Nina Chanel Abney

Stolz gegen Vorurteil

In Amerika ist Nina Chanel Abney die Malerin der Stunde: Mit bunten, humorvollen Bildern zieht sie ihr Publikum in den Bann, um es dann mit unangenehmen Wahrheiten zu Pandemie oder Polizeigewalt zu konfrontieren

Von Tim Ackermann
21.04.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 183

Entspanntheit ist auch eine Frage des Schuhwerks: Es zeugte von enormer Coolness, dass sich US-Vizepräsidentin Kamala Harris wenige Tage vor ihrer Amtseinführung von der Vogue ablichten ließ und dabei zu Blazer und dunkler Hose ein paar halbhohe schwarze Stoffturnschuhe vom Typ Chucks trug. Die lässige Fußbekleidung wurde in den Medien kontrovers diskutiert. Aber was man an Harris’ modischer Entscheidung wirklich bedauern musste, war die Tatsache, dass ein noch sehr viel schöneres Paar Chucks zu Hause in ihrem Schrank blieb. Designt wurden diese von der Künstlerin Nina Chanel Abney, die groß die Zahl 2020 auf das weiße Leinen gemalt und dazu noch einige selbst gestaltete Buttons mit Slogans wie „I love Kamala“ oder „Vote, Vote, Vote“ in den Stoff gepinnt hatte. „Es war eine spontane Gelegenheit, die ich nicht ablehnen konnte“, erzählt die Künstlerin. „Ein Freund, der eine Turnschuh­ladenkette besitzt, fragte: ‚Willst du einen Schuh für Kamala machen?‘ Und ich nur: ,Waaas? Na, klar!’“ Die Chucks wurden im Oktober 2020 bei einem Wahlkampfauftritt in Charlotte, North Carolina überreicht. Wenig später zeigte sich die Politikerin auf Twitter mit den Prachtstücken: „Geschnürt und bereit, die Wählerstimmen einzuholen“, schrieb sie dazu. Der Rest ist Geschichte.

So anekdotenhaft die Turnschuh-Episode wirken mag, zeigt sie doch eines glasklar: Nina Chanel Abney hat ein gutes Gespür für die Themen der Gegenwart – und reagiert dabei als Künstlerin äußerst vielseitig. Ihre Hauptbeschäftigung ist die Malerei, aber im vergangenen Herbst schuf sie für die Kunstplattform Acute Art auch ihre erste Figur in der virtuellen Realität: Per App kann man sich ihren „Imaginary Friend“ – eine Art Guru mit schwarzer Hautfarbe, grauem Bart, rotem Turnanzug und schwarzen Chucks – ins eigene Wohnzimmer holen. „Die Einladung zu diesem Projekt kam zur richtigen Zeit, weil ich über die Pandemie nachgedacht und mich gefragt hatte, wie die Menschen Kunst betrachten können, wenn sie keine Galerien und Museen betreten dürfen“, sagt Abney.

Ebenfalls als Reaktion auf die Pandemie entstand ihr Malereizyklus „The Great Escape“, der im November und Dezember in der Jack Shainman Gallery in New York zu sehen war: In diesen Bildern widmen sich schwarze Menschen mehr oder weniger hygienekonformen Freiluftaktivitäten wie Radeln, Paddeln, Grillen oder Campen. Und da noch kreative Kapazitäten frei waren, designte Abney im Januar für die Spielwarenfirma Mattel ihre eigene Künstlerversion des beliebten Kartenspiels „Uno“ in limitierter Auflage für 20 Dollar das Pack. Die Edition war umgehend ausverkauft.

Nina Chanel Abney
Polizeibrutalität kritisiert Nina Chanel Abney in explosiven Bildern, wie etwa 2015 in „What“. © Nina Chanel Abney/Courtesy of the artist

