Leichtigkeit, zielen heutige Kunstvisionen auf die Rettung der Welt vor sich selbst
Von
01.02.2021
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 172
Dieses Bild ist ein einziger Traum. Liebespaare beglücken sich mit einer Landpartie in zeitlos schöner Natur. Sie sind froh, dass sie sich haben, und ergötzen sich an erotischen Neckereien. Niemand entblößt sich, aber die höfischen Gewänder des frühen 18. Jahrhunderts werden so lässig getragen, als könnte man sie jederzeit von sich werfen. Auch ein bäuerliches Paar ist dabei, Standesunterschiede zählen nicht. Amoretten fliegen wie Girlanden umher und freuen sich an dem Treiben. Sexualität liegt in der Luft, selbst wenn sie nicht explizit vollzogen wird. So traumhaft wie das Geschehen ist die Malerei. Ein seidiger Glanz liegt über dem Gemälde. Die Liebespaare sind in zarter Bewegtheit, das Gras und die Äste der Bäume wie hingetupft, und hinter dem rosa schimmernden Segel eines Schiffs verschmilzt das Meer mit dem Himmel zu einem diffusen Leuchten, während aus dem goldstrahlenden Horizont eine Insel auftaucht. Dorthin, an den verheißungsvollen Ort der erfüllten Liebe, wird die Fahrt gehen.
Wer hätte sich so etwas noch nicht vorgestellt? Eine Welt, in der es keinen Hass und keine Konflikte mehr gibt, wo materielle Sorgen unbekannt sind und sich alles der Liebe unterordnet. Die Menschheit hat in ihrer langen Geschichte, in der sie die schrecklichsten Kriege und Gewaltexzesse austrug, immer solche Wunschorte des Friedens und der freundlichen Atmosphäre kultiviert. Einer von ihnen war Kythera, die Insel vor der Südostküste der Peloponnes. Venus, aus dem Schaum des Meeres geborene Göttin der Liebe und der Schönheit, soll hier an Land gegangen sein und gelebt haben. Den Griechen und Römern war das Eiland heilig, und auch die Kunst hat diesen utopischen Ort des Friedens und der zwischenmenschlichen Innigkeit über die Jahrhunderte immer wieder in Szene gesetzt.
Das berühmteste Traumbild von der Liebesinsel ist die „Einschiffung nach Kythera“. Antoine Watteau, der Meister der galanten Feste, malte 1717 die erste, seither im Louvre befindliche Version, um damit Aufnahme in die Pariser Akademie zu erlangen. Ein Jahr später entstand die zweite Fassung, erworben vom Preußenkönig Friedrich II., heute in Schloss Charlottenburg in Berlin. Beide Bilder deuten die Insel ahnungsvoll in der Ferne an; es geht um die Vorfreude und den Aufbruch, während Venus als lebendig-steinerne Statue über das Geschehen und den seligen Rausch wacht. Das Bild der Liebe und poetischen Erotik hat die Maler Turner und Monet ebenso inspiriert wie die Dichter Verlaine und Proust oder die silbrigen Klänge von Debussy. Auch der Philosoph Ernst Bloch, der in seinem 1939–47 verfassten Monumentalwerk „Das Prinzip Hoffnung“ das Utopiestreben der Menschheit im Marxismus kulminieren lässt, hat dem „antizipierten Glück“ bei Watteau eine einfühlsame Passage gewidmet.
Die „Einschiffung nach Kythera“ ist hier deshalb so ausführlich gewürdigt, weil sie exemplarisch vorführt, wie eine alltägliche, ja eigentlich banale Sehnsucht – nämlich nach Frieden, Zuneigung und sexueller Erfüllung – von einem feinsinnigen Künstler sublimiert, allegorisiert, vielschichtig angereichert und ins Ahnungsvolle einer transzendenten Stimmung überführt werden kann. Zugleich gelang es Watteau, einen uralten Mythos der Antike so zeitlos darzustellen, dass er uns auch heute noch unmittelbar berührt. Die Kunst hat in allen Epochen und Kulturkreisen solche Wunschbilder hervorgebracht und den Menschen ihre Träume von einem besseren Leben vorgeführt. So ist die Geschichte der Kunst auch eine Geschichte der großen und kleinen Utopien. Unter diesem Fokus wurde sie noch nie in einem umfassenden Überblick, sondern allenfalls in partiellen Aspekten beleuchtet. Dabei ist es lohnend – vielleicht besonders in einer so bedrohlichen Krise wie heute –, sich mit den Bildvisionen einer besseren Zukunft zu beschäftigen. Denn letztlich blicken wir in diesen Kunstwerken in den Spiegel unserer eigenen Befindlichkeit. Das kann tröstlich sein oder zumindest zum Nachdenken anregen.
