Der Fin-de-Siècle-Maler Giovanni Segantini hat die Bergwelt des Schweizer Engadin in glühenden Gemälden verewigt. Wir sind auf Spurensuche gegangen und begegneten zwei ungewöhnlichen Frauen, die sein Erbe pflegen
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12.03.2021
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Weltkunst Nr. 180
Das Licht spiegelte sich glitzernd in den Wasserflächen des Oberengadins, als Giovanni Segantini nach Maloja kam. Er war hier zuvor schon gewesen, aber dieses Mal prägte sich ihm das Naturschauspiel dieser Landschaft tief ein, und das breite, sonnendurchflutete Seenplateau, von den Gletschern der Eiszeit aus den Hochgebirgsmassen gefräst, wurde zum Sehnsuchtsziel für ihn. Es war das Jahr 1892. Er suche in seiner Kunst doch „nichts anderes als die Harmonie des Lichts“, hatte er im Jahr zuvor an Vittore Grubicy, seinen Galeristen in Mailand, geschrieben. Immer wieder das Licht, es ist die funkelnde Leitlinie durch das Schaffen dieses Malers.
Nicht umsonst ist die Landschaft zwischen Maloja und St. Moritz ein weltberühmtes Urlaubsziel und hat seit dem späten 19. Jahrhundert maßgeblich zur Entwicklung des Alpentourismus beigetragen. Das liegt am Zusammenwirken von Wasser und Hochgebirge: wie sich der Durchfluss des frisch entsprungenen Inn zu einer Kette von vier Seen weitet, bevor er seinen Lauf durch das 80 Kilometer lange Engadin fortsetzt. Die Reize der Landschaft sind vielfältig, vom bequemen Wanderweg um die Seen über Hochgebirgstouren, man kann Fahrrad fahren, windsurfen, natürlich im Winter Ski fahren. Die Belle-Époque-Hotels und der Jetset-Ort St. Moritz verbreiten Glamour.
Was viele nicht wissen: Man kann sich das Engadin auch über die Kunst erschließen. Abgesehen von einer Fülle von Galerien, Museen und anderen Kulturorten ist es die Landschaft Giovanni Segantinis, obwohl er hier nur fünf Jahre bis zu seinem frühen Tod 1899 wirkte. Es gibt authentische Orte, die mit seinem Leben und seinem Werk verbunden sind, oder man lässt sich, angeregt von seinen Gemälden, einfach nur auf die grandiose Bergwelt ein. Vor allem aber verfügt das Segantini Museum in St. Moritz weltweit über die meisten Bilder des Künstlers.
Segantini, mit italienischer Muttersprache, aber ohne Pass und Staatsangehörigkeit, lebte seit 1886 mit seiner Familie in Savognin, knapp fünfzig kurvenreiche Kilometer von Maloja entfernt. Hier in den Graubündner Alpen fand er seinen Stil und seine Bildwelt, die ihn in den 1890er-Jahren zu einem international verehrten Maler machten. Sammler und Museen rissen sich um die Bilder und zahlten Höchstpreise dafür. Das einfache Leben der Bauern bettete er in weite Berglandschaften, die er mit gleißender Helligkeit erfüllte. Mensch, Tier und Natur werden eins. Die Dorfbewohner, ihre Kühe und Schafe erscheinen in urtümlicher Monumentalität, und eine Archaik durchströmt die Bilder, die durch das Flirren der Pinselstriche in eine entrückte Sphäre überführt wird.
Weder von mühseligen Bergwanderungen noch von Eis und Schnee ließ sich Segantini abhalten, ausschließlich in der Natur zu malen. Die großen Leinwände fixierte er in eigens gezimmerten Kästen, die das Bild mit Klapptüren vor Wind und Wetter schützten. Immer mit dabei die Lebensgefährtin Bice Bugatti, die ihm – der als Kind nie eine Schule besuchte hatte und sich erst als junger Erwachsener mühselig Lesen und Schreiben beibrachte – aus Romanen oder philosophischen Traktaten vorlas: George Sand, Émile Zola, überhaupt die großen Franzosen des 19. Jahrhunderts, Charles Dickens, Gabriele D’Annunzio, der befreundete Librettist Luigi Illica genauso wie die Philosophen Lukrez, Schopenhauer und Nietzsche.
