Mary Warburg

Die Unsichtbare

Mary Warburg war die starke Frau neben dem Kunstwissenschaftler Aby Warburg, der zu Weltruhm gelangte. Wie viele Künstlerinnen opferte sie ihre Karriere der Familie und sozialen Verpflichtungen. Jetzt ist endlich ihr Werk zu entdecken

Von Sebastian Preuss
05.04.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 183

Welch ein Luxus, acht Tage einfach nur malen! Was für eine Künstlerin eigentlich normal ist, war für Mary Hertz das Paradies auf Erden, lokalisiert in der Lüneburger Heide. „Ich habe eine so ideale Zeit erlebt, wie’s überhaupt eigentlich gar nicht gibt“, vertraut sie im Oktober 1890 nach einer Kunstreise mit dem Lehrer Friedrich Schwinge ihrem Tagebuch an. „Welch ein holiday es für mich war, ist gar nicht zu beschreiben; einmal Tag für Tag von früh bis spät nichts zu tun brauchen als Malen und wieder Malen.“ An finanzieller Not lag es nicht. Mary Hertz stammte aus einer wohlhabenden, in Hamburg höchst angesehenen Reeder- und Kaufmannsfamilie. Darin lag eher das Problem. Für junge Damen war anderes vorgesehen, die Künstlerinnenexistenz allenfalls als Liebhaberei gestattet, im Umkreis der „Dilettanten“, wie es damals hieß. Kunstakademien akzeptierten ohnehin keine Frauen.

Mary Hertz fügte sich den sozialen und familiären Schranken, auch wenn sie diese immer wieder als „Gitter“ empfand. Sie war keine Rebellin, kümmerte sich, wie es von ihr verlangt wurde, um die kranke Mutter und die Haushaltsführung. Abwechslung boten nur die Reisen mit dem Vater durch Deutschland, in die Alpen, nach Italien oder England. Als sie 1897 heiratete, hatte sie noch weniger Zeit für sich, wurde nun fast völlig von den Belangen ihres Mannes, der Erziehung dreier Kinder und sozialen Pflichten in der Hamburger Gesellschaft aufgesogen.

Pastell und Plastik

Trotz der widrigen Umstände, die sie zeitlebens hemmten, schuf Mary ein beachtliches Œuvre: 150 Pastelle, 15 Skizzenbücher, 60 Plastiken, daneben Buchillustrationen, Grabmäler und humorvolle Zeichnungen für die Familie, insgesamt rund 900 Werke. Auffälligerweise gibt es nur zwei Gemälde; an die Ölmalerei hat sie sich offenbar nicht herangetraut, oder sie wollte ihre begrenzte Zeit dem widmen, was sie beherrschte. Die oberste Instanz war für sie die Natur, die sie in zahlreichen Skizzen festhielt. Das Pastell – eine Technik zwischen den Gattungen, bei der die Farbkreiden mit dem Finger zu malerischer Wirkung verwischt werden – lag ihr besonders, und die besten Blätter offenbaren eine subtile Virtuosität. Daneben zeichnete sie viele Menschen aus der Familie und dem Freundeskreis, wie bei den Landschaften in einem gemäßigten Naturalismus, dem sie bis zu ihrem Tod 1934 treu blieb. Bis zum Ersten Weltkrieg machen sich auch dezente Einflüsse des Impressionismus und ätherische Farbstimmungen des Symbolismus bemerkbar.

Mary Warburg Bergsee
Für Landschaftsbilder arbeitete Mary Warburg meist in Pastell. Diese Darstellung eines Bergsees stammt von 1892. © Andrea Völker, Z 39 / Hamburger Kunsthalle

Daneben widmete sich Mary schon in den 1890er-Jahren Porträtreliefs und figürlichen Plastiken, die sie meist in Bronze gießen ließ. Das bildhauerische Schaffen bildete bereits vor dem Weltkrieg und vor allem danach den Fixpunkt. Lange rang sie um die psychologische Durchdringung der Porträtbüsten, und gerade in der Spätzeit kann sie sich gut behaupten im Kontext der klassisch „gefestigten“ Skulptur der Zwanziger, etwa von Georg Kolbe oder Ernesto de Fiori.

