Aus ihrer rechtsrheinischen Atelierfabrik lachten sie der Kunstwelt ins Gesicht: Die Gruppe Mülheimer Freiheit schuf in den frühen Achtzigerjahren ein ausuferndes Werk im Geist von Dada, Punk und Karneval, das bis heute jeder Festlegung trotzt
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14.03.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 155
Genüsslich liest Alfred Biolek die Verrisse vor. „Sie geben nur privateste Lebensäußerungen von sich – im Unterschied zu Kunstäußerungen.“ Der Moderator lächelt. Es kommt noch besser. „Es ist eine Weltsicht von Drop-outs, die, mit einem Schuss Selbstmitleid auf dem Kleinkocher autistischer Lebensphilosophie warmgehalten, ihre turbulente Innenwelt dem Betrachter vor die Augen knallen.“ Das Publikum johlt, Applaus brandet auf, die jungen Männer auf der Bühne feixen. „Genau!“, ruft einer von ihnen. „Der Bongard ist der beste Kritiker, den man sich wünschen kann“, kommentiert ein anderer ironisch und grinst.
In diesem Spiel mit der Ablehnung lag viel Koketterie. Denn die fünf Typen, die sich auf der Bühne von „Bio’s Bahnhof“ anhörten, wie schlecht ihre sogenannte Kunst sei, befanden sich auf der Erfolgsspur. Der Auftritt in der populären Fernsehsendung im Januar 1982 machte dies überdeutlich: Wann bekam die bildende Kunst sonst solche Aufmerksamkeit? Zuvor hatte die Spaß-Punkband Wirtschaftswunder ein Tanzlied zum Besten gegeben, während ein riesiges Bühnenbild mit primitivistischen Fratzen vor rosa Grund hochgezogen wurde. „In nur 20 Minuten“ hätten sie es gemalt, prahlte Walter Dahn, der mit Sonnenbrille und Zigarre neben Biolek saß. Der Moderator versäumte nicht, auf die nächsten Ausstellungen der Gruppe hinzuweisen, was im Folgemonat im Essener Museum Folkwang zu einem enormen Zuschauerandrang führen sollte. Auch die Kritiker waren den jungen Malern der Gruppe Mülheimer Freiheit nicht so schlecht gesonnen, wie hier um des Spektakels willen suggeriert wurde. Der Spiegel hatte schon nach ihrer ersten Galerieausstellung von „einer neuen Kunst“ geschwärmt – ein Ritterschlag.
Alles begann auf der Kölner Domplatte. Hier begegneten sich Ende der 1970er-Jahre Walter Dahn und Jiří Georg Dokoupil. Die Künstler, beide Mitte zwanzig, kamen bei einer Performance ins Gespräch und freundeten sich an. Dokoupil war 1968 mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland emigriert, hatte zunächst an der Kölner Werkschule und dann ein Jahr in New York studiert. Zurück in Köln wollte er „alles ändern“ und fand in Dahn, der schon mit 17 Jahren bei Joseph Beuys in Düsseldorf studiert und seine Meisterausstellung hinter sich hatte, einen kongenialen Partner. Sie diskutierten abends in der Kneipe über neue Ideen, drehten kleine Filme und schufen von den Fanzines der Punkmusikszene inspirierte Collagen.
Gemeinsam mit zwei Freunden, dem Autodidakten Peter Bömmels und dem ein paar Jahre älteren Maler Hans Peter Adamski, realisierten sie 1980 ihre erste große Ausstellung in der Kölner Hahnentorburg. In dem mittelalterlichen Baudenkmal residierte der Bundesverband bildender Künstler und dessen Umfeld war, wie Peter Bömmels sich erinnert, „für Avantgarde-bewusste Künstler vermintes Gelände, der Ausbund von uncool“. Für die vier also besonders reizvoll. Sämtliche Räume einschließlich des Treppenhauses wurden zum künstlerischen Experimentierfeld: Bömmels zeigte Installationen aus Knetgummifiguren, Adamski riesige Papierrisse, Dahn und Dokoupil überzogen alles mit Wandmalereien, und auf dem Fußboden wurden Zeichnungen verstreut, auf denen die Zuschauer herumtrampelten. „Wir haben überlegt: Was ist peinlich? Was ist das Peinlichste? Und das haben wir dann gemacht“, erzählt Bömmels, der später viele Jahre an der Kunsthochschule in Dresden lehrte und seit Kurzem emeritiert ist.