Bei den stetigen Erfolgen mag man kaum glauben, dass Abney am Anfang unsicher war, ob sie überhaupt Künstlerin werden sollte. Geboren wurde sie 1982 in einem Vorort von Chicago, und mit ihrer Mutter gab es bereits eine Malerin in der Familie. „Ich habe als Kind immer gern gezeichnet, aber noch während meines Studiums war mir nicht klar, wie man eigentlich von der Kunst leben kann“, erzählt Abney, als wir sie per Videocall in ihrem Atelier in Jersey City bei New York erreichen. Zunächst studierte sie parallel Kunst und Computerwissenschaft. „Ich dachte, ich würde vielleicht Grafikdesignerin werden“, sagt sie. „Die Sache änderte sich, als ich 2005 zum Masterstudium an die Parsons School nach New York kam. Ich begann, durch die Galerien zu ziehen. Und es war eine großartige Zeit: Kehinde Wiley hatte eine Ausstellung bei Jeffrey Deitch und ließ zur Eröffnung eine Blaskapelle aufmarschieren. Marina Abramović machte eine Performance-Serie im Guggenheim Museum. All das hat meinen Horizont extrem erweitert. Ich erlebte Kunst, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.“

Erwähnt werden muss nun unbedingt das Bild, das Abney als Abschluss­arbeit ihres Studiums einreichte: In „Class of 2007“ porträtierte sie ihre weißen Mitstudenten mit schwarzer Hautfarbe und in orangefarbenen Gefängnisoveralls. Sich selbst stellte sie dagegen als weiße Gefängniswärterin mit Gewehr da. „Bis zu dem Zeitpunkt, als ich das Bild umdrehte, wusste niemand aus meiner Klasse, dass ich sie schwarz gemalt hatte“, sagt Abney. „Dieses Überraschungsmoment und die Reaktionen darauf haben mich gereizt.“ Eine Inspirationsquelle für das Werk seien die „Calling Cards“ von Adrian Piper gewesen, mit denen die Künstlerin in den Achtzigerjahren Partygäste auf ihre rassistischen Bemerkungen hinwies. „Dazu kamen Gedanken über die unverhältnismäßig hohe Zahl von schwarzen Männern im Gefängnis und die unverhältnismäßig geringe Zahl von schwarzen Studenten mit Masterabschluss. Ich brachte also verschiedene Geschichten zusammen, die nicht notwendigerweise zueinander­passen. Es war ein erstes Experiment, in dem all das, was mich interessierte, in einem einzigen Bild gebündelt war.“

Nina Chanel Abney WCW
Die weiße Figur im Bild „WCW“ (2017) ist laut Abney kein Donald-Trump-Porträt. © Nina Chanel Abney/Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York

Bis heute werden in Abneys Kunst die disparaten Elemente so lange fusioniert, bis alles auf der Leinwand zu explodieren scheint: Hautfarben, Geschlechter, Sexualität, Menschen, Tiere, Pflanzen, Autos, Waffen, Flaggen, Zahlen, Buchstaben. Die Vorlagen findet sie in unterschiedlichen Quellen, die Pose eines nackten Mannes könnte genauso gut einer Warhol-Zeichnung entnommen sein wie einem Pin-up-Kalender. Die ornamental wirkenden Pflanzensilhouetten in einer Collage von 2016 erinnern an Matisse – der große schwarze Kopf darüber dann wieder nicht. Dieses Collageprinzip hat Methode: Spätestens seit dem Jahr 2010, als sie in einem Atelier am Times Square mit seinen Großleinwandgewittern arbeitete und im Internet eine kaum bekannte Plattform namens Instagram durchstartete, verschrieb sie sich in ihrer Kunst der Vielfältigkeit und der Überzeugung, sich nicht auf eine einzelne Sache fokussieren zu müssen. „So zu arbeiten spiegelte einfach wider, wie mein Gehirn funktioniert“, sagt Abney. „Besonders im Zeitalter von Social Media und diesem Überfluss an Informationen, die wir tagtäglich in uns aufnehmen: Meine Art zu malen wurde fast zu einem Ventil, um all diese Eindrücke zu verarbeiten.“

Hatten ihre Figuren zu Beginn eine Dreidimensionalität, orientierte sie sich ab 2011 an Malern der amerikanischen Moderne wie Stuart Davis oder Romare Bearden und begann, ihre Motive aus flächigen, geometrischen Formen zusammenzusetzen: „Ich suche nach der größtmöglichen malerischen Vereinfachung, die gleichzeitig vom Inhalt her noch vom Publikum verstanden werden kann“, sagt Abney. Sie malt intuitiv, ohne Vorstudien und nutzt mittlerweile bevorzugt Sprühfarben, die sie mit Schablonen aufträgt. „Ich habe bestimmt seit zwei Jahren keinen Pinsel mehr angefasst“, sagt sie. „Meine Hand so aus dem Malprozess zu eliminieren finde ich spannend.“