Ein Grund, weshalb Mary als Künstlerin stets im Schatten stand, ja bis heute völlig unbekannt blieb, ist paradoxerweise ihr weltberühmter Ehename. Denn ihr Mann war Aby Warburg, der die Kunstgeschichte mit seinen Forschungen zu den Wanderungen von Motiven und Bildinhalten, zu den geistigen Quellen der Renaissance sowie der neuartigen „ikonologischen“ Deutung von Kunstwerken revolutionierte.

Kult um Aby Warburg

Wie Mary aus reicher Hamburger Familie stammend, wurde Aby einer der bedeutendsten Innovatoren der modernen Geisteswissenschaften. Mit seiner Auswertung von Pressefotos während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Begründer der heute so aktuellen Bildwissenschaft, und sein (unvollendeter) „Mnemosyne“-Atlas fasziniert uns digital geprägte Menschen in der völligen Flexibilität der Fotos und ­Reproduktionen als eine Vorform der elektronischen Bildkultur.

Warburg ist längst eine Kultfigur, und sein Ruhm wächst immer weiter. Wer aber war die Künstlerin an Warburgs Seite? Was hat sie geschaffen, was für ein Mensch war sie? Wie haben die Eheleute – die sich beide, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive, so intensiv mit der Kunst beschäftigten – gegenseitig beeinflusst? Man kann es kaum glauben, dass in der Flut der Schriften über Aby Warburg seine Frau fast nie über die bloße Erwähnung hinaus gewürdigt wird.

Mary Warburg Porträtbüste Tilli Mönckeberg
Mary Warburg porträtierte im Frühjahr 1900 in Florenz Tilli Mönckeberg. © The Warburg Institute Archive, London

Die Geschichte von Frauen in der Kunst ist eine Geschichte der Verhinderung, der verpassten Chancen und der mangelnden Anerkennung. So ging es auch Mary Warburg. Doch endlich erhält sie jetzt die verdiente Aufmerksamkeit. Die Berliner Kunsthistoriker Bärbel Hedinger und Michael Diers haben ihr ein opulentes Buch mit Werkverzeichnis und Essays verschiedener Autoren gewidmet: „Mary Warburg – Porträt einer Künstlerin“, erschienen im Hirmer Verlag. Es ist ein würdiges Denkmal für die Pastellmalerin und Bildhauerin, die hier aus dem Dunkel der Vergessenheit befreit wird. Mit einer Fülle neuer Erkenntnisse – übrigens auch zum Verständnis von Aby Warburg, der nun endlich einmal als Geliebter und Ehemann einer Künstlerin erscheint.

Monumentales Werkverzeichnis

Auch Bärbel Hedinger und Michael Diers kamen bei ihrem Forschungsprojekt über Aby zu Mary Warburg. Diers, der als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und der Berliner Humboldt-Universität lehrte, beschäftigt sich schon seit den Achtzigerjahren mit dem Kulturhistoriker. Im Herbst wird eine von ihm herausgegebene Auswahl von 800 Briefen im Rahmen der großen Warburg-Studienausgabe erscheinen. Bei dieser Arbeit erkannte er irgendwann, dass die weitaus meisten Schreiben an Aby, nämlich mehr als 2600, von der Frau an seiner Seite stammen. „Aber von ihrem Werk hatte ich noch nie ­etwas gesehen außer der Bronzebüste, die sie nach Abys Tod 1929 von ihm schuf. Die Plastik war ja in der Hamburger Kunsthalle aufgestellt, aber da hatte man Mary nicht einmal als Urheberin vermerkt.“

Als Hedinger und Diers erfuhren, dass im Depot der Kunsthalle der größte Teil von Marys künstlerischem Nachlass lagert und sie diesen erstmals sichteten, war ihnen klar, was für ein ungehobener Schatz hier schlummerte. Fünf Jahre arbeitete Hedinger, ehemalige Direktorin des Altonaer Museums, an der Aufarbeitung der Werke. Mithilfe der vielen Briefe konnte sie die meisten von ihnen genau datieren und die dargestellten Landschaften und Menschen identifizieren. Alle erhaltenen Werke, auch diejenigen im Besitz der in England lebenden Nachfahren, sind abgebildet und sorgfältig kommentiert.