In Savognin habe er seine glücklichsten Jahre verbracht, sagte Segantini später, obwohl er dort (wie immer in seinem Leben) mit dramatischen Geldproblemen zu kämpfen hatte und ihm die Schweizer Behörden wegen seiner Staatenlosigkeit ständig mit der Ausweisung drohten. Der Dichterin Neera, mit der er eng befreundet war, schrieb er 1893 schwärmerisch von der Szenerie, die sich ihm darbot: „Schön in ihrer Jugend, die nach Veilchen und Heckenrosen duftet und nach dem starken Aroma der Nadelwälder. Und zu dieser Zeit erhebt sich meine Seele einsam, um die Schönheit zu schauen, während mein Auge sich in die Betrachtung des blauen Himmels vertieft, dann auf den schneebedeckten Gipfeln verweilt, endlich zum Grau der Felsen herabgleitet, um zuletzt im Grün, das mich umgibt, auszuruhen.“ So formulierte einer, der nicht realistisch darstellen wollte, sondern in der Natur nach den Visionen und Gefühlen seiner Sehnsüchte suchte. Vieles ist symbolistisch aufgeladen, durchsetzt von surrealen Elementen. Segantini war in den Jahren vor 1900 ein Moderner und beharrte auch darauf, einer zu sein.
Nach acht Jahren in Savognin wollte er höher hinauf, weiter dem Licht entgegen, eine noch urtümlichere Hochalpenwelt vor Augen haben. Im Sommer 1894 war es so weit. Baba, die junge Frau aus Savognin, die neben der Hausarbeit zur unentbehrlichen Vertrauten der Familie wurde, hatte über einen Onkel von einem leer stehenden Haus in Maloja gehört. Unverzüglich nahm man die Kutsche dorthin, vor Ort mietete Segantini gleich hocherfreut das neue, geräumige Holzhaus im Alpenstil. Ende August erhielt Alberto Grubicy, der die mit seinem Bruder Vittore gegründete Galerie mittlerweile allein führte, die Nachricht vom Einzug ins Chalet Kuoni: „Ich habe begonnen, die Gegend hier in Besitz zu nehmen, die eine wahre Fundgrube für meine Kunst ist.“
Aber unsere Geschichte beginnt woanders, an einem Ort, den man mit dem Künstler nie in Verbindung bringen würde. Mit ihrem strahlenden Lächeln, das ich noch oft erleben werde, öffnet Gioconda Leykauf-Segantini die Haustür in Hof an der Saale. Sie ist die letzte lebende Enkelin von Giovanni Segantini und spricht über ihn, als habe sie ihn noch selbst intensiv erlebt. Dabei war er schon lange tot, als sie 1941 im Chalet Kuoni zur Welt kam. Die enge Verbindung zu ihrem Großvater verdankt sie dessen ältestem Sohn: ihrem Vater Gottardo, ebenfalls ein Maler. Als Giovanni starb, war er siebzehn, zur Geburt seiner Tochter Gioconda sechzig. So erklärt sich der weite Generationensprung. Unzählige Male erzählte Gottardo seiner Jüngsten in der Kindheit und auch später bis zu seinem Tod 1974 vom Leben und von der Kunst des großen Familienpadrone. Und dann war da noch die Tante Bianca, die Tochter Giovanni Segantinis. So wuchs Gioconda in lebendiger und sehr authentischer Erinnerung an den Großvater auf.