Wenn der 79-jährige Paul Maenz sich heute an die Ausstellung „Auch wenn das Perlhuhn leise weint“ erinnert, gerät er noch immer ins Schwärmen. „Es war ein Paukenschlag, wie ich ihn selten erlebt habe.“ Der frühere Galerist, der die goldenen Jahre der Kölner Kunstszene in den Achtzigerjahren entscheidend prägte, hatte damals vor allem Konzeptkünstler wie Hanne Darboven und Hans Haacke unter Vertrag. Auch für die italienische Arte povera und die Transavanguardia machte er sich stark. Aber das, was sich da in der Hahnentorburg abspielte, hatte er noch nicht gesehen. „Ich fragte die Jungs: Wollt ihr bei mir ausstellen?“, erzählt er. „Sie zierten sich erst – die Galerie sei ihnen zu etabliert. Aber sie waren natürlich nicht naiv und erkannten ihre Chance.“ Unter der Bedingung, dass sie weitere Freunde mitbringen dürften, willigten sie ein, und so waren im November 1980 in der Galerie Paul Maenz nicht nur Dahn, Dokoupil, Bömmels und Adamski zu sehen, sondern auch ihre Atelierkollegen Gerhard Naschberger und Gerard Kever sowie die ebenfalls weitgehend unbekannten Albert Oehlen, Werner Büttner und Georg Herold.
Die Resonanz auf die Schau „Mülheimer Freiheit & Interessante Bilder aus Deutschland“ übertraf alle Erwartungen. Diese neue rotzige Malerei, das vermeintlich Dilettantische, in kürzester Zeit an die Wand oder auf die Leinwand Geworfene, eine figurative Kunst voller seltsamer Fahnenträger, bizarrer Verrenkungen und im Strahl kotzender Köpfe traf einen Nerv. Der programmatisch wirkende Titel „Mülheimer Freiheit“ war schlicht der Name einer Straße. In dieser nutzten sechs der ausstellenden Künstler eine Fabriketage als Atelier.
Es ist auch der geschickten Vermarktung durch Paul Maenz zu verdanken, dass aus dieser Ateliergemeinschaft nun eine Künstlergruppe wurde, die bald medial herumgereicht und zu Ausstellungen eingeladen wurde. Zugleich war die ehemalige Fabrik in der „Getto-Gegend“ Köln-Mülheim tatsächlich ein Ort intensiver künstlerischer Gruppenarbeit – bis hin zur Aufhebung individueller Grenzen. „Es gab ein offenes System in der Halle. Man konnte hingehen und in der Arbeit des anderen etwas ändern. Das war manchmal eine brutale Angelegenheit, aber das Ganze hatte was von einem antiautoritären Kinderladen“, erzählt Jiří Georg Dokoupil, der mit Walter Dahn die künstlerische Keimzelle der Gruppe bildete. Im Bund mit dem früheren Beuys-Schüler Dahn erhob er das Verschwinden des Künstlersubjekts zum Programm – ganz im Geist der heraufziehenden Postmoderne, die das hierarchische Denken und die Herrschaft des Ich mit Begriffen wie Vielheit, nomadischem Subjekt und rhizomatischem Denken zu dekonstruieren trachtete.
Die Produktivität der gesamten Gruppe war enorm – und garantierte auch den wirtschaftlichen Erfolg. „Die Stückzahl machte es“, erzählt Paul Maenz lässig. „Sie haben produziert, als gäbe es kein Morgen.“ Doch was so schnell und unbekümmert, so rotzfrech und grotesk daherkam, gern versehen mit absurden Bildtiteln wie „Zwei Häuser wohnen, ach, in meiner Brust“ oder „Gott zeig mir Deine Eier“, war viel mehr künstlerische Entscheidung, als herausposaunt wurde. „Ich war ja durch die Konzeptkunst geprägt“, erklärt Dokoupil. Dagegen setzten sie ihr eigenes Konzept, und das hieß Malerei. „Man konnte damals in der Kunst alles machen – nur nicht malen“, so der heute 64-Jährige.