Mary Warburg Nymphe Hamburger Kunsthalle Aby Puttenkieker
„Puttenkieker“ taufte Aby Warburg die Bronzevase mit Nymphe, 1896. © Elke Walford / Hamburger Kunsthalle

Diers betont: „Uns war von Beginn an klar, dass wir den Kontext ihres Lebens und Schaffens beleuchten müssen.“ Da ist zuallererst das komplexe Verhältnis zu Aby, aber auch die Hamburger Kunstszene, der Einfluss des Kunsthallendirektors Alfred Lichtwark oder die Taufe ihres jüdischen Groß­vaters im Jahr 1822 – was in der gläubig lutherischen Familie Hertz fast vergessen war und nichts zur Linderung des Entsetzens bei den Hertzens wie bei den streng jüdischen Warburgs beitrug, als die beiden jungen Leute nach langer heimlicher Verbindung heiraten wollten.

Mary Hertz kam 1866, im gleichen Jahr wie Aby Warburg, in Hamburg zur Welt. Seit sie 16 war, nahm sie privaten Malunterricht und zeichnete, wann immer es möglich war. Zum einschneidenden Datum wurde der 3. Dezember 1888. Mit ihrem Vater war sie nach Florenz gereist, und als Begleiter zu den Kunstschätzen hatte ihr Bruder John einen Hamburger Schulfreund vermittelt: den Bankierssohn Aby Warburg, der Kunstgeschichte studierte und gerade für einige Monate für Forschungen in der Stadt weilte. Zwölf Tage begleitete er Vater und Tochter Hertz durch Kirchen und Museen. Von der jungen Künstlerin war er fasziniert. „Frl. Hertz hat mir ihre vorzüglichen Skizzen gezeigt. Ecco“, notiert er, und seiner Mutter schreibt er nach Hamburg: „So einfach, lustig und erstaunlich klug habe ich noch nie eine Zuhörerin gefunden.“ Nach ihrer Abreise zitiert er Goethes „Egmont“: „Mary ist fort. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“

Verliebt in Florenz

Die beiden verliebten sich ineinander und begannen einen intensiven Briefwechsel. Im August 1892 verlobten sie sich diskret. Mary eröffnete Aby die damals zeitgenössische Kunst, ein wichtiger Impuls für seine Bildwissenschaft, die er immer mehr von der Renaissance zur Gegenwart hin öffnen sollte. Er dagegen begeisterte Mary durch seine enorme kunsthistorische Bildung, seinen Wissensdrang, den Sprachwitz und die damals unorthodoxen Thesen zum Verständnis.

Mary sei für Aby so etwas wie die Verkörperung des Weiblichen in der Renaissance gewesen, vermuten Hedinger und Diers. Während der junge Gelehrte mit der attraktiven Künstlerin in den Uffizien über Botticellis „Geburt der Venus“ und „Primavera“ diskutierte, kamen ihm die ersten Ideen zu seiner Dissertation. Darin erklärte er aus antiken Schriftquellen, warum in dieser Phase der Renaissancemalerei die mythologischen Szenen mit so auffällig bewegten Gewändern und erregten Gesten dargestellt waren. Später entwickelte er daraus den viel zitierten Begriff der „Pathosformel“.

Mary Warburg Kiefern am Hang Hamburger Kunsthalle
„Kiefern am Hang“, um 1893, ist eines von Mary Warburgs schönsten Pastellen. © Christoph Irrgang, Z 45 / Hamburger Kunsthalle

Aby bestärkte Mary als Künstlerin und empfahl ihr, dafür nach München und nach Paris zu gehen. Sie konnte sich zu diesem Bruch mit ihren Tochterpflichten nicht durchringen und versuchte, das Beste aus den Möglichkeiten in Hamburg zu machen. Besonders Alfred Lichtwark erkannte ihr Talent und förderte sie immer wieder mit Illustrationsaufträgen oder Ausstellungsmöglichkeiten. Dem ersten Kunsthallendirektor war es wichtig, die Kunstbegeisterung in die Gesellschaft zu tragen, darum lagen ihm auch die sogenannten Dilettanten am Herzen, also vor allem Frauen, denen eine professionelle Künstlerinnenkarriere verwehrt war.