Als sie achtzehn war, lernte Gioconda in St. Moritz den 36-jährigen Augenarzt Ernst Günther Leykauf kennen. Sie heirateten 1960, so kam sie nach Hof im äußersten Zipfel von Oberfranken, damals direkt an der Grenze zur DDR gelegen. Das Ehepaar bekam sechs Töchter, aber neben der großen Familie war Gioconda immer vielfältig engagiert. Sie leitete ein Theaterprojekt, half eingewanderten Ärzten beim Lernen der deutschen Fachsprache und war zwölf Jahre im Stadtrat von Hof. Auch als Modeschöpferin war sie aktiv, und ihr rhetorisches Talent nutzte sie viele Jahre als Grabrednerin bei Beerdigungen. Immer im Sommer ging es nach Maloja, wo ihr Tante Bianca, als sie 1980 starb, ein kleines Häuschen hinterließ. Sie lebe sehr gerne in Hof, beteuert sie. „Aber mit dem Herzen bin ich immer in Maloja geblieben.“
Anderthalb Jahre später fahre ich bei strömendem Regen hinter Chur die Straße in Richtung St. Moritz hinauf. Von Savognin ist kaum etwas zu sehen. Die Kurven schrauben sich immer weiter in die Höhe, und ich stelle mir vor, wie sich zu Segantinis Zeiten hier die Kutschen quälten. Oben am Julierpass auf 2300 Meter Höhe erahne ich nur eine archaische Mondlandschaft, dann geht es herab zum breiten Tal des Oberengadins. Sils Maria taucht auf, wo der Philosoph Nietzsche in den 1880er-Jahren die Sommer verbrachte und ein Museum an ihn erinnert. Zwischen den Tannen ragt das berühmte Hotel Waldhaus wie ein Märchenschloss empor, und der Silsersee öffnet sich. An seinem anderem Ende erreiche ich Maloja.
Wie jeden Nachmittag im Sommer ist Gioconda in der Chiesa Bianca. Als die Kinder selbstständig wurden, begann sie, sich intensiver mit ihrer Familiengeschichte und dem berühmten Großvater zu beschäftigen. Und so übernahm sie 1995, als die katholische Gemeinde ein neues Gotteshaus bezog, die weiße, weithin sichtbar auf einem Hügel gelegene Kirche in Erbpacht. Hier hatte man Ende September 1899 Segantini aufgebahrt und Giovanni Giacometti das Bild des toten Freundes gemalt, das wir in St. Moritz im Museum sehen werden. Mithilfe von Förderern restaurierte Gioconda die Kirche und machte sie zu einem Kulturort, wo sie jeden Sommer Ausstellungen, Konzerte, Schülerprojekte bis hin zu Modenschauen veranstaltet. Der Bezug zu Segantini ist weit gefasst.
Gerade führt Gioconda Besucher durch die aktuelle Ausstellung, die dem Symbolismus in Segantinis Werk gewidmet ist. Sie macht das mit Reproduktionen und Texttafeln, am meisten aber liebt sie das Gespräch mit den Menschen, dann bringt sie die familiäre Überlieferung ein und ihre Sicht auf das Werk des Großvaters. Sie ärgert sich über den oft benutzten Begriff des Alpenmalers. „Er malte das Gebirge nicht so, wie er es sah. Er griff das auf, was in seine Vision passte.“
Ihr Ehemann starb 2012, seither kreisen Giocondas Aktivitäten noch intensiver um ihren Großvater. Dazu gehören Ideen wie der Duft „Luce di Segantini“, den sie mit der Parfümeurin Beate Nagel kreierte. Die Anregung dafür gab ihr der Maler mit seiner innigen Beschreibung der Bergaromen, natürlich musste der Duft dem Licht (luce) gewidmet sein. Als ich Gioconda in Hof besuchte, hatte sie gerade ihr zweites Buch im Eigenverlag herausgebracht. Im ersten versammelte sie Schriften und Briefe des Malers und übersetzte sie neu. Für sie kein Problem, denn Italienisch ist ihre erste Sprache.