Nina Chanel Abney Guns and Butter
„Guns and Butter“ (2017) stellt Panikreaktionen weißer Menschen ironisch zur Schau. © Hall Collection/© Nina Chanel Abney/Courtesy of the artist

Blickt man auf die Malerei von Nina Chanel Abney fällt ein humoristischer Unterton auf, der sich je nach Lage als Sarkasmus oder knochentrockene Ironie offenbart. Ein Bild wie „Guns and Butter“, das sie 2017 in der Galerie Mary Boone zeigte, scheint sich über die Panikstufen mancher weißer Menschen bei der Begegnung mit schwarzen Männern auf der Straße („Uh-Oh Black“ – „Oh No Blacks“) lustig zu machen. Dass jedoch schwarze Männer in Amerika besonders häufig zur Zielscheibe rassistischer Gewalt werden, deutet die Künstlerin durch die Träne im Augenwinkel einer Figur an. Der Inhalt ist schwer, sein visuelles Gewand hingegen von bewundernswerter Eleganz und Leichtigkeit: „Als ich am Anfang meiner Karriere Themen wie Rassismus in meinen Werken angesprochen habe, hatte ich immer die Sorge, die Betrachter könnten vor diesen Bildern zurückschrecken oder das Gefühl haben, die Werke seien nicht für sie gedacht“, sagt Abney. „Wenn ich Humor und mehr­deutige Symbole einsetze, kann ich dagegen die Themen so präsentieren, dass sich jeder in den Bildern wiederfindet und sie von seinem Standpunkt aus reflektiert.“

Laut einer aktuellen Studie der Universität Harvard ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Polizeieinsatz getötet zu werden, bei einem schwarzen Menschen in den USA dreimal höher als bei einem weißen Menschen. In einigen Städten ist sie sogar sechseinhalbmal höher. Abneys Ausstellung „Always a Winner“, die 2015 in der Kravets Wehby Gallery in New York zu sehen war, kritisierte die Polizeigewalt in eindrucksvollen, monumentalen Bildern. Das Thema beschäftigt sie weiterhin, doch verfremdet sie mittlerweile die Motive gezielt. In dem Bild „White River Fish Kill“ (2017) übernahm sie beispielsweise die Körperhaltungen der verschiedenen Figuren einem Foto des „Texas Pool Party Incident“ von 2015, als ein schwarzes Mädchen von Polizisten auf brutale Weise verhaftet wurde – allerdings verlegte die Künstlerin die Szene in einen Wald, gab dem Mädchen einen Schnurrbart und den Polizisten eine dunkle Hautfarbe. „Wenn ich einen solchen Gewaltakt originalgetreu darstelle, kann es sein, dass das Publikum das Bild anblickt und einfach für sich abhakt“, sagt Abney. „Ich möchte aber Kunst schaffen, die ihr Geheimnis erst mit der Zeit preisgibt. Der Betrachter soll sie länger anschauen, immer wieder zu ihr zurückkehren. Man kann die Antwort nicht auf den ersten Blick erkennen, weil es keine klare Antwort im Bild gibt.“

Nina Chanel Abney Twitter
Versteckte Botschaft: Der kleine Vogel im fröhlichen Kanutrip „Buoyancé/Seas the Day“ (2020) verweist auf die Macht der Community auf Black Twitter. © Nina Chanel Abney/Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York

Die Verfremdung löst ihre Bilder vom spezifischen Ereignis, so werden die Werke überzeitlich gültig. Und bleiben doch zeitgenössisch – das monumentale Collagen-Triptychon „House of Reps“ (2020) zum Beispiel ist eine große Reflexion über die aktuelle Debatte von Gerechtigkeit und amerikanischem Nationalstolz. „Wenn wir den heutigen Zustand Amerikas betrachten – was bedeutet es, mit Stolz eine amerikanische Flagge im Vorgarten wehen zu lassen?“, fragte die Künstlerin in einem Begleittext. Wieder mit trockenem Humor nebeneinander präsentiert, sind im Triptychon symbolträchtige Bettüberwürfe zu erkennen: links die Südstaatenflagge aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, die oft von weißen Rassisten geschwungen wird. Und rechts eine rot-schwarz-grüne Südstaatenflagge – die also in den Farben der Panafrikanischen Flagge von 1920 verfremdet ist. Im Mittelteil taucht die Nationalflagge auf, die nicht mehr unverdächtig ist, wenn Kritik an den Mächtigen als „unpatriotisch“ verunglimpft wird: „Als Trump regierte, hat die amerikanische Flagge eine andere Bedeutung bekommen“, erklärt die Künstlerin.