Dieser Geist liegt auch der gemeinsamen Arbeit von Dahn und Dokoupil zugrunde. Zu zweit schufen sie in nur wenigen Jahren mehrere Hundert Bilder, die ein eigenes Werk innerhalb der Mülheimer Freiheit darstellen. Einige davon, das Konvolut der „Ricki-Bilder“, waren Teil einer großen Schenkung von Paul Maenz an den Hamburger Bahnhof in Berlin im vergangenen Jahr. Beim Beim Malen im Duo ging es Dahn und Dokoupil darum, die individuelle Spur zu tilgen. „Es gibt viele gemeinsame Werke von Künstlern im 20. Jahrhundert. Man denke etwa an Warhol und Basquiat. Aber man kann immer den einzelnen Beitrag identifizieren. Wir hingegen hatten das Motto: 1 + 1 = 3. Wir wollten eine dritte Person schaffen“, erläutert Walter Dahn das Schaffen mit dem Künstlerfreund.
Die Hinwendung zur Malerei war ein Befreiungsschlag. „Die wollten ihre Väter loswerden, zum Beispiel den Übervater Beuys“, betont Peter Bömmels. Oder den politischen Minimalismus eines Hans Haacke, bei dem Dokoupil studiert hatte. Bei Bömmels selbst, dem Autodidakten, spielte dieser Aufstand gegen die dominante Kunst der Zeit hingegen eine untergeordnete Rolle. Seine Einflüsse lagen außerhalb der bildenden Kunst, etwa in der britischen Punk- und Popmusik, für die er neue journalistische Darstellungsformen erfand – er gehörte 1980 zu den Gründern der Musikzeitschrift Spex. Dass aus dem Soziologen ein Künstler wurde, verdankt sich der Arbeit im Kinderladen, wo er, so Bömmels, „sein Talent fürs Geschichtenerzählen entdeckte. Meine Professoren waren drei- bis fünfjährige Kinder.“
Erst über diesen Umweg kam Bömmels zur Zeichnung und zur Malerei und legte mit der Mülheimer Freiheit den Grundstein für ein erstaunliches Œuvre. Seine surreale, fein gezeichnete Figurenwelt scheint dunklen Träumen entstiegen und hat zugleich oft eine fantasievolle Leichtigkeit, die sie mit der Art brut und den Kinderzeichnungen seiner frühen Berufsjahre verbindet. „Ein Kritiker hat uns mal als ›hochgemute Nichtskönner‹ bezeichnet. Aber er hat nicht bemerkt: Nichtskönnen ist etwas unglaublich Schweres. Man muss das wenige, was man kann, wieder ablegen. Das Können erwächst erst aus dem Nichtskönnen.“
Die Kunst der Mülheimer-Freiheit-Gruppe entstand nicht im luftleeren Raum, sondern war Teil einer Kunstbewegung in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren, die bald als „Neue Wilde“ zusammengefasst wurde. „Es gab drei Klimazonen der wilden Malerei: Berlin, Hamburg und Köln“, erzählt Paul Maenz. In Berlin hatten Maler 1977 die Kreuzberger Galerie am Moritzplatz gegründet und sich so einen künstlerischen Mikrokosmos geschaffen. In der neoexpressionistischen Kunst von Rainer Fetting, Helmut Middendorf oder Salomé spielte die schwule Subkultur eine ebenso prägende Rolle wie die existenzielle Härte der Inselstadt Westberlin.
In Hamburg hingegen, so betont auch Paul Maenz, dominierte eine mitunter zynische Form der Gesellschaftskritik und die Dekonstruktion des politischen Erbes der 68er-Bewegung. Albert Oehlen und Werner Büttner, die an der ersten Galerieausstellung der Mülheimer Freiheit teilnahmen und ebenso wie Martin Kippenberger mit den Kölnern im engen und rivalisierenden Austausch standen, entwickelten in ihren „Bad Paintings“ einen zwar humorvollen, aber auch harten und oft zynischen Ton. So bleibt das Lachen über den bissigen Humor von Oehlens „Selbstporträt mit verschissener Unterhose und blauer Mauritius“ dem Betrachter eher im Halse stecken, während das Teufelchen auf Walter Dahns Gruppenporträt „Die Geburt der Mülheimer Freiheit“ von 1982 mehr an Karneval erinnert und auf eine sehr leichte Weise selbstironisch ist. „Die Kölner Maler nahmen sich nicht so ernst“, hebt auch Paul Maenz hervor. „Damit passten sie in das typisch kölsche Leben-und-leben-Lassen.“
Im Jahr 1982, dem ihres Auftritts bei „Bio’s Bahnhof“, feierten die Maler der Mülheimer Freiheit einen Erfolg nach dem anderen. In der Ausstellung „10 junge Künstler aus Deutschland“ im Essener Museum Folkwang war die gesamte Gruppe vertreten, kurz danach war sie in Wolfsburg, Basel, Bologna, Rotterdam und Berlin zu sehen. Paul Maenz hatte drei von ihnen, Walter Dahn, Jiří Georg Dokoupil und Peter Bömmels, unter Vertrag genommen und vermittelte sie weiter an die Topadressen der New Yorker Galerienszene, an Leo Castelli, Ileana Sonnabend und Marian Goodman. Dahn und Dokoupil nahmen 1982 an der Documenta 7 teil, Dokoupil war außerdem auf der Biennale in Venedig vertreten.