Utopie ist ein großer Begriff, der ziemlich inflationär benutzt wird. Thomas Morus, der englische Humanist und Politiker im Dienst Heinrichs VIII., erfand ihn nach dem griechischen ou- (Nicht-) und topos (Ort) für seinen 1516 erschienen Roman „Utopia“. Die gleichnamige Insel ist ein „Nicht-Ort“ irgendwo in einem Meer, und wenn Morus den Staat Utopia genau beschreibt und der Erstausgabe eine Karte des Eilands beigibt, beinhaltet schon der Name, dass eine solche Gesellschaftsform nie realisierbar sein wird.
Alles dient dort dem Wohlstand eines durch und durch vernünftigen, auf Maßhaltung und Effektivität bedachten Gemeinwesens. Privates Eigentum ist vollständig abgeschafft, alle Bewohner tragen die gleiche Kleidung und müssen täglich sechs Stunden ihrem Beruf nachgehen. Gegessen wird gemeinsam in großen Hallen, die Freizeit mit wissenschaftlichen Studien genutzt. Die Städter arbeiten alternierend auch in der Landwirtschaft. Alles geschieht im Einklang mit der Natur, Gesundheit und Fitness sind wichtig, und bei unheilbarer Krankheit empfehlen die Beamten und Priester den Freitod. Wer sich nicht an die sittlichen Regeln hält, wird in den Sklavenstand versetzt. Manches aus dem Kommunismus Lenins oder Maos hat Morus vorweggenommen, verbunden mit einem intoleranten Moralismus, der immerhin eine Art von Religionsfreiheit beinhaltet. Der Glaube soll nur nicht gegen die Natur gerichtet sein.
Das Buch mit seiner beißenden Ironie, den vielen Anspielungen auf die Staatsideen von Platon und anderen antiken Philosophen ist höchst geistreich, aber es ist auch schrecklich: Wer wollte denn tatsächlich so leben wie auf dieser streng durchorganisierten Insel mit ihrer verordneten Heiterkeit? Die chinesische Kulturrevolution oder das Schreckensregime der Roten Khmer sind abschreckende Beispiele, wo solche radikalen Gesellschaftsvisionen hinführen können. Trotzdem wirkt Morus’ „Utopia“ bis heute nach, schon weil es den Begriff prägte und weil es damit zum ersten Mal die Vorstellung einer besseren oder zumindest optimierten Lebensform verband.
Aber ist auch die Sehnsucht nach einem Leben in Liebe, ist überhaupt all das, was wir nicht haben, uns aber sehr wünschen, schon utopisch? Für Ernst Bloch war das so, und im „Prinzip Hoffnung“, das auch eine facettenreiche Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte der Menschheit ausbreitet, stellte er dar, wie utopische Impulse im Großen wie im Kleinen unsere ganze Existenz durchdringen. „Der Aspekt des Hoffens macht die Menschen weit, statt sie zu verengen“, schreibt er und würdigt auch die flüchtigen Wünsche als hohes Gut: „Möchten die Tagträume noch voller werden, denn das bedeutet, dass sie sich genau um den nüchternen Blick bereichern: nicht im Sinn der Verstockung, sondern des Hellwerdens.“
Die Utopien in der Kunst sind so vielfältig und reichhaltig, wie Bloch sie als Grundbedürfnis des Menschen aufgezeigt hat. Das Streben nach Erlösung durch Gottes Gnade hat dabei im christlichen Europa viele Jahrhunderte lang den Bildfindungen den Weg gewiesen. Das Paradies, das Jüngste Gericht mit der Teilung in Selige und Verdammte, das Himmlische Jerusalem in der Offenbarung (Apokalypse) des Johannes sind die immer wiederkehrenden Themen in den Kunstwerken. Und natürlich sind die unkonventionellen Darstellungen die interessantesten.
Der schrägste, ja verrückteste aller Bildträume von einem anderen Leben ist Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. Man könnte die Mitteltafel des um 1490/1500 entstandenen Triptychons als Massenorgie oder sexuelles Mysterienspiel bezeichnen. Dabei geht es nicht nur um Liebkosungen und Kopulationen, sondern um exzentrische Spiele mit allen Körperöffnungen, um die merkwürdigsten Interaktionen mit Tieren. Viele Dutzend Nackte paradieren in fröhlichen Triumphzügen oder bevölkern Science-Fiction-Kapseln, die sich beim näheren Hinschauen als surreale Pflanzengebilde erweisen. Die Kunsthistoriker erblicken in dem Bild traditionell ein abschreckendes Mahnmal gegen eine exzessive Sexualität; die Strafe in der Hölle ist gleich auf dem rechten Flügel zu sehen. Berühmt, aber umstritten ist Wilhelm Fraengers 1947 entwickelte Deutung als Bildutopie eines Liebesparadieses. Die Forscher werden noch lange darüber streiten, um was es Bosch eigentlich ging.
