Genter Altar

Das Lamm Gottes ist umgezogen

In St. Bavo in Gent hat der berühmte Altar der Brüder van Eyck endlich einen angemessenen Ort erhalten. Das neue Besucherzentrum der Kathedrale bringt jetzt auch Virtual Reality zum Einsatz

Von Sebastian Preuss
03.04.2021

Kein Maler zuvor hatte die irdische Welt und das himmlische Geschehen so lebensecht gemalt. Die Wiesen sind grün und saftig, wie die Natur sie geschaffen hat. Noch die kleinsten Zweige und Blüten brachte Jan van Eyck akribisch und mit botanischer Kennerschaft zur Wirkung. In raffiniertem Illusionismus entwickelte er Architekturen; Säulen glänzen wie polierter Marmor, Schmuckfußböden breiten sich in feinen Linien aus, während ein Fenster den Blick in einer minutiös gezeigte Stadt führt. Ein Thema für sich ist die sinnliche Wiedergabe der Gesichter: diskrete Durchblutung der Wangen, Genauigkeit bis in die Runzeln und Äderchen, die Frisuren Haar für Haar in einer Feinheit, die jeden in Bann schlägt. Ebenso spektakulär ist die detailgetreue Darstellung der Gewänder.  Die damals unermesslich teuren Brokatmäntel wirken so samtig, das Gewebe der Goldpartien so metallisch, dass man mit den Händen danach greifen will. Und die juwelenbesetzte Kronen von Maria lässt die Perlen und Edelsteine in unergründlicher Tiefe aufleuchten.

In Gent spielt Jan van Eyck, dessen Ruhm schon zu Lebenzeiten bis nach Italien reichte, seit jeher eine herausragende Rolle. Denn hier schuf er gemeinsam mit seinem Bruder Hubert eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte: den Genter Altar in der St.-Bavo-Kathedrale. Für die älteste der drei gotischen Stadtkirchen gab das wohlhabende Ehepaar Jodocus Vijd und Elisabeth Borluut um 1420 den gewaltigen Altar bei den Brüdern van Eyck in Auftrag. Vieles dreht sich in der Stadt um diesen Schatz. Menschen aus aller Welt reisen eigens an, um das Riesenwerk mit seinen 24 Bildtafeln und Einzelszenen zu sehen, und für die Genter ist es ein zentraler Teil ihrer kulturellen Identität.

Genter Altar Mittelkapelle St. Bavo Jan van Eyck
Der Genter Altar in der Mittelkapelle des Chorumgangs von St. Bavo. © www.artinflanders.be, Foto: Cedric Verhelst

Flandern ist überhaupt stolz auf seine Maler des 15. bis 17. Jahrhunderts. Darum hat man in der Programm-Initiative „Flämische Meister“ 2018 Peter Paul Rubens, danach 2019 Pieter Bruegel dem Älteren jeweils ein Kunstjahr gewidmet. Zum Abschluss der Altmeister-Trias drehte sich 2020 in Gent alles um Jan van Eyck, wobei auch in Brügge und anderswo Ausstellungen zum Thema zu sehen waren. Das Festjahr begann mit der sensationell bestückten Schau „Van Eyck. Eine optische Revolution“, die wegen der Coronakrise leider vorzeitig geschlossen werden musste. Aber das reichhaltige Programm lief, so gut es in der Pandemie eben ging, weiter und wurde bis Juni 2021 verlängert.

Als Höhepunkt des verlängerten Van-Eyck-Festivals wurde jetzt in St. Bavo das neue Besucherzentrum eröffnet. Nach fünfjährigen Planungs- und Bauarbeiten zog der Genter Altar aus der beengten und alles andere als optimal beleuchteten Villa-Kapelle am Westende der Kathedrale in die Mittelkapelle des Chorumgangs. In einer großen, sechs Meter hohen Klimavitrine und unter perfekter Lichtregie kommt das Monumentalwerk endlich angemessen zur Geltung. Aber nicht nur das: Um die Besuchermassen so zum Altar zu geleiten, dass sie den Kirchenbetrieb nicht zu sehr stören und zugleich in die Geschichte und die Bedeutung des Kunstwerks einzuführen, richtete man einen eigenen Parcours durch die Osttteile der spätgotischen Kirche ein.