Der zweite Band, „Segantini. Kunst und Liebe besiegen die Zeit“, ist eine 330-Seiten-Biografie: eine charaktervolle, unorthodoxe Darstellung, in der Gioconda den Lebensumständen des Großvaters nachspürt und seine Gemälde in sehr persönlicher Weise interpretiert. Sie bringt sich selbst ein, indem sie immer wieder berichtet, was ihr Gottardo und Bianca erzählten – ein wichtiges Wissen, das bislang nirgendwo festgehalten war.
Viele Briefe und Dokumente, aus denen sie zitiert, sind in ihrem Besitz und waren noch nie veröffentlicht. Bei der Erbteilung mit ihrem Bruder Pietro, der das Chalet Kuoni erhielt, gelangte der größte Teil des schriftlichen Nachlasses an Gioconda: rund 5500 Schriftstücke von den 1870er-Jahren bis zum Jahr 1974, als ihr Vater Gottardo starb, an einem sicheren Ort in Metallschränken und säurefreien Schutzhüllen verwahrt.
Abends erzählt Giovanni Segantinis Enkelin von der Arbeit an der Biografie. „Mich hat es fasziniert, wie ich ihm beim Schreiben und auch beim Lesen seiner Texte über die Schulter schauen konnte.“ Das Archiv liegt ihr besonders am Herzen. Und sie hat auch einiges dafür investiert: Der Kunsthistoriker Daniel Kletke, der schon den Nachlass von Rainer Werner Fassbinder wissenschaftlich aufbereitete, hat die Hinterlassenschaft der Segantinis bislang zu zwei Dritteln geordnet, inhaltlich erfasst, akribisch betitelt sowie in eine große Datenbank aufgenommen und nach Stichworten miteinander vernetzt.
Künftige Forscher werden hier eine Fülle neuer Erkenntnisse finden, etwa in den weitgehend erhaltenen Abrechnungen mit den Galeristen Grubicy, in den Schriftwechseln mit Förderern, Sammlern und Künstlerfreunden, aber auch in den Dokumenten des in seinem kulturellen Wirken noch weitgehend verkannten Gottardo. „Ich möchte das Archiv öffentlich machen und der Forschung zur Verfügung stellen“, erklärt Gioconda. „Mein größter Wunsch ist eine digitale Vernetzung mit anderen Beständen, etwa dem reichhaltigen Grubicy-Archiv in Rovereto.“
Am nächsten Morgen scheint die Sonne, kräftige Wolkenheere stampfen über den Himmel. Segantini-Wetter. Im Chalet Kuoni, dem Familiensitz seit 1894, empfängt mich Ragnhild Segantini, gebürtige Norwegerin und Witwe von Giocondas Bruder Pietro. Sie ist eine imposante, fast majestätische Erscheinung: groß, schlank, von nordischer Schönheit, barfuß und im langen Sommerkleid führt sie durch das Haus. „Ich habe nur sehr vorsichtig restauriert und möglichst alles so gelassen, wie es war“, betont die Hausherrin im Esszimmer, wo sich vieles erhalten hat, was auf den alten Fotos zu sehen ist.
Giovanni Segantini, der als Vollwaise in bitterer Armut aufwuchs, gelangte als angehender Maler in künstlerische und bildungsbürgerliche Kreise Mailands. Einer seiner besten Freunde wurde der Möbelgestalter Carlo Bugatti – und dessen Schwester Bice die große Liebe seines Lebens. Er bekam vier Kinder mit ihr, konnte sie aber wegen seiner Staatenlosigkeit nie heiraten. Bugatti, dessen Söhne Ettore und Rembrandt als Rennwagenkonstrukteur und als Tierbildhauer berühmt wurden, schenkte seiner Schwester und Giovanni mehrfach Möbel in seinem extravagant-exotischen Stil, auch Kunstobjekte wie japanische Samurairüstungen, die bis heute im Haus hängen.