Vielleicht hat es etwas mit Boschs Überdosis zu tun, dass die flämischen Landschaftsmaler um 1600 – vor allem Jan Brueghel d. Ä., sein gleichnamiger Sohn und Roelant Savery – die Menschen ganz aus dem Paradies vertrieben und den Garten Eden den Tieren überließen. Auch ohne Adam und Eva war der Hymnus auf Gottes Schöpfung verständlich. Wahrscheinlich sahen die Zeitgenossen genauso wie wir heute den Menschen als Zerstörer der Natur und träumten von einer Eintracht aller Kreaturen. Diese Vision ist ein utopisches Leitmotiv durch alle Epochen, etwa beim „Naiven“ Henri Rousseau 1910 in seinem friedlichen Urwaldkonzert in „Der Traum“ oder noch 2017 beim Künstlerduo Pierre et Gilles, die (nicht ohne einen kräftigen Schuss süßlicher Ironie) die Idylle eines befreiten schwulen Lebens im Pop-Dschungel samt friedfertigem Leoparden ansiedeln.
Seit der Renaissance vermischten sich die christlichen Vorstellungen einer besseren Welt mit antiken Utopien wie dem Goldenen Zeitalter, ein beliebtes Bildthema des 16. bis 18. Jahrhunderts. Es war eine Welt ohne Feindseligkeit und voller Reichtum durch die Segnungen der Natur, was sich der Mensch in den folgenden Stufen der „Vier Weltalter“ dann gründlich zerstören sollte. Ebenso als Sehnsuchtslandschaft diente den Künstlern das mythische Arkadien, wo die Menschen frei von gesellschaftlichen Zwängen leben konnten. Noch die Symbolisten um 1900, etwa Maurice Denis, die Lebensreformer vor dem Ersten Weltkrieg, ja selbst Paul Gauguin, der auf Tahiti ein verlorenes Paradies wiederfinden wollte, bewegten sich im Grunde auf diesen klassischen Pfaden, wenn sie in magisch strahlenden Landschaften eine befreite Körperlichkeit anpriesen.
Einen ganz anderen Ton schlugen wenige Jahre später die politisch bewegten Avantgardisten an. Die Futuristen propagierten in ihren Schriften wie ihren Bildern ein radikales Maschinenzeitalter, träumten von Dynamik, Mobilität und sogar vom Krieg als Befreiung vom Ballast der Vergangenheit. Das Industriezeitalter war nun mit hundertjähriger Verspätung als ein utopischer Impuls in der Kunst angekommen. Auch die Künstler im Dienst der jungen Sowjetunion verherrlichten den Bau von Fabriken und die Elektrifizierung als Fortschritt der Menschheit, vereinigten wie Alexander Deineka eine sportliche, gesunde Jugend mit den Segnungen der Technik.
Die ideologischen Systeme Kommunismus und Faschismus mit ihren katastrophalen Folgen haben die Polit-Utopien nachhaltig diskreditiert. Wenn es heute um die Frage geht, was für Lebensformen wir anstreben, steht angesichts der drohenden Klimakatastrophe der Umgang mit der Natur meist an erster Stelle – auch in der Kunst. Es gibt vielfältige Ansätze und Initiativen. So hat das Wilhelm-Hack-Museum 2015 in der großen Ausstellung „Wie leben?“ den Weg vom Industriekult bis zum ökologischen Wohnen nachvollzogen. Seit zehn Jahren schon tourt Adrienne Goehlers Schau „Zur Nachahmung empfohlen! Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit“ um die Welt. Darin machen Künstler konkrete Vorschläge, um die Ressourcen der Welt zu schonen. Und Sybille Heidenreich analysiert in ihrem unlängst erschienenen Buch „Wunschlandschaften“ visionäre Bilder diverser Epochen, um daraus zu einem neuen „utopischen Denken und Fühlen“ über den Zustand und vor allem den Erhalt unserer Welt anzuregen. Eines ist gewiss: Die Kunst hat schon immer von einem besseren Leben geträumt. Sie wird es weiter tun.