Virtuelle Führung

Der Rundgang beginnt im Nordquerhaus mit Peter Paul Rubens’ gewaltiger „Bekehrung des heiligen Bavo“, dem ehemaligen Hauptaltarbild. „Das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gemacht habe“, schrieb der Maler 1614 darüber. Von dort geht es hinab zum ältesten Teil der Kirche, in die romanische und gotische Krypta, wo Teile des Kathedralschatzes zu sehen sind. Darunter der frühbarocke Silberschrein des heiligen Macharius und das karolingische Livinus-Evangeliar aus dem frühen 9. Jahrhundert. Wer möchte, kann sich beim Rundgang durch die Krypta mit einer Augmented-Reality-Brille in die Geschichte der Kathedrale und ihrer Kunstwerke sowie vor allem das Schicksal des Van-Eyck-Werks vertiefen. In der Architektur der Unterkirche erscheinen dann Imaginationen aus dem mittelalterlichen Gent und viele kunsthistorische Informationen. Die virtuellen Führungen werden in verschiedener Länge für Familien bis zum „Experten“ angeboten.

Genter Altar St. Bavo
In der Krypta von St. Bavo kann die Geschichte der Kathedrale und ihrer Kunstwerke mit einer Augmented-Reality-Brille erkundet werden. © Sint-Baafskathedraal Gent, www.artinflanders.be, Foto: Bas Bogaerts

Zurück im Hochchor, wird die Aufmerksamkeit auf den 18 Meter hohen Hauptalter und ein überbordendes barockes Figurentheater aus Marmor gelenkt, bevor der Weg zu den ebenfalls reich mit Kunstschätzen bestückten Kapellen im Umgang und dem Genter Altar als Höhepunkt führt. Rund 30 Besucher dürfen künftig in der geräumigen Achskapelle den Altar in seiner Monumentalvitrine umrunden. Raffinierte Klimatechnik schottet die empfindlichen Tafeln wie in einem gläsernen Museum vom Kirchenraum ab, der sich im Winter bis auf zwei Grad abkühlen kann. Die neue Halterungskonstruktion des Riesenaltars erlaubt, dass sich morgens die Flügel ferngesteuert öffnen und abends wieder schließen. Zwei magische Momente für die Besucher, denn dadurch wird klar was der Begriff „Wandelaltar“ bedeutet und wie die mittelalterlichen Menschen die Öffnung der inneren Bilder ausschließlich zu Feiertagen erlebte.

Nicht nur die Präsentation ist jetzt bedeutend verbessert, auch die Malerei selbst zeigt sich seit letztem Jahr auf neue Weise. 2012 begann eine grundlegende Restaurierung des Altars. Hinter Glas konnte das Publikum im Genter Museum der Schönen Künste den Spezialisten des Königlichen Instituts für das Kunsterbe (KIK) zuschauen. Die Arbeiten sollten eigentlich fünf Jahre dauern, doch dann entdeckte das Team, dass bis zu 70 Prozent im 16. und 17. Jahrhundert übermalt worden waren. Nach langen Diskussionen entschloss man sich, diese Schichten abzutragen.

Das Ergebnis ist sensationell: Die Malerei hat ihre Leuchtkraft zurückgewonnen, der Stil ist deutlich kontrastreicher und „härter“ als bisher, wie an den Außentafeln zu sehen ist. Zudem kamen überraschende Details zum Vorschein. So hat das Lamm fast „menschliche“ Züge, Wolken sind wieder zu sehen, in der Landschaft der Mitteltafel wurden neue Gebäude entdeckt. Alle Ergebnisse sind bis in hoch aufgelösten Detailbildern auf der Webseite closertovaneyck.kikirpa.be dokumentiert. Noch steht die Restaurierung der oberen Innentafeln aus; sie wird nach derzeitem Stand 2022 beginnen.

Malerei eines neuen Zeitalters

Der Titel der Genter Van-Eyck-Schau griff nicht zu hoch, denn nichts anderes als eine malerische Revolution spielte sich nach 1400 in den burgundischen Niederlanden ab. Die Schauplätze waren Tournai, Gent, Brügge oder ­Brüssel, die epochalen Erneuerer Jan van Eyck, der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, in der zweiten Generation Dieric Bouts, Hugo van der Goes oder Hans Memling. Sie erschlossen sich die Welt in einem naturnahen, zuweilen fast fotografisch präzisen Realismus; die Wirklichkeit hielt Einzug in die Kunst. Die Gesichter von Menschen und Heiligen wurden zu Seelenbildern, Stoffe und Pelze gewannen haptische Präsenz, Landschaften erstrecken sich in unendliche Tiefen. Obgleich in manchem noch der Gotik verhaftet, legten diese Maler den Grund für die neuzeitliche Kunst.