Für Mary wurden diese Jahre zur ertragreichsten Zeit. 1890 stellte sie erstmals ein Porträt in der Galerie Louis Bock & Sohn aus, zahlreiche Gruppenausstellungen folgten. Sie entwickelte ihre Aquarell- und Pastelltechnik weiter und stieg parallel dazu mithilfe des Bildhauers Theodor Richard Thiele in das Modellieren von Plastiken aus Gips und Ton ein. Wo sie konnte, trug sie mit Werken zu karitativen Zwecken bei, etwa im „Hamburger Weihnachtsbuch“, mit dem die Opfer der Cholera-Epidemie von 1892 unterstützt werden sollten.

Engagiert mischte sich Mary in Kunstdiskussionen ein, wenn die hanseatischen Bürger wieder einmal gegen die unakademischen „Modernen“ oder „Secessionisten“ wetterten, die Lichtwark in der Kunsthalle zeigte, etwa Klinger, Liebermann oder Uhde. „Natürlich kann man seinen Schnabel nicht halten und versucht mit seiner entgegen­gesetzten Meinung durchzudringen, was natürlich regelmäßig vorbei gelingt besonders, wenn man eine solche Tüderliese ist wie ich“, schreibt sie 1894 an Aby. Im gleichen Brief offenbart sie auch etwas von ihrem Kunstverständnis: „Übrigens können diese Neuen doch noch lange nicht, was sie wollen. Die Natur macht’s doch noch viel besser.“

Mary Aby Warburg Florenz
Das Ehepaar Warburg 1898 in der ersten Florentiner Wohnung, an der Wand hängen einige Werke von Mary. © The Warburg Institute Archive, London

Die Fernbeziehung zu Aby, der ständig für seine Wissenschaft unterwegs war, gestaltete sich als schwierig und führte im September 1894 sogar zur Entlobung. Doch im Sommer 1897 kamen sie wieder zusammen und setzten gegen den Widerstand beider Familien im Oktober die Heirat durch. Ihr erstes Domizil nahmen sie in Florenz, wo sie eine große Wohnung samt Personal bezogen (Abys üppige Leibrente aus dem Bankhaus Warburg machte es möglich) und viele Kontakte vor allem in der deutschen Kolonie knüpften.

Mary war endlich aus der Hamburger Enge befreit, besonders wertvoll für sie waren die Bekanntschaften mit Arnold Böcklin und mehr noch mit dem Bildhauer Adolf von Hildebrand, dessen klare, an der Renaissance geschulten Formen sie beeinflussten und der ihr wertvolle Ratschläge bei der Arbeit von Reliefs und Büsten gab. Es war die glücklichste Zeit in ihrem Leben. Auch in der Beziehung zu Aby, der in ihr eine kluge Gesprächspartnerin über seine Forschungen gewann und sie in ihrer Kunst bestärkte. Von 1899 bis 1904 kamen Marietta, Max Adolph und Frede zur Welt; sie wurden nun zu Marys häufigsten Modellen.

Im Dienst von Mann und Familie

Von 1902 an war die Familie wieder in Hamburg ansässig, wo Mary fast völlig von den Kindern, der übrigen Familie, sozialen Engagements und der hanseatischen Gesellschaft aufgesogen wurde. Für die Kunst blieb wenig Zeit. Auch der psychisch labile Aby, der als Privatgelehrter zunehmend Anerkennung erlangte, forderte sie sehr. Sie war die erste Ansprechpartnerin für seine neuesten Forschungsergebnisse, zudem gab sie ihm wertvolle Hilfe durch Zeichnungen zur Veranschaulichung seiner Thesen. Aby nahm sie als Künstlerin ernst, doch kritisierte er sie, wenn er meinte, ihr Schaffen gehe zulasten des Haushalts und der Kindererziehung. „Ich muss die alte Mary Hertz erst in mir wiederfinden, die ich nur in ganz verschwommenen Umrissen sehen kann; das, was an die Stelle getreten ist, imponiert mir gar nicht“, beklagt sie 1902 in einem Brief an Aby.