Segantini legte trotz seiner notorischen Geldnot immer Wert auf gute Bildung seiner Kinder (samt Hauslehrer), den Aufbau einer Bibliothek, einen Lebensstil mit edlen Kunstobjekten. Majolikateller der Renaissance, Rokoko-Silber, Muranogläser mit schimmernder Lüstrierung, gute Möbel, Gemälde von Zeitgenossen wie „Pan und Olympia“ im Salon: Die private Sammlung und damit auch der Geschmack und Lebensraum Segantinis sind zu großen Teilen erhalten. Ein kulturhistorischer Schatz, den es zu bewahren gilt.
Das Haus öffnet Ragnhild Segantini nur zu bestimmten Anlässen, aber das angrenzende Atelier ist regelmäßig zugänglich. Es ist das Relikt eines Riesenprojekts für die Pariser Weltausstellung von 1900. Auf mehr als 4000 Quadratmetern wollte Segantini mit Künstlerkollegen in einem Panorama den Engadiner Bergen zu Weltruhm verhelfen. Das hölzerne Modell der Rotunde, die er dafür entwarf, wurde dann zur Bibliothek und zum Arbeitsraum hinter dem Chalet Kuoni. Hier sind viele Erinnerungsstücke aus der Familiengeschichte zu besichtigen, auch Gemälde Gottardos, die mittlerweile sechsstellige Preise erzielen. Nächstes Jahr soll eine Ausstellung an Giovannis Sohn Mario erinnern, auch er ein sehr begabter Künstler, der schon früh starb.
Am Nachmittag geht es nach St. Moritz ins Segantini Museum. Es wurde 1908 als Reminiszenz an das Projekt des Pariser Rundbaus errichtet. Unter großen Anstrengungen eines Bürgerkomitees und anderer Stifter konnte man Alberto Grubicys Bilderbestand erwerben, darunter zwei der drei Monumentalbilder, die Segantini nach dem Scheitern des Panoramas gemalt hatte. Auf der Weltausstellung wurde das „Alpen-Triptychon“, das in den Engadiner und Bergeller Bergen einen überzeitlichen Schöpfungszyklus vom „Werden“, „Sein“ und „Vergehen“ ausbreitet, ein enormer postumer Erfolg. Nachdem auch der Ankauf des fehlenden Mittelbilds gelang, wurde das Museum vollends zu einer Art Weihestätte. Doch darum geht es längst nicht mehr, sondern um einen zeitgemäßen Blick auf das Werk. Mit 31 Gemälden und 26 Zeichnungen ist es hier so vielfältig wie nirgendwo sonst zu erleben.
Segantini begann relativ konventionell mit realistischen, oft düster getönten Genreszenen und Stillleben. In der Brianza nördlich von Mailand, wohin der junge Maler mit seiner Frau 1880 zog, entdeckte er das ländliche Leben als Thema und begann, mit ungewöhnlichen Perspektiven und Lichtstimmungen Aufsehen zu erregen. Der entscheidende Stilwandel seit 1886 in den Graubündner Alpen ließ ihn nur noch reine, kräftige Farbtöne benutzen, die er in dünnen, dichten Strichen nebeneinanderlegte, dazwischen Pinselhiebe im Komplementärkolorit oder in Weiß.
Was Georges Seurat mit seinem Pointillismus begann, entwickelte Segantini entscheidend weiter. Statt der isolierten Punkte schuf er flimmernde Farbgewebe, die in ihrer Kleinteiligkeit funkeln und strahlen. Aus der Nahsicht sind sie völlig abstrakt, je weiter man zurücktritt, desto mehr glühen sie zu den Naturvisionen auf, die Segantini nur inmitten des strahlenden Hochgebirges umsetzen konnte. „Jener geheimnisvolle Divisionismus der Farben, den sie in meinen Werken sehen, ist bloß die natürliche Erforschung des Lichtes“, schrieb er 1898 an den Schriftsteller Domenico Tumiati.
