Ein reichhaltiges Begleitbuch zur Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum widmet sich dem kriminellen Künstlerschicksal des spätgotischen Meisters Veit Stoß
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04.02.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 1
Dass im schillernden Florenz oder Rom große Künstler wie Cellini oder Caravaggio Verbrechen begingen, hat der Kunstgeschichte eine pikante Note verliehen. Aber im spätmittelalterlichen Nürnberg? Tilman Riemenschneider und Veit Stoß, der Gebrandmarkte, sind mit dem Münnerstädter Altar die Protagonisten der Schau. Ob die beiden bedeutendsten fränkischen Bildhauer um 1500 sich je persönlich begegnet sind, ist offen. Da die dortige Stadtpfarrkirche St. Maria Magdalena derzeit saniert wird, nutzte der Generaldirektor des Bayerischen Nationalmuseums Frank Matthias Kammel die einmalige Chance, prominente Leihgaben wie die Flügelgemälde für die mit 60 Exponaten bestückte Sonderschau zu erhalten. Sie werfen ein Schlaglicht auf bewegte Zeitläufte und ein kriminelles Künstlerschicksal, wovon sich nach Wiederöffnung die Museumbesucher überzeugen können. Bis dahin dient ein ausführlicher Begleitband im Hirmer Verlag als Ersatz.
Um 1460 geboren, erhielt Tilman Riemenschneider 1485 die Meisterwürde in der fürstbischöflichen Residenzstadt Würzburg, wo er zu Ansehen und Ämtern gekommen, 1531 auch gestorben ist. 1525 wurde er in den Bauernkriegen mit seinen Ratskollegen inhaftiert und gefoltert. Veit Stoß wurde persönlicher Verbrechen überführt. Für beide Künstler bedeuteten Gefangenschaft und Marter eine tiefe Zäsur.
Die monumentale heilige Maria Magdalena im Haarkleid umgeben von sechs (ursprünglich sieben) Engeln, einst im Zentrum des Altars, gehört zum bedeutenden Bestand des Bayerischen Nationalmuseums. Nun ist die Gruppe erstmals wieder vereint mit Riemenschneiders Schreinfiguren der Heiligen Kilian und Elisabeth sowie den Flügelgemälden von Veit Stoß. Die mögliche Rekonstruktion des Altars veranschaulicht eine Visualisierung.
Zwar ist sicher, dass Riemenschneiders Altarretabel bei dessen Aufstellung 1492 holzsichtig war, doch wurden die Figuren später mehrfach gefasst und wieder abgelaugt. Die Holzsichtigkeit von Riemenschneiders Schnitzwerken galt vielfach als Invention des Künstlers. Doch mag man dem Katalog gern folgen, dass der Bildhauer auftragsgemäß die Schnitzarbeiten lieferte, die farbige Hülle jedoch von Fassmalern – auch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt – vorgesehen war. Große Schnitzaltäre erforderten in der Regel drei bis vier Jahre Arbeit. Riemenschneider benötigte für das ganze Münnerstädter Retabel nur gut ein Jahr. Seine ökonomische Arbeitsweise veranschaulichen die realistische „Zinnkanne“ der heiligen Elisabeth oder der Kelch des Johannes: Sie wurden gedrechselt und mit Dübeln am Gewand verleimt. Wie Lucas Cranach d. Ä. hat Riemenschneider sein großes Werkstatt-Team auf seinen charakteristischen Stil eingeschworen, so dass eine Händescheidung – etwa bei den Engeln – zwar sichtbar, aber nicht zuzuordnen ist. Kein Wunder, dass für Riemenschneider bis heute kein kritisches Gesamtverzeichnis seiner Werke existiert.
Stoß’ frühes Schaffen liegt im Dunkeln. Vielleicht wurde er um 1447 in Nürnberg geboren. Vermutlich hat er auf seiner Wanderschaft die Bildhauerzentren Freiburg, Basel, Straßburg und Ulm zu Zeiten der großen Dombaustellen besucht. Sicher ist, dass er sich vor seiner Eheschließung 1476 in Nürnberg niedergelassen hat und beruflich, finanziell und gesellschaftlich etabliert war. 1477 ging er nach Krakau, wo sein monumentaler Marienaltar oder die ebenso schöne wie expressionistische Kreuzigungsgruppe in der Marienkirche überwältigen.
1496 verließ Veit Stoß die Geburtsstadt seiner sieben Söhne und einer Tochter in Richtung Nürnberg. In der blühenden Reichsstadt, wo Anton Koberger 1493 die Schedelsche Weltchronik gedruckt und Martin Behaim den ältesten erhaltenen Erdglobus geschaffen hatte, Albrecht Dürer als Maler und Adam Kraft als Bildhauer wirkten, erwarb Stoß umgehend wider das Bürgerrecht. Krafts realistische Bronzestatuette des „Astbrechers“ verdeutlicht in der Schau die Konkurrenz zum Heimkehrer deutlich. 1496 starb Stoß’ Ehefrau; im Jahr darauf heiratete er erneut in gut situierte Kreise ein. Der zweiten Ehe entsprangen vier Söhne und eine Tochter. 1497 bis 1499 führte Stoß die „Volckamersche Gedächtnisstiftung“ für St. Sebald aus. Anhand des Gipsabgusses der drei Sandstein-Reliefs kann man nachvollziehen, dass Stoß eine gut funktionierende Werkstatt betrieb.