Weiterhin verband die beiden das Interesse an der zeitgenössischen Kunst. Sie verfolgten die neuesten Strömungen nach 1900, und 1913 erwarben sie aus einer Hertz’schen Erbschaft Franz Marcs Gemälde „Stute mit Fohlen“, das in seiner Radikalität und Ausstrahlung allerdings ein Solitär in ihrer eher bescheidenen Sammlung blieb. Merkwürdigerweise hat Mary in ihren eigenen Werken nie auf die Expressionisten oder andere Avantgarde-Ansätze reagiert. Womöglich traute sie sich das nicht zu und blieb in ihrer typischen Selbstbescheidung lieber auf einem Weg, der ihr Sicherheit bot.

Mary Warburg Büste Aby Warburg
Die Büste des 1929 gestorbenen Gatten Aby ist ihr berühmtestes Werk, geschaffen 1930. © Hamburger Kunsthalle

Derweil wuchs das Haus in Eppendorf mit Büchern zu, die Aby mit dem Geld aus der Bank in großem Stil erwarb; 1917 waren es schon 20 000 Bände. Assistenten wurden angestellt und immer mehr Studenten und Wissenschaftler arbeiteten hier – eine zusätzliche Belastung für die ganze Familie. Im November 1918 erlitt Aby einen Nervenzusammenbruch und musste die folgenden sechs Jahre in Kliniken verbringen. Es wurde die schwierigste Zeit für seine Frau, die nun auch noch für die Bibliothek mitverantwortlich war und alle Geschäfte allein führen musste. Täglich schrieb sie an Aby, schickte ihm unermüdlich Fotos, Zeichnungen und wissenschaftliches Material. Gemeinsam mit der befreundeten Künstlerin Anita Rée ging sie zum Aktzeichnen, war aber nicht zufrieden mit sich: „Ich habe eben zu lange nichts getan, und das rächt sich.“

Ein Werk mit Sprengkraft

Als Aby im Sommer 1924 genesen zurückkehrte, stürzte er sich mit großer Energie – und den Dollars seiner Brüder in der New Yorker Bankniederlassung – in den Bau der legendären Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg gleich neben dem Privathaus. Die Kinder waren erwachsen, und für Mary wurde es ruhiger. Die Landschaftspastelle aus diesen Jahren sind eher schwach, umso ausdrucksstärker gelangen ihr dagegen die plastischen Bildnisse. Im Oktober 1929 starb Aby überraschend an einem Herzinfarkt, ein Jahr später widmete sie ihm ihre letzte Porträtbüste, die in der Charakterisierung und der nachdenklichen Zerfurchung des Gesichts ihr Meisterwerk wurde. Ein Jahr bevor Mary 1934 mit 68 Jahren einem Krebsleiden erlag, musste sie noch die von den Nazis erzwungene Schließung der Bibliothek samt Abtransport nach London miterleben.

Die monumentale Monografie von Bärbel Hedinger und Michael Diers führt eindrucksvoll vor, dass Mary Warburg alles andere als eine „Dilettantin“ aus begütertem Haus war. Im Sommer wird das Ernst Barlach Haus in Hamburg rund 50 ihrer Werke ausstellen (nach derzeitiger Planung ab 4. Juli). Dort kann sich jeder ein eigenes Urteil über diese vergessene Künstlerin bilden. Wer sie ausschließlich am Kanon der Moderne misst, wird ihr nicht gerecht. „Es treibt mich manchmal zur Weißglut, dass die Bewertungskriterien nicht auch im Kontext der Biografien gesucht werden“, sagt Hedinger. „Man spürt die Sprengkraft in ihrem Werk, aber durch die widrigen Umstände konnte sie ihr Potenzial nicht vollständig entfalten.“ Dem Schatten von Aby wird Mary nie entweichen können, doch hilft ihr gerade der Kult um den Ehemann jetzt bei der eigenen Wiederentdeckung. Man kann es eine Form von später Gerechtigkeit nennen.

Service

AUSSTELLUNG

Mary Warburg: „Auf Augenblicke frei und glücklich“

Pastelle, Zeichnungen, Plastiken

Ernst Barlach Haus, Hamburg

bis 12. Juni 2022

barlach-haus.de

DAS BUCH ZUM THEMA

Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben und Werk
von Bärbel Hedinger und Michael Diers
Hirmer Verlag, München 2020, 563 S., 900 Abb. 68 Euro

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