Doch mit dem Erfolg zeigten sich schon bald erste Auflösungserscheinungen der Gruppe. Walter Dahn zog schon im Februar aus dem Atelier in Mülheim aus, um sich in Ruhe auf die Documenta vorzubereiten. Nur wenige Jahre nach der Mülheimer Freiheit löste er sich ganz von der Malerei und widmet sich heute unter anderem der Fotokunst, dem „Malen mit Entwickler und Fixierer“, wie er es nennt. Jiří Georg Dokoupil bezog schon bald ein zweites Studio in New York und wurde immer mehr zum Weltbürger, der heute zwischen Spanien, New York, Berlin und Prag pendelt. Gerard Kever wandte sich den Lehren Bhagwans zu. Gerhard Naschberger, der vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, zog sich in den 1990er-Jahren komplett aus der Kunstszene zurück. Peter Bömmels hingegen entwickelte neben seiner Arbeit als Herausgeber der Spex sein künstlerisches Œuvre kontinuierlich weiter, ebenso wie Hans Peter Adamski.
Über den kunsthistorischen Bestand der Werke aus der Ära der Mülheimer Freiheit scheint sich die Nachwelt noch nicht einig. Den – vor allem posthumen – weltweiten Ruhm eines Martin Kippenberger hat bislang keiner der sechs erfahren. Es gab auch noch keine große Retrospektive, die sich allein dem Werk der Mülheimer Freiheit widmete. Sie taucht im Ausstellungsbetrieb nur als Teil der „Neuen Wilden“ auf, wie 2018 im Ludwig Forum Aachen, das das Thema neu beleuchtete und einen Katalog mit zahlreichen Aufsätzen herausgebracht hat. Im Jahr 2019 wurde Walter Dahn in einer großen Einzelausstellung in der Kestnergesellschaft in Hannover gewürdigt. Auch wenn Dahn heute diese „laute“ Phase seines Schaffens eher kritisch sieht, waren dort einige Werke aus dem Umfeld der Mülheimer Freiheit zu sehen.
Die Gruppe war mit ihrer Kunst in den 1980er-Jahren sehr schnell kommerziell erfolgreich. „Zu diesem Rausch gehört die Ernüchterung, und das gilt für die Ästhetik genauso wie für den Markt“, bilanziert Paul Maenz, der seine Kölner Galerie 1990 schloss und nach Berlin ging. „Aber die Energie ihrer Kunst ist nicht verloren.“ Wie verschieden die einzelnen Gruppenmitglieder schon damals waren, zeigte sich bereits bei ihrem Auftritt bei „Bio’s Bahnhof“. Während Walter Dahn mit Sonnenbrille, Zigarre und Jeansweste den Rabauken gab, scherzte Gerhard Naschberger in Anzug mit Tuch und Wiener Schmäh mit dem Moderator. Georg Dokoupil gab den schwarz gekleideten Existenzialisten und sprach wenige, wohlüberlegte Worte, während sich Peter Bömmels und Hans Peter Adamski im Hintergrund hielten.
Eine fröhliche Stimmung lag über dem Ganzen. Dies waren Leute, die taten, was sie wollten. Die das Momentum auf ihrer Seite hatten. Die begeistert waren von dem, was möglich war – einschließlich des Scheiterns. „Es war immer klar: Jeder geht seinen eigenen Weg“, sagt Peter Bömmels. „Es gab ja kein Manifest. Dieses hätte geheißen: möglichst peinlich sein. Oder möglichst pedantisch. Immer extrem sein. Darum ging es: sich nicht fassen lassen.“ Das gilt bis heute.