Den offensichtlichen Ungerechtigkeiten in ihrem Heimatland tritt Nina Chanel Abney mit Bildern entgegen, die den Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung nicht verhehlen: „Hier in Amerika wird die politische Kunst anders gesehen als vielleicht in Europa“, sagt sie. „Sie soll zumindest versuchen, etwas zum Besseren zu verändern.“ Und so sind auch die Radfahrer und Kanuten in ihrer neuen Serie „The Great Escape“ mit ihrer spielerisch-fluiden Geschlechtlichkeit die Repräsentanten einer erstrebenswert freundlicheren Welt, die von den „temporären Utopien des queeren schwarzen Soziallebens inspiriert ist“, wie die Künstlerin erklärt. Diese Idylle müsse allerdings erst erstritten werden, denn die schwarze Bevölkerung habe durch zahllose Enteignungen in der Vergangenheit heute nur noch eine brüchige Bindung zur amerikanischen Landschaft: „Zu Beginn der Pandemie habe ich mir ein Rad gekauft und einige Fahrten den Hudson hinauf gemacht. Ich dachte über die Natur nach, und es fühlte sich so an, als ob sie nicht für jeden da ist. In diesem Zusammenhang fiel mir auch auf, was ein ›Black Lives Matter‹-Schild in diesen Gegenden, die ich durchfahren habe, bedeutet – nämlich einen sicheren Ort“, sagt Abney. In „Being Mixie with my Fixie“ (2020) radeln zwei ihrer Figuren an einem solchen Schild vorbei.

Nina Chanel Abney Temporary Friends
Der Heilige stammt aus der Serie „Temporary Friends“ (2019). © Nina Chanel Abney/Courtesy the artist and Pace Prints

Auf mehrdeutigen Unterströmungen spielt sich auch der fröhliche Kanuausflug ab: Der Titel „Buoyancé/Seas the Day“ (2020) ist ein Spiel mit dem englischen Wort für Auftrieb (buoyancy) und der schwarzen Sängerin Beyoncé, im Hintergrund zwitschert auf
einer Boje (buoy) allerdings ein schwarzes Twitter-Symbol: „Ich dachte daran, wie manchmal Prominente etwas wirklich Abscheuliches sagen, und augenblicklich kommt die Protestwelle auf Black Twitter und spült sie weg“, erzählt Abney. „Da die ­sozialen Medien rassistische Vorfälle weithin publik machen, werden die Schuldigen schneller zur Verantwortung gezogen. Viele Fälle von Polizeibrutalität wären vielleicht nie ans Licht gekommen, wenn sie nicht gefilmt und in den sozialen Medien geteilt worden wären.“

Man kann darüber spekulieren, ob die sozialen Medien, die der Black-Lives-Matter-Bewegung große Aufmerksamkeit verschafft haben, indirekt auch den Werken schwarzer Künstlerinnen und Künstlern zu mehr Sichtbarkeit verholfen haben. Seit Mitte der 2010er-Jahre sieht man in den Museen Amerikas und Europas ernsthafte Bestrebungen, Sammlungs- und Programmdefizite auszugleichen. Nina Chanel Abneys Malerei erfuhr allerdings schon sehr viel früher Anerkennung: Ihr Abschlussbild „Class of 2007“ wurde umgehend von der einflussreichen Sammlerfamilie Rubell in Miami angekauft. Die Rubells zeigten Abney auch im Folgejahr in der Gruppenausstellung „30 Americans“, die die wichtigsten schwarzen Künstlerinnen und Künstler des Landes aus den vorangegangenen drei Jahrzehnten versammelte. Die Schau tourt bis heute durch die Museen der Vereinigten Staaten. Insofern weigert sich die Künstlerin auch, die gegenwärtigen Entwicklungen als „Trend“ zu sehen: „Mickalene Thomas, Kehinde Wiley, Wangechi Mutu, Faith Ringgold – all diese Künstler arbeiten seit einer langen Zeit hier, und ihre Praxis hat sich nicht verändert“, sagt Abney. „Vielleicht kommt einfach nur gerade ein Teil des Publikums zu spät zur Party!“

Zur Startseite