Schon in Krakau in kompromittierende Geldgeschäfte involviert, setzte Stoß in Nürnberg dubiose Finanztransaktionen fort. Die verwickelten Umstände, die ihn schließlich zum Fälscher eines Schuldbriefes werden ließen, sind bestens dokumentiert. Sie könnten heutzutage vergleichbar geschehen. Auf Stoß’ Vergehen stand in Nürnberg der Tod, heißt es lakonisch. Dank honoriger Fürsprecher wurde die Strafe der Hinrichtung abgemildert. Am 4. Dezember 1503 durchstieß der Henker dem Künstler beide Wangen mit glühenden Eisen. Zwar konnten die Wunden im Lochgefängnis ausheilen, aber gegen den Verlust der bürgerlichen Ehre kämpfte Veit Stoß ein Leben lang. Aus Sorge einer noch härteren Strafe, floh er nach Münnerstadt, wo seine Tochter verheiratet war, der Bildschnitzer sich sicher glaubte und weniger strenge Gewerbevorschriften galten.
Mit Veit Stoß hatte Münnerstadt 1504 eine Koryphäe für die ergänzende Fassung sowie die Flügelgemälde von Riemenscheiders Hochaltarretabel gewonnen. Die Ausstellung räumt mit der im 20. Jahrhundert herrschenden Meinung auf, dass Riemenschneiders holzsichtiger Schnitzaltar keiner farbigen Fassung bedurft habe. Stoß’ Lohn überstieg jenen von Riemenschneider, denn die Malerei galt damals mehr als die Schnitzkunst. Im Gegensatz zur raschen, arbeitsteiligen seriellen Arbeitsweise Riemenschneiders feilte Veit Stoß seine Bildwerke zu dreidimensionalen Objekten aus.
Veit Stoß war Bildhauer und Maler. Von der Kunstgeschichte lange als Nebenprodukt des Bildschnitzers betrachtet, erfahren die vier Gemälde in der Ausstellung eine neue Würdigung. Stoß malte die Kilianslegende 1504 wohl eigenhändig in Mischtechnik auf Lindenholz. Dass er die Linearperspektive eines Dürer nicht beherrschte, machte er durch seine erzählerische, expressive Gebärdensprache wett. Die Gräuel um den Mord an Bischof Kilian, dem legendären Gründer des Christentums in Franken, waren in der Region omnipräsent. Man sieht die lebhaft agierenden Gestalten auf den Bildern mit anderen Augen, wenn man die Persönlichkeit des Künstlers und sein Schicksal beim Betrachten mitdenkt. Originale historische Folterwerkzeuge wie Richtschwerter und Brandeisen unterstreichen die Stoß zugefügten Leiden, die sich wiederum in der Drastik seiner Gemälde spiegeln. Veit Stoß konzentriert sich auf die Mahnpredigt, die Anstiftung zum Mord, die Tat selbst und die Bestrafung der Mörder. Gleichsam als Hauptakteure der Figuren verleiht Stoß dem Spiel ihrer Hände größte Ausdruckskraft. Exaltierte Bewegungen und pointierte Mimik sind ihm wichtiger als anatomische Treue, räumliche Logik oder reale Größenverhältnisse. Historische Textilien oder Schmuck dienen zum Vergleich mit den gemalten Gewändern, Agraffen und Fingerringen des Königspaares.
1505 zurück in Nürnberg, setzten Veit Stoß weitere gerichtliche Auseinandersetzungen zu, die ihm eine mehrwöchige Turmhaft eintrugen. Eventuell als Kompensation mangelnder Aufträge wandte er sich der Graphik zu. Alle zehn überkommenen Kupferstiche sind in München zu sehen. Stoß hat diese „Erstlingswerke“ mit einer Art Hausmarke gekennzeichnet. Obwohl technisch keine Meisterwerke, bereichern sie die Kenntnis über den Bildschnitzer-Maler um eine weitere Facette. Wohl nach 1500 entstanden, bilden sie technisch eine Mischung aus Kupferstich und Kaltnadelradierung. Das Martyrium der heiligen Katharina hat mit der überlängten dürrbeinigen Gestalt des Henkers und dem gebauschten Faltenrausch ihres Gewandes fast karikierende Züge. Die Thronende Madonna im Zimmer wiederum lehnt sich an bedeutende Vorbilder wie den Meister E.S. an. Auf dem Blatt der Heiligen Familie erscheint Joseph als „ein derber, grobschlächtiger Geselle von finsterer Gemütsart, leidenschaftlich, verwildert im Äußeren und verschlagen“. Kein Wunder, dass man darin ein Selbstbildnis Veit Stoß’ vermutet. Im „Englischen Gruß“ von 1517/18 in der Lorenzkirche erlebt man Veit Stoß wieder als grandiosen Bildhauer von anmutiger Schönheit.
„Kunst und Kapitalverbrechen“
Bayerisches Nationalmuseum, München
bis 1. August 2021
„Kunst und Kapitalverbrechen. Veit Stoß, Tilmann Riemenschneider und der Münnerstädter Altar“
von Frank Matthias Kammel
Hirmer Verlag, München, 2020, 37 Euro