Genter Altar St. Bavo Hubert Jan van Eyck
Der 1432 vollendete Genter Altar von Hubert und Jan van Eyck, in geöffnetem Zustand. @ www.artinflanders.be, Foto: Dominique Provost

Jan van Eyck nutzte als Erster die Technik der Ölmalerei voll aus und erreichte durch dünne, vielfach aufgetragene Lasuren, dass die Farben unter transparentem Schmelz aufleuchten. Mit dem Pinsel baute er komplizierte Innenarchitekturen, die er mit Perspektivverkürzungen als Bühnen für das biblische Geschehen erschloss, so wie es noch keinem Künstler nördlich der Alpen je gelungen war. Und er war fasziniert von luxuriösen Materialien. In seinen Bildern brachte er Gläser zum Strahlen, Juwelen zum Funkeln, Steine zu täuschend echt wirkender Erscheinung.

Herzog Philipp „der Gute“ von Burgund, dessen lange Regentschaft von 1419 bis 1469 fast die gesamte erste Blütezeit der altniederländischen Malerei umfasste, wusste, was er an dem genialen Maler hatte. Er machte ihn zum Hofkünstler, überhäufte ihn mit Lob und Privilegien und schickte ihn auf diplomatische Missionen bis nach Spanien und Portugal.

Hubert van Eyck, das große Rätsel

Über Jan van Eycks Leben gibt es immer noch eine ganze Reihe von Unklarheiten. Er wurde wohl um 1390 geboren, womöglich verweist sein Name auf eine Herkunft aus Maaseik bei Maastricht. Auch wo er ausgebildet wurde, wissen wir nicht. Erstmals taucht er zwischen 1422 und 1424 in Den Haag als Hofmaler des Herzogs Johann von Holland auf. Seit 1425 war er in Diensten Philipps von Burgund, zuerst in Lille, ab 1430 in Brügge, wo er heiratete ein großes Haus bezog und bis zu seinem Tod 1441 lebte. Hier entstanden die signierten und datierten Bildtafeln, von denen aus sich das Werk erschließen lässt.

St. Bavo Kathedrale Gent
Die St.-Bavo-Kathedrale befindet sich im Zentrum von Gent. © Toerisme Vlaanderen

Über das frühe Schaffen von Jan wurde bislang viel spekuliert. Wirklich fassbar wird er erst mit dem 1432 eingeweihten Genter Altar. Hier beginnt das größte Problem: Eine Inschrift auf dem Rahmen der Außenseite nennt als Maler sowohl Hubert van Eyck („niemand wurde gefunden, der größer war als er“) als seinen Bruder Jan („in der Kunst der zweite“). Hubert war in Gent aktenkundig und starb nachweislich 1426, doch als Künstler ist er bislang ein Phantom. Keine Werke neben dem Genter Altar konnten ihm bislang schlüssig zugewiesen werden. Was an dem Riesenwerk in St. Bavo stammt von ihm, was von Jan? War Hubert wirklich das größere Genie und Urheber des Konzepts oder hinterließ er einige Teile, die erst Jan zum großen Ganzen vollendete? Generationen von Kunsthistorikern haben sich daran abgearbeitet und doch nie eine überzeugende Lösung gefunden.

Die Faszination des „Lamm Gottes“ mit den Heerscharen der Gläubigen und Heiligen, den vielen identifizierbaren Pflanzen im Paradiesgarten, den liebreizenden musizierenden Engeln oder der erotischen Nacktheit Adams und Evas wird von der vertrackten Hubert-oder-Jan-Frage nicht beeinträchtigt. Nach der Restaurierung erscheinen die Farbmodulierungen erscheinen jetzt noch strahlender und kristalliner. Und in der neuen Präsentation in St. Bavo ist das jetzt alles wunderbar zu erleben. Dem historischen Moment, als die Welt zur Kunst wurde, kommen wir so nahe wie nie zuvor.

Zur Startseite