Nach dem Umzug ins Oberengadin werden die Landschaften zum Bedeutungsträger von Gefühlszuständen und Themen wie Liebe, Trauer, Eitelkeit oder den Lebensstadien des Menschen. Die Natur bleibt die oberste, alles bestimmende Instanz. Es ist die Blütezeit des Symbolismus, und Segantini wird einer seiner herausragenden Vertreter.
Tritt man aus dem Museum, dann blickt man über den St. Moritzersee hinauf zum Schafberg, wo Segantini Ende September 1899 „Die Natur (Sein)“, das Mittelbild des „Alpen-Triptychons“, vollenden wollte. Bis die akute Blinddarmentzündung auftrat, die ihn transportunfähig machte, der befreundete Arzt Oscar Bernhard in der eiskalten Hütte nicht operieren konnte und der Künstler schließlich nach tagelanger Agonie starb. „Ich möchte meine Berge sehen“, waren seine letzten Worte.
Man kann zu der Hütte auf dem Schafberg wandern und den Blick auf die Seenplatte des Engadins erleben, so wie ihn Segantini in der „Natur“ gemalt hat. Stattdessen spaziere ich mit Gioconda in Maloja den Sentiero Segantini entlang, ein Rundgang zu allen Stellen, die für den Künstler von Bedeutung waren. Auf manchen Tafeln sind die Werke abgebildet, die hier entstanden, und man sieht, wie Segantini etwa im Triptychonsteil „Der Tod (Vergehen)“ reale Topografien wie den Piz Duan, das Gletscherhörnli und den Piz Lunghin aufgreift, daraus am Ende aber eine freie Komposition entwickelt.
Eine Station des Sentiero ist das Hotel Maloja Palace, bei seiner Eröffnung 1884 das luxuriöseste Hotel der Schweiz, mit dem der Belgier Camille de Renesse das Dorf zum Monte Carlo der Alpen machen wollte. Das wurde dann St. Moritz, nachdem Renesse wenige Monate nach der Einweihung pleiteging. Unter seinen Nachfolgern erlebte das Hotel trotzdem eine Blütezeit mit internationaler Klientel, bis 1934 lief der Betrieb. Auch Segantini verkehrte hier.
Ein anderes Relikt des wagemutigen Belgiers ist der Turm des Belvedere-Schlosses, das Renesse für sich errichten ließ. Segantini wollte es 1898 übernehmen und hier mit seiner Familie residieren. Das Schloss existiert nicht mehr, aber vom Turm hat man einen grandiosen Blick ins Bergell, dem tief eingeschnittenen, italienisch geprägten Zipfel der Schweiz, der nach Chiavenna und zum Comer See führt.
Am nächsten Tag fahren wir die abenteuerlichen Spitzkehren des Malojapasses hinab, denn dass Bergell hat ebenfalls mit Segantini zu tun. Ins zauberhafte Dorf Soglio flüchtete er mit seiner Familie vor den Wintern des Oberengadins. Und in Stampa lässt sich das Atelier des Malerfreunds Giovanni Giacometti besichtigen. Auch sein berühmt gewordener Sohn Alberto kam immer wieder aus Paris zum Arbeiten hierher. Der ehemalige Stall ist ein magischer Ort der Moderne, in dem Vater wie Sohn ihre Spuren hinterlassen haben, bis hin zu den Brandspuren von Albertos ausgedrückten Zigaretten.
Auf dem Rückweg von dieser kunsthistorischen Fahrt ist auch der karge, felsige Julierpass in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Eine Segantini-Landschaft, denke ich unwillkürlich. Die Bergreise und die Bilder haben ihre Wirkung nicht